TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/21 W261 2168531-1

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Veröffentlicht am 21.07.2020
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Entscheidungsdatum

21.07.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W261 2168531-1/24E

W261 2168532-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1.        XXXX , geb. XXXX ,

2.        XXXX , geb. XXXX ,

beide StA. Afghanistan, beide vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom

1.       02.08.2017, Zl. XXXX

2.       02.08.2017, Zl. XXXX

nach Durchführung von mündlichen Beschwerdeverhandlungen zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und den Beschwerdeführern wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer sind Brüder und Staatsangehörige Afghanistans. Der Zweitbeschwerdeführer stellte am 30.10.2015, der zu diesem Zeitpunkt minderjährige Erstbeschwerdeführer am 03.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Zweitbeschwerdeführer gab in seiner polizeilichen Erstbefragung am 30.10.2015 zu seinen Fluchtgründen an, sein Leben und das seiner Frau seien in Gefahr gewesen. Von seiner Frau sei verlangt worden, dass sie den Frauen der Taliban bei der Geburt helfe, da sie Ärztin sei. Es sei von ihnen deswegen verlangt worden, sich den Taliban anzuschließen. Als sie seine Frau holen hätten wollen, habe er sie vor den Taliban verstecken können. Er sei geschlagen, gefoltert und auch bedroht worden. Ihm sei gesagt worden, dass er seine Frau zur Verfügung stellen solle, ansonsten werde alles noch schlimmer ausgehen. Seinen kleinen Bruder hätten die Taliban auch bedroht, deswegen hätte er ihn auch mitgenommen. Sein Bruder sei bei den Treffen immer dabei gewesen.

Der minderjährige Erstbeschwerdeführer gab in seiner polizeilichen Erstbefragung am 03.11.2015 zu seinen Fluchtgründen an, die Frau seines Bruders sei Ärztin und sei von den Taliban gezwungen worden, schwangeren Frauen zu helfen. Da sie das nicht gewollt habe, habe sein Bruder sie versteckt und beide hätten sich den Taliban widersetzt. Als die Taliban eines Tages zu ihnen nach Hause gekommen seien und er zugesehen habe, wie sie seinen Bruder geschlagen und von ihnen verlangt hätten, dass er seine Frau zu ihnen schicke, habe sich sein Bruder entschieden, gemeinsam mit seiner Frau zu fliehen. Dadurch, dass der Erstbeschwerdeführer sehr oft bei seinem Bruder gewesen sei und sie ihn gekannt hätten, habe sein Vater entschieden, dass er auch das Land zu verlassen habe. Da sein Bruder dann den Taliban weisgemacht habe, dass seine Frau mit ihnen zusammenarbeiten werden würde, seien diese gegangen, und sie hätten Zeit gehabt zu fliehen.

2. Die Ersteinvernahme des Zweitbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 19.07.2017 statt. Dabei gab dieser zu seinen persönlichen Umständen an, er sei Tadschike und sunnitischer Muslim. Er stamme aus der Stadt Kabul, wo er zusammen mit seinen Eltern, sechs Brüdern und zwei Schwestern aufgewachsen sei. Mit Ausnahme seines in Österreich lebenden Bruders (des Erstbeschwerdeführers) lebe seine gesamte Familie noch in Kabul. Er sei seit Jänner 2015 verheiratet und habe keine Kinder, seine Frau lebe in Pakistan. Der Zweitbeschwerdeführer habe zwölf Jahre lang die Schule besucht, sechs Jahre lang studiert und sein Studium abgeschlossen. Er habe im Bereich Telekommunikation als Manager gearbeitet. Im Rahmen der Einvernahme legte er Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, seine Frau habe zur Zeit des Vorfalls noch bei ihrer Familie in der Provinz Takhar gelebt, wo er sie besucht habe. Am 15.09.2015 seien gegen 23 Uhr drei bewaffnete Männer vor ihrer Tür gestanden, die ihm gesagt hätten, sie würden Hilfe für eine schwangere Frau benötigen. Sie wüssten, dass es hier eine Ärztin gebe. Er habe gesagt, seine Frau sei nicht zuhause, die Männer hätten sich jedoch mit Gewalt Zutritt verschafft. Er sei zusammengeschlagen und ihm sei die Hand gebrochen worden. Einer der Männer sei dann in die Wohnung gegangen. Sein jüngerer Bruder sei auch anwesend gewesen und habe alles mitbekommen, dieser sei schnell zu seiner Frau gegangen und mit ihr durch die Hintertür geflüchtet. Sein Bruder habe ein Auto aufgehalten und sei mit seiner Frau davongefahren. Der Zweitbeschwerdeführer habe später ebenfalls eine Mitfahrgelegenheit erwischt und sei geflüchtet. Am nächsten Tag seien die Taliban um 5 Uhr früh noch einmal zum Haus gekommen und hätten seinen Schwiegervater bedroht. Die drei sollten sich stellen, sonst würden sie getötet. Aufgrund der fehlenden Hilfeleistung seien eine Frau und ein Kind gestorben. Sein Schwiegervater habe dann auch seinen Vater angerufen und ihm mitgeteilt, dass auch er die Provinz verlassen wolle. Seitdem hätten sie nichts mehr von seinen Schwiegereltern gehört. Seinen Bruder und seine Frau habe er wieder in Kabul gesehen, wo sie sich bis zur Ausreise 14 Tage in einer Wohnung von Bekannten versteckt hätten.

3. Die Ersteinvernahme des Erstbeschwerdeführers vor der belangten Behörde fand am 21.07.2017 statt. Dabei gab dieser zu seinen persönlichen Umständen an, er sei Tadschike und sunnitischer Muslim. Er stamme aus der Stadt Kabul, wo er zusammen mit seinen Eltern, sechs Brüdern und zwei Schwestern aufgewachsen sei. Er sei von seinem Vater versorgt worden, der eine Wechselstube betreibe. Mit Ausnahme seines Bruders (des Zweitbeschwerdeführers) lebe seine gesamte Familie noch in Kabul. Er sei seit Juni 2015 verheiratet und habe keine Kinder, seine Frau lebe bei seiner Familie in Kabul. Im Rahmen der Einvernahme legte er Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst an, er, sein Bruder und dessen Frau hätten Probleme mit den Taliban gehabt. Am 15.09.2015 gegen 23 Uhr seien Taliban zum Haus des Schwiegervaters seines Bruders gekommen. Sein Bruder habe die Türe geöffnet, aber der Erstbeschwerdeführer sei auch auf die Terrasse gegangen. Er habe drei Personen gesehen. Die Männer hätten gesagt, es sei eine Ärztin im Haus und sie solle mitkommen. Sein Bruder habe immer wieder gesagt, seine Frau sie nicht zuhause. Die Taliban hätten entgegnet, sie wüssten, dass sie zuhause sei. Nachdem sein Bruder geschlagen worden sei, sei er schnell ins Haus gegangen und habe seine Schwägerin informiert. Der Schwiegervater habe ihm empfohlen, dass Haus auf der Hinterseite zu verlassen, und er und seine Schwägerin seien dann einfach gelaufen. Er habe dann ein Auto gesehen und den Fahrer gebeten, sie nach Kabul zu fahren. Er habe ihm alles geboten, was er gehabt habe. Rund zehn Minuten später habe sein Bruder angerufen, und er habe diesem gesagt, dass sie nach Kabul unterwegs seien. In der Früh seien sie in Kabul angekommen und hätten auf die Ankunft seines Bruders gewartet. Sein Vater habe sie in ein Haus gebracht, in dem sie sich für 19 Tage versteckt hätten. Sein Bruder sei 14 Tage geblieben, er sei fünf Tage später geflohen.

4. Mit verfahrensgegenständlichen Bescheiden vom 02.08.2017 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurden den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebungen nach Afghanistan zulässig seien (Spruchpunkt III.). Die Fristen für die freiwillige Ausreise wurden mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen (gleichlautend) aus, es könne nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer zu befürchten hätten, in Afghanistan aus asylrelevanten Gründen verfolgt zu werden oder aktuell einer relevanten Bedrohungssituation für Leib und Leben ausgesetzt zu sein. Im Hinblick auf die behauptete Verfolgung bestünden jedenfalls innerstaatliche Fluchtalternativen, die ihnen auch zumutbar seien. Es habe auch keine wirtschaftliche oder finanziell ausweglose Lage im Fall der Rückkehr festgestellt werden können. Bei den Beschwerdeführern handle es sich um arbeitsfähige junge Männer, im Fall des Zweitbeschwerdeführers verfüge dieser auch über ein abgeschlossenes Studium und Berufserfahrung. Ihnen sei eine Rückkehr nach Kabul, alternativ auch eine Ansiedelung in der Provinz Balkh möglich.

5. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 21.08.2017 fristgerecht Beschwerden. Sie brachten im Wesentlichen vor, die Beweiswürdigung der belangten Behörde erweise sich als nicht nachvollziehbar und damit unschlüssig. Dass beide Beschwerdeführer das Fluchtvorbringen übereinstimmend geschildert hätten, werte die Behörde nicht als Beleg für deren Glaubwürdigkeit, sondern halte ihnen im Gegenteil „offensichtliche“ Absprachen vor, ohne darzulegen, aus welchen Erwägungen sie zu diesem Schluss gelange. Mangels Vorliegens von Widersprüchen versuche die belangte Behörde, die Unglaubwürdigkeit mit mangelnder Plausibilität zu begründen, die entsprechenden Ausführungen seien aber im Einzelnen aus näher dargelegten Gründen nicht nachvollziehbar. Es sei den Beschwerdeführern mit ihrem detaillierten und übereinstimmenden Vorbringen gelungen, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen.

6. Die belangte Behörde legte die Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 21.08.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo diese am 23.08.2017 in der Gerichtsabteilung W263 einlangten.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.05.2018 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführer zu ihren Fluchtgründen und der Situation im Falle ihrer Rückkehr befragt wurden. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Niederschrift wurde ihr übermittelt. Die Beschwerdeführer legten Integrationsunterlagen und medizinische Unterlagen vor.

8. Mit Eingabe vom 18.05.2018 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie erneut ausführten, sie seien in Afghanistan von den Taliban verfolgt worden. Sie hätten sich diesen widersetzt, als sie die Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers gewaltsam mit sich nehmen wollten, da sie deren fachärztliche Hilfe als Gynäkologin benötigten. Im Hinblick auf den im Rahmen der mündlichen Verhandlung erstmals erhobenen Vorhalt, es bestünden Zweifel an der Ausbildung der Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers, würden nunmehr diesbezügliche Unterlagen in Kopie übermittelt, eine Vorlage im Original angekündigt und die Befragung der Ehefrau XXXX durch einen Vertrauensanwalt der österreichischen Botschaft in Pakistan beantragt. Schließlich werde erneut darauf hingewiesen, dass der Zweitbeschwerdeführer unter starken psychischen Problemen leide. Mit der Stellungnahme wurden Ausbildungs- und Praxisnachweise der Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers in Kopie und medizinische Unterlagen des Zweitbeschwerdeführers vorgelegt.

9. Mit Eingabe vom 04.06.2018 legten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung die Ausbildungs- und Praxisnachweise der Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers im Original sowie einen Versandschein vor.

10. Mit Schreiben vom 23.11.2018 übermittelte eine vom Bundesverwaltungsgericht beauftragte Übersetzerin eine schriftliche Übersetzung der von den Beschwerdeführern vorgelegten Ausbildungs- und Praxisnachweise der Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers.

11. Mit Eingabe vom 05.12.2019 legten die Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor.

12. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.01.2020 wurden die gegenständlichen Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo diese am 27.01.2020 einlangten.

13. Mit Eingabe vom 20.04.2020 übermittelte die belangte Behörde den ihr vom Ausbildungsbestrieb des Erstbeschwerdeführers vorgelegten Lehrvertrag sowie die Beschäftigungsbewilligung und die diesbezüglich durch die Behörde ergangene Mitteilung über die Hemmung der Ausreisefrist bei Lehrverhältnissen iSd § 55a FPG.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.06.2020 eine weitere mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführer zu ihren Fluchtgründen und der Situation im Falle ihrer Rückkehr befragt wurden. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Niederschrift wurde ihr übermittelt. Die Beschwerdeführer legten Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

15. Mit Eingabe vom 02.07.2020 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen ausführten, das Vorbringen bezüglich des Vorgehens der Taliban, der Drohung und Verfolgung entspreche den Länderberichten. Die Beschwerdeführer würden das Risikoprofil der in Blutfehden verwickelten Personen gemäß den aktuellen UNHCR-Richtlinien erfüllen, da ihnen unterstellt werde, den Tod der gebärenden Frau und des Kinds eines Talibs zu verantworten. Zudem werde ihnen zutreffenderweise unterstellt, nicht mit den Taliban kooperieren zu wollen, weshalb auch eine Verfolgung aufgrund der politischen Gesinnung zu befürchten wäre. Aufgrund des Netzwerkes der Taliban könnten die Beschwerdeführer in ganz Afghanistan gefunden werden, die afghanischen Behörden seien wie bekannt nicht willens und nicht fähig, sie zu schützen. Überdies leide der Zweitbeschwerdeführer unter schweren psychischen Problemen in Form von Schlafstörungen, Depressionen und Ängsten. Dazu werde die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens beantragt. Er würde aufgrund dieser Erkrankungen in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten und ihm würde Verfolgung drohen. Zur aktuellen COVID-19-Pandemie wurde ausgeführt, durch diese habe sich die Sicherheits- und Versorgungslage weiter verschärft. In Afghanistan komme es zu einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus bei zugleich extrem begrenzten Testmöglichkeiten, fehlenden Möglichkeiten zur Isolation und mangelnder medizinischer Versorgung. Es komme auch zu einer Stigmatisierung der Erkrankten und Rückkehrer. In Kabul und Herat würden Ausgangssperren gelten und die Lebensmittelpreise würden stark steigen.

16. Mit Eingabe vom 09.07.2020 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie ergänzend die Rezepte für Antidepressiva, die der Zweitbeschwerdeführer derzeit einnehme, sowie eine Überweisung an einen Facharzt für Innere Medizin aufgrund weiterer Gesundheitsbeschwerden vorlegten.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Brüder.

Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari, ein wenig Englisch und Deutsch. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari, Urdu, Englisch und Deutsch. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.

Die Beschwerdeführer wurden in der Stadt Kabul geboren, wo sie im Stadtteil XXXX zusammen mit ihrer Familie aufwuchsen. Ihr Vater heißt XXXX und ist ca. 62 Jahre alt, ihre Mutter XXXX und ist ca. 56 Jahre alt. Sie haben zwei Schwestern, XXXX , ca. 19 Jahre alt, und XXXX , ca. 12 Jahre alt, sowie abgesehen voneinander noch fünf Brüder, XXXX , ca. 33 Jahre alt, XXXX , ca. 25 Jahre alt, XXXX , ca. 20 Jahre alt, XXXX , ca. 17 Jahre alt, und XXXX , ca. 15 Jahre alt.

Mit Ausnahme der Beschwerdeführer und des ältesten Bruders XXXX , der mit seiner Frau im Stadtteil XXXX in Kabul lebt, lebt die gesamte Familie heute gemeinsam in einem Haus im Stadtteil XXXX in Kabul. Die Beschwerdeführer haben regelmäßigen Kontakt mit ihrer Familie, der Familie geht es gut. Ihr Vater betreibt eine Wechselstube.

Neben der Kernfamilie leben auch drei Tanten und vier Onkel mütterlicherseits sowie Tanten und Onkel des Vaters der Beschwerdeführer in der Stadt Kabul. Ihre Familie hat Kontakt zu den Tanten und Onkeln. Der Rest der Familie lebt in XXXX , nördlich von Kabul. Ihre Mutter hat auch Verwandte in der Stadt Jalalabad und der Provinz Paktia.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte zehn Jahre lang in Kabul die Schule. Er erlernte keinen Beruf und hat in Afghanistan niemals gearbeitet.

Er ist seit 07.06.2015 mit XXXX traditionell verheiratet. Seine Frau lebt bei seiner Familie in Kabul. Sie haben regelmäßig Kontakt.

Der Zweitbeschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang in Kabul die Schule und schloss diese mit Matura ab. Von 2009 bis 2015 studierte er an der Universität XXXX und schloss dieses Studium mit einem Advanced Diploma Business Administration (ADBA) ab. Ab dem neunten Schuljahr arbeitete er nebenbei im Bereich Telekommunikation als Manager. Zuletzt war er Leiter der Abteilung „Student Affairs“ der Universität XXXX in Kabul.

Er ist seit 10.01.2015 mit XXXX verheiratet. Sie lebt in der Stadt Pesh?war in Pakistan bei einem Onkel mütterlicherseits der Beschwerdeführer. Seine Frau ist Frauenärztin und hat als solche auch schon in einem Krankenhaus und einer Privatklinik gearbeitet. Sie haben regelmäßig Kontakt.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer wurden bei einem Besuch im Haus der Schwiegereltern des Zweitbeschwerdeführers in der Provinz Takhar von Taliban-Mitgliedern aufgesucht. Diese verlangten die ärztliche Hilfe der Frau des Zweitbeschwerdeführers, einer Frauenärztin, für die schwangere Frau eines Taliban. Der Zweitbeschwerdeführer verweigerte dies, indem er wahrheitswidrig behauptete, seine Frau sei nicht zuhause. Er wurde dabei von den Taliban geschlagen und an der Hand verletzt. Die Frau des Zweitbeschwerdeführers konnte mit Hilfe des Erstbeschwerdeführers aus dem Haus und schließlich nach Kabul fliehen, auch der Zweitbeschwerdeführer floh kurz darauf nach Kabul. Die schwangere Frau und das Kind des Taliban verstarben infolge der unterlassenen ärztlichen Hilfe. Den Taliban wurde am nächsten Tag bekannt, dass die Beschwerdeführer sie getäuscht hatten.

Die Beschwerdeführer wären aus diesen Gründen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.

1.3. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit Oktober bzw. November 2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom 30.10.2015 (Zweitbeschwerdeführer) bzw. 03.11.2015 (Erstbeschwerdeführer) in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 29.12.2015 wurde dem Zweitbeschwerdeführer die Obsorge über den damals minderjährigen Erstbeschwerdeführer übertragen.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Österreich diverse Deutschkurse. Er absolviert seit 01.08.2016 eine Lehre als Einzelhandelskaufmann, Schwerpunkt Lebensmittelhandel, bei der XXXX AG, die er voraussichtlich am 31.01.2021 beenden wird. Er ist selbsterhaltungsfähig. Er besucht die Landesberufsschule XXXX .

Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Österreich diverse Deutschkurse und einen Werte- und Orientierungskurs. Er besucht die erste Klasse einer Handelsschule in XXXX . Er ist derzeit nicht erwerbstätig und nicht selbsterhaltungsfähig. Seit April 2019 leistet er gemeinnützige Hilfsarbeiten für die Stadt XXXX . Er hat auch die Möglichkeit erhalten, regelmäßig an Weiterbildungsseminaren eines Finanzberatungsunternehmers teilzunehmen und könnte dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Die Beschwerdeführer leben gemeinsam in einer privaten Mietwohnung in XXXX . Sie legen ihr Geld zusammen, um Lebensmittel zu kaufen und die Wohnung zu bezahlen.

Die Beschwerdeführer haben viele österreichische Freunde, verfügen in Österreich, abgesehen voneinander, aber nicht über Verwandte oder sonstige enge soziale Bindungen.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 29.06.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

1.4.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.4.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30 % der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

1.4.5.  Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

1.4.6.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.4.7.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.4.7.1. Nachrichtendienst der Taliban

Die Strukturen der Nachrichtendienste der Taliban sind im Laufe der Zeit entstanden und wurden dabei zunehmend ausgefeilter. Trotz der Bemühungen, die nachrichtendienstliche Tätigkeit über die verschiedenen Taliban-Shuras hinweg zu koordinieren und zu synchronisieren, wirkte sich die interne Aufspaltung der Taliban auf deren Funktionsweise aus. Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban ist mittlerweile ziemlich flächendeckend, aber die Qualität der Informationen, die die Taliban-Führung erreichen, ist nicht immer die beste. Es zählt zu den Hauptaufgaben dieser Dienste, die Einschüchterungskampagne der Taliban gegen „Kollaborateur“' der Kabuler Regierung und gegen andere Feinde der Taliban zu ermöglichen. (Landinfo 1, Einleitung).

Regierungsbeamte sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind. Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban von allen ihren Aktivitäten am schwersten zu erkennen ist (Landinfo 1, Kapitel 3).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten, oder Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

1.4.8. Relevante Provinzen und Städte

1.4.8.1. Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.8.2. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die in der Stadt Mazar-e Scharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und RückkehrerInnen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand befinden. Dort gibt es ein gewisses Maß an Infrastruktur, und humanitäre Organisationen bieten dort ein gewisses Ausmaß an Unterstützung an. Es gibt dort einen gewissen Zugang zu soliden Unterkünften, Bildung und medizinischer Versorgung. Die beiden größten längerfristigen Siedlungen bzw. Stätten sind das Sakhi-Camp (20 km nordöstlich der Stadt), Qalen Bafan (im westlichen Teil von Mazar-e Scharif), sowie Zabihullah (etwa 20 km südöstlich der Stadt). Die dritte Kategorie von Gebieten sind jene Siedlungen oder Stätten, die erst vor kürzerer Zeit und aufgrund der anhaltenden und zunehmenden Vertreibung entstanden sind. Diese Siedlungen, die in der Regel von der Regierung nicht anerkannt werden, befinden sich häufig auf Landstrichen mit unklaren Eigentumsverhältnissen. In diesen neueren Siedlungen leben viele Menschen in Zelten, oft unter prekären Bedingungen und mit stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe. Es mangelt dort an Wasser, Strom und sozialen Einrichtungen. Im Prinzip ist die Situation hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser und anderen Dienstleistungen umso schlimmer, je weiter außerhalb der Stadt jemand lebt, wobei die Situation in den informellen Siedlungen bzw. Stätten am schlimmsten ist. Ob allerdings die Situation in der Innenstadt besser ist, hängt von den individuellen - insbesondere finanziellen - Umständen eines Binnenvertriebenen oder Rückkehrers ab (ACCORD Masar-e Sharif).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.4.9. Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat (UNHCR, Kapitel III. A. 14).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.     Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführer gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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