TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/13 W267 2214671-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.08.2020
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Entscheidungsdatum

13.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a

Spruch

W267 2214671-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. ESSL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.07.2020, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Vorverfahren

1.1.    Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 29.04.2016 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2.    Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie seiner Einvernahme durch das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) gab der BF, jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi, zusammengefasst im Wesentlichen (soweit für das gegenständliche Verfahren relevant) an, dass seine Muttersprache Farsi sei, er sich zum schiitischen Islam bekenne und dass er verheiratet wäre. Er habe sieben Jahre lang (2001-2008) die Grundschule in Teheran besucht, wo er auch gelebt hätte, und sei dort 8-9 Jahre Jahre lang in der Stoffverfahrenstechnik tätig gewesen. Als Fluchtgrund gab der BF an, dass seine Frau bereits verheiratet gewesen sei und sie gemeinsam vor ihrem Exmann weggelaufen seien. Sie habe ihren Exmann nicht geliebt, dieser habe sie schlecht behandelt und sie hätten schon längere Zeit eine Beziehung gehabt. Er habe damals um ihre Hand angehalten, aber sie sei ihm nicht zur Frau gegeben worden. Sie habe Angst vor dem Exmann, dieser verfolge und bedrohe sie. Wenn der BF nach Afghanistan zurückkehren müsse, würde er getötet werden, weil er gegen das islamische Gesetz verstoßen habe. Es bestehe Gefahr durch die Bevölkerung, durch den Staat, von Seiten seines Stammes und durch die weitschichtige Familie, da sie unehrenhaft gehandelt hätten.

Die letzten acht Jahre habe der BF in der Provinz Teheran gelebt, von dieser Adresse aus sei er für drei Monate in eine Nachbarprovinz geflüchtet. Danach sei er sechs Monate in XXXX an der afghanischen Grenze gewesen, dort habe er seine Familie gelassen. Er habe mit seiner Mutter und seiner Frau zusammengelebt. Als er das Land verlassen habe, sei seine Frau schwanger gewesen. Sein Vater sei vor fünf Jahren verstorben. Seine Mutter arbeite als Freiberuflerin (z.B. auf Safranfeldern, in Gärtnereien oder als Hausbedienstete). Seine Frau sei Hausfrau und Mutter. Er habe sonst lediglich eine Tante in Pakistan, sonst niemanden.

Der BF gab weiters an, dass er gesund sei, keine Medikamente nehme und nicht in ärztlicher Behandlung sei.

1.3.    Mit Bescheid vom 29.01.2019 wies das BFA diesen (ersten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 29.04.2016 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde auch kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Als Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurden 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

1.4.    Das gegen diesen Bescheid eingebrachte Rechtsmittel der Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) mit – rechtskräftigem – Erkenntnis vom 28.01.2020, Zahl W161 2214671-1/15E, als unbegründet ab.

1.5.    Im Rahmen dieses Erkenntnisses traf das BVwG zur Person des BF folgende Feststellungen:

Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, bekennt sich zum muslimischen Glauben (Schiit) und gehört der Volksgruppe der Saadat an. Der BF spricht die Sprachen Farsi und Dari. Seine Identität steht nicht fest. Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Daikundi geboren, wo er mit seinen Eltern bis etwa zu seinem vierten Lebensjahr lebte. Danach übersiedelten die Eltern gemeinsam mit dem BF in den Iran, wo der BF bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Der BF erhielt im Iran etwa acht Jahre lang Privatunterricht und hat dort etwa acht bis neun Jahre lang im Bereich der Stoffverfahrenstechnik gearbeitet.

Im Iran lernte der BF die Mutter seines Sohnes (eine Afghanin) kennen. Der BF hat einen minderjährigen Sohn, welcher bei seiner Mutter im Iran lebt. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF mit der Mutter seines Sohnes traditionell verheiratet ist.

Der BF hat in Afghanistan keine Verwandten. Sein Sohn, dessen Mutter und seine Mutter leben nach wie vor im Iran. Die Mutter des BF ist erwerbstätig und versorgt den Sohn des BF und dessen Mutter. Der BF steht mit seiner Familie im Iran in Kontakt. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Vater des BF tatsächlich verstorben ist.

Der BF war zwar nur etwa bis zu seinem vierten Lebensjahr in Afghanistan aufhältig, er ist jedoch mit der afghanischen Kultur vertraut und in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen.

Der BF leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheit. Er ist gesund und arbeitsfähig.

1.6.    Zu den Fluchtgründen des BF stellte das BVwG in seinem rechtskräftigen Erkenntnis zu W161 2214671-1 fest, dass der BF im Iran die Mutter seines Sohnes nicht traditionell geheiratet habe, insbesondere nicht ohne Einwilligung ihrer Eltern. Er oder seine Familie seien aus diesem Grund auch keiner asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung durch die Familie dieser Frau ausgesetzt und seien dies auch nie gewesen. Die Familie der Mutter seines Sohnes wolle den BF bzw. seine Familienangehörigen auch nicht töten.

Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen wurde im Vorverfahren vom BVwG als nicht glaubwürdig angesehen.

Das BVwG kam ferner zu dem Ergebnis, dass nicht festgestellt werden könne, dass dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seine politische Überzeugung anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe. Dem BF drohe im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität. Er habe mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme. Der BF sei in Afghanistan auch keiner Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt gewesen und wäre dies im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auch nicht.

1.7.    Zu einer möglichen Rückkehr des BF nach Afghanistan stellte das BVwG im Vorverfahren fest, dass zwar nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Heimatprovinz Daikundi aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfindenden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohe. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif könne der BF jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er könne selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Der BF könne die Städte Herat und Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen. Auch eine grundlegende medizinische Versorgung sei in Herat bzw. Mazar-e Sharif vorhanden.

Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz könne er in Mazar-e Sharif oder Herat – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er sei auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF habe ferner die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr, neben den eigenen Ressourcen, auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung zurückgreifen könne. Der BF habe im Iran etwa acht Jahre lang privaten Unterricht erhalten und dort acht bis neun Jahre lang in der Stoffverfahrenstechnik gearbeitet. Diese Berufserfahrung werde er auch in Mazar-e Sharif oder Herat nutzen können. Es sei dem BF daher möglich, nach etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder in Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.

1.8.    Zum (Privat)Leben des BF in Österreich traf das BVwG die Feststellung, dass der unbescholtene BF sich seit etwa drei Jahren und neun Monaten im Bundesgebiet aufhalte. Seit etwa einem Jahr beziehe er keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr. Er habe als Werbemittelverteiler gearbeitet, nunmehr sei er selbstständig im Zustellgewerbe (als Essenslieferant) tätig. Sein monatliches Einkommen hänge von der Anzahl der Zustellungen ab. Zuvor habe er auch gemeinnützige Arbeiten geleistet. Der BF habe mehrere Deutschkurse besucht, verfüge aber nur über einfache Deutschkurse und habe lediglich ein Deutsch-Zertifikat auf dem Niveau A1 abgeschlossen. Weiters habe er in Österreich den Pflichtschulabschluss gemacht und an diversen Veranstaltungen teilgenommen. Er gehöre keiner religiösen Verbindung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an. Der BF wohne gemeinsam mit einem Mitbewohner in einer privaten Unterkunft, die Miete bezahle er selbst. In seiner Freizeit treffe er sich mit Freunden. Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet könne nicht erkannt werden. Der BF habe zwar Empfehlungsschreiben (von Flüchtlingshelfern und Deutschlehrern) in Vorlage bringen können, dabei hätte es sich aber um keine engen sozialen Beziehungen gehandelt. Es hielten sich keine Verwandten des BF in Österreich auf.

1.9.    Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan traf das BVwG unter Bezugnahme auf das zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 04.06.2019) und die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018.

2.       Gegenständliches Verfahren

2.1.    Am 10.06.2020 stellte der BF einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz aufgrund geänderter Umstände.

2.2.    Im Rahmen der am 11.06.2020 durchgeführten Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Schwechat Fremdenpolizei (FGP), Niederösterreichische Fremden- und Grenzpolizeiliche Abteilung (FGA), gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi im Wesentlichen Folgendes an:

6. Ihr Verfahren wurde am 30.01.2020 bereits rechtskräftig entschieden. Warum stellen Sie jetzt einen (neuerlichen) Asylantrag? Was hat sich seit der Rechtskraft konkret gegenüber Ihrem bereits entschiedenen Verfahren - in persönlicher Hinsicht und im Hinblick auf die Gefährdungslage im Herkunftsstaat - verändert?

[…]

Ich bin ja damals mit meiner Frau weggelaufen und ihre Familie war nicht mit der Ehe einverstanden. Meine Frau war bereits schon in einer Ehe. Wir verliebten uns in einander. Sie ist von ihrem Ehemann und ihrer Familie weggelaufen und wir sind von Teheran in eine Stadt namens XXXX gezogen. Ich habe meine Frau vor kurzem angerufen und sie hat mir gesagt, dass ihre Familie sie aufgefunden haben und sie gesagt haben ich solle zurückkommen. Meine Frau hat mir gesagt ich soll auf keinen Fall zurückkommen, denn dann werden sie mich und dich töten. Sie haben meine Frau unter Beobachtung und drohen ihr.

Ich kann auch nicht mit meiner Frau nach Afghanistan zurück, weil ihre Eltern nach Afghanistan zurückgekehrt sind und ihr Exmann lebt in Herat. Sie wird im Auftrag ihres Exmannes von Mitgliedern der Familie bedroht.

7. Haben Sie alle Ausreise-, Flucht, oder Verfolgungsgründe genannt?

Ich bin im Iran aufgewachsen und habe Afghanistan nicht mehr gesehen. Jetzt kann ich auch nicht mehr nach Afghanistan, weil ich mich dort nicht auskenne und niemanden habe. Ich bin jetzt ohne Religionsbekenntnis und Afghanistan ist ein islamischer Staat wo ich mich nicht sicher fühle. Wegen meines Unglaubens werde ich sicher irgendwann in Afghanistan getötet. Im Iran ist es das Gleicht. Ich möchte damit sagen, wenn ich nach Afghanistan abgeschoben werde und ich gleich in den Iran weiterreise werden die iranischen Behörden mich gleich wieder nach Afghanistan abschieben. Das heißt ich bin nicht sicher, auch nicht für einen Tag in Afghanistan.

8. Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?

Ich werde getötet, seitens der Familie meiner Frau und ihr Exmann und anderseits habe ich Angst von den afghanischen Behörden und Bürger. Die würden mich wegen der Religion (o.B.)auch töten.

9. Gibt es konkrete Hinweise, dass Ihnen bei Ihrer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe droht, oder sie mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen haben? (ja, welche?/keine)

Keine

10. Seit wann sind Ihnen die Änderungen der Situation/Ihrer Fluchtgründe bekannt? (genaues Datum oder überprüfbarer Anlass)

Ich habe Zeit gebraucht, um nicht an den Islam zu glauben.

Belege für sein Vorbringen legte der BF nicht vor.

2.3.    Mit Verfahrensanordnung vom 18.06.2020, dem BF am selben Tage ausgefolgt, wurde ihm mitgeteilt, dass das BFA beabsichtige, seinen neuen Asylantrag zurückzuweisen, da sie davon ausgehe, dass entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege.

2.4.    Am 18.06.2020 wurden dem BF die Länderfeststellungen der Staatendokumentation für Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 18.05.2020 übermittelt.

2.5.    In der am 17.07.2020 durchgeführten Einvernahme vor dem BFA gab der BF, nach den Gründen für die neuerliche Antragstellung trotz erst kürzlich erfolgter negativer (rechtskräftiger) Entscheidung im Vorverfahren befragt, im Wesentlichen an, dass es derer zwei gäbe: Er habe mit seiner Frau Kontakt aufgenommen und diese hätte ihm erzählt, dass ihre Familie sie gefunden habe. Da seine Frau von zu Hause weggelaufen und sie zu ihm gegangen sei, wären beide in Gefahr. Seine Schwiegereltern zwängen ihn, in den Iran zurückzukehren.

Der zweite Grund sei, dass der BF keinen Glauben mehr habe. Er glaube zwar an Gott, aber habe sich vom Islam abgewendet. Deshalb sei er sowohl im Iran als auch in Afghanistan gefährdet. Konkret gab der BF zur Frage seines Abfalls vom Glauben unter anderem Folgendes an (L: Leiter der Amtshandlung; A: Asylwerber):

L: Kommen wir zu Ihrem zweiten Grund. Seit wann haben Sie sich jetzt vom Islam abgewendet?

A: Das kann ich nicht sagen. Ich habe Zeit gebraucht.

L: Wie lange beten Sie schon nicht, fasten nicht und sind nicht zur Moschee gegangen?

A: Das sind mittlerweile schon 2 Jahre.

L: Sind Sie auch offiziell vom Islam ausgetreten?

A: Nein, noch nicht. Ich brauche erst eine Bestätigung von der Moschee.

L: Was befürchten Sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan?

A: Ein Ungläubiger wird zu Tode verurteilt, egal von welcher Seite.

Auf die Frage, inwieweit aufenthaltsbeendende Maßnahmen in das Familien- und Privatleben des BF eingreifen würden, gab dieser lediglich an, dass dann „seine Freiheit verlorengehe. Da er hier weiter die Schule machen möchte, werde er diese Chance verlieren. Er habe auch Integrationskurse besucht. Diese Sachen werde er verlieren“.

Nach seinem momentanen Erwerb befragt, gab der BF an, dass er von der Grundversorgung lebe. Vom 03.03.2018 bis vor ca. 4-5 Monaten sei er bei Mjam als Lieferant tätig gewesen.

Zu den Länderfeststellungen befragt, erklärte der BF lapidar, dass er diese gar nicht gelesen hätte. Da er nie in Afghanistan gewesen wäre, sondern im Iran aufgewachsen sei, lauerten dort genug Gefahren. Daher könne er nicht nach Afghanistan zurückkehren.

2.6.    Mit Bescheid vom 24.07.2020, Zl. XXXX , wies das BFA den (zweiten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 10.06.2020 sowie seinen Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten jeweils gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II). Ferner wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG gewährt (Spruchpunkt III.) Gegen ihn wurde vielmehr eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass eine Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Eine Frist für eine freiwillige Ausreise wurde dem BF nicht gewährt (Spruchpunkt VI.). Gegen ihn wurde abschließend ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass sich der objektive und entscheidungsrelevante Sachverhalt im Falle des BF gegenüber dem früheren Bescheid nicht verändert habe, weshalb entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorläge und daher der Antrag zurückzuweisen sei.

Die Feststellung, dass die Angaben des BF keinen glaubhaften Kern aufwiesen, ergebe sich daraus, dass dieser nicht in der Lage gewesen sei, seine Fluchtgeschichte durchgehend stimmig und gleichbleibend zu schildern. Er habe trotz der Aufforderung, Details zu erzählen, lediglich bloß eine grobe Rahmengeschichte mit zahlreichen Unstimmigkeiten und Widersprüchen präsentiert, die der BF auch auf Nachfragen hin nicht ausräumen habe können.

Weiters stellten sich seine Angaben zum zweiten neuen Fluchtgrund der Abkehr vom Islam nicht glaubwürdig dar. Im Rahmen seiner Einvernahme am 14.11.2018 (zum Erstantrag) habe der BF zur konkret gestellten Frage: „Welcher Religion gehören Sie an?“ zu Protokoll gegeben, dass er schiitischer Moslem wäre, während er in der Einvernahme im gegenständlichen Verfahren (zum Folgeantrag) behauptet habe, dass er bereits seit mittlerweile zwei Jahren weder bete, faste oder die Moschee besuche. Auch eine Bestätigung vom offiziellen Austritt habe der BF bis dato weder beschaffen noch vorlegen können. Gesamt betrachtet sei daher aufgrund der massiven Ungereimtheiten und Widersprüche für das BFA kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt feststellbar.

2.7.    Gegen diesen Bescheid vom 24.07.2020 erhob der BF rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG. Geltend gemacht wurden die Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, die mangelhafte Beweiswürdigung sowie unrichtige rechtliche Beurteilung.

Inhaltlich erstattete der BF in seiner Beschwerde keinerlei Vorbringen bezüglich seines ersten, im Zusammenhang mit der (von ihm als „Frau“ bezeichneten) Mutter seines Kindes stehenden Fluchtgrundes. Moniert wurden lediglich die Feststellungen und die Beweiswürdigung des BFA in Bezug auf den zweiten Fluchtgrund des Abfalls des BF vom Islam. Es wurden Erklärungen für die vom BFA erblickten Widersprüche angeboten und als Konsequenz die Ansicht vertreten, dass im Ergebnis nicht von entschiedener Sache auszugehen sei.

Sonst wurde inhaltlich lediglich das zweijährige Einreiseverbot bekämpft. Der Argumentation des BFA wurde entgegengehalten, dass der BF als Asylwerber im Zulassungsverfahren keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgehen dürfe. Vor diesem Hintergrund könne ihm die „gesetzlich im Grunde genommen vorgesehene“ Mittellosigkeit nicht vorgeworfen werden. Aufgrund des Grades seiner Integration sei das verhängte Einreiseverbot überdies nicht verhältnismäßig.

II.      Beweisaufnahme

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die dem erkennenden Gericht vorliegenden Akten des BFA und des BVwG samt jeweiliger Vorakten, insbesondere in die Niederschriften der Erstbefragung vom 30.04.2016 und 11.06.2020, die Einvernahmen vor dem BFA vom 14.11.2018 und 17.07.2020, den Bescheid des BFA vom 29.01.2019, Zl. XXXX , das Erkenntnis des BVwG vom 28.01.2020 zu W161 2214671-1, den angefochtenen Bescheid des BFA vom 24.07.2020 sowie in die gegenständliche Beschwerde vom 17.07.2020, ferner in die Dokumentationsquellen des BFA betreffend Afghanistan (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA idF der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 18.05.2020, AS 65 bis 409 des Verwaltungsaktes), in das Strafregister der Republik Österreich, in das zentrale Melderegister sowie in das Gewerbeinformationssystem Austria (GISA).

III.    Sachverhaltsfeststellungen

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem, für die Entscheidung maßgeblichem Sachverhalt aus, wobei ob der eingetretenen Rechtskraft die vom BVwG im Verfahren zu W161 2214671-1 getroffenen Feststellungen als präjudiziell angesehen werden.

1.       Zur Person des Beschwerdeführers

1.1.    Der Beschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Saadat an. Der BF spricht die Sprachen Farsi und Dari.

1.2.    Im Iran lernte der BF die Mutter seines Sohnes (eine Afghanin) kennen. Der BF hat einen minderjährigen Sohn, der bei seiner Mutter im Iran lebt. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF mit der Mutter seines Sohnes verheiratet ist. Er ist sohin ledig.

1.3.    Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Daikundi geboren, wo er mit seinen Eltern bis etwa zu seinem vierten Lebensjahr lebte. Danach übersiedelten die Eltern gemeinsam mit dem BF in den Iran, wo der BF bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Der BF hat in Afghanistan keine Verwandten. Sein Sohn, dessen Mutter und seine Mutter leben nach wie vor im Iran. Die Mutter des BF ist erwerbstätig und versorgt den Sohn des BF und dessen Mutter. Der BF steht mit seiner Familie im Iran in Kontakt. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Vater des BF tatsächlich verstorben ist.

Der BF erhielt im Iran etwa acht Jahre lang Privatunterricht und hat dort etwa acht bis neun Jahre lang im Bereich der Stoffverfahrenstechnik gearbeitet.

1.4.    Der BF war zwar nur etwa bis zu seinem vierten Lebensjahr in Afghanistan aufhältig, er ist jedoch in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen, nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert und sohin mit diesen vertraut.

1.5.    Der BF ist nach wie vor schiitischer Moslem. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF die mit dieser Religion verbundenen Riten, insbesondere das Gebet und das Fasten zu vorgeschriebenen Anlässen, nicht praktiziert.

1.6.    Der BF ist jung, gesund und arbeitsfähig. Er leidet insbesondere auch nicht an einer schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Im Hinblick auf das momentan grassierende Corona-Virus (COVID-19) weist er keine relevanten Vorerkrankungen oder sonstige Risikofaktoren auf, sodass er keiner der Risikogruppen angehört, deren Angehörige im Falle einer Erkrankung mit einem schweren bzw. letalen Verlauf rechnen müssen.

2.       Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

2.1.    Der BF hat weder im Verfahren vor dem BFA zur Zahl XXXX noch im Rahmen der verfahrensgegenständlichen Beschwerde neue Gründe im Vergleich zum rechtskräftigen dg Vorverfahren zu W161 2214671-1 dargelegt, dass ihm in Afghanistan Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention drohe.

2.2.    Der BF konnte im Vergleich zum rechtskräftigen dg Vorverfahren zu W161 2214671-1 auch keine neuen Gründe dafür aufzeigen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

2.3.    Der BF hat die Mutter seines Sohnes im Iran nicht geheiratet, sohin auch nicht ohne Einwilligung ihrer Eltern. Er und seine Familie sind aus diesem Grund auch keiner Bedrohung oder Verfolgung durch die Familie dieser Frau ausgesetzt und sind dies auch nie gewesen. Die Familie der Mutter seines Sohnes will den BF bzw. seine Familienangehörigen auch nicht töten.

2.4.    Der Beschwerdeführer ist nicht vom Islam abgefallen und ist immer noch schiitischer Moslem. Er hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würde. Der Beschwerdeführer tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Ihm drohte selbst in dem Fall, dass er keine religiösen Riten und Bräuche (Beten, Besuch der Moschee) ausübt, in Afghanistan bei einer Ansiedelung in einer Großstadt keine physische oder psychische Gewalt.

3.       Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

3.1.    Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest 29.04.2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 29.04.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

3.2.    Der BF lebt von der Grundversorgung. Vom 03.03.2018 bis vor etwa einem halben Jahr war er bei Mjam als Lieferant (selbständig) tätig. Zuvor hat der BF als Werbemittelverteiler gearbeitet und auch gemeinnützige Arbeiten geleistet. Der BF ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage. Der BF verfügt jedoch über aufrechte Gewerbeberechtigungen als Werbemittelverteiler (seit 28.02.2019) und für einen Botendienst (seit 23.09.2019).

3.3.    Der BF hat mehrere einfache Deutschkurse besucht, verfügt aber lediglich über ein Deutsch-Zertifikat auf dem Niveau A1. Weiters hat er in Österreich den Pflichtschulabschluss gemacht und an diversen Veranstaltungen teilgenommen.

3.4.    Der BF wohnt gemeinsam mit einem Mitbewohner in einer privaten Unterkunft, die Miete bezahlt er selbst. In seiner Freizeit trifft sich der BF mit Freunden. Der BF hat zwar im Vorverfahren Empfehlungsschreiben (von Flüchtlingshelfern und Deutschlehrern) in Vorlage bringen können, dabei hat es sich aber um keine engen sozialen Beziehungen gehandelt. Der Beschwerdeführer verfügt weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder, in Österreich. Der BF gehört auch keiner religiösen Vereinigung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an.

3.5.    Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet ist nicht gegeben.

3.6.    Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist seit 23.06.2020 in Österreich nicht mehr aufrecht gemeldet.

4.       Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

4.1.    Es kann zwar nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Daikundi aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfindenden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht. Eine Rückkehr nach Afghanistan und eine Ansiedlung in der Stadt Herat oder in Mazar-e Sharif wären dem BF jedoch gefahrlos möglich und ihm auch zumutbar. Der BF kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen. Auch eine grundlegende medizinische Versorgung ist in Herat bzw. in Mazar-e Sharif jeweils vorhanden.

4.2.    Der BF ist jung, gesund und arbeitsfähig. Der BF hat im Iran etwa acht Jahre lang privaten Unterricht erhalten und dort acht bis neun Jahre lang in der Stoffverfahrenstechnik gearbeitet. Diese Berufserfahrung wird er auch in Mazar-e Sharif oder Herat gut nutzen können. Städtische Strukturen sind ihm nicht zuletzt aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Teheran bekannt. Seine Existenz kann der BF in Herat oder in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es ist dem BF daher möglich, nach etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder in Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Es ist ferner mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF in diesem Fall grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen wird können, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF hat überdies die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr, neben den eigenen Ressourcen, auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung zurückgreifen kann.

4.3.    Dem BF droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan keine an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seine politische Überzeugung anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität.

4.4.    Dem BF droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität. Er hat mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme. Der BF ist in Afghanistan auch keiner Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt gewesen und wäre dies im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auch nicht.

5.       Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

5.1.    Es wird festgestellt, dass sich die Situation in Afghanistan seit dem 28.01.2020 für junge, gesunde und arbeitsfähige Männer nicht wesentlich geändert hat.

5.2.    Die einzige Änderung der Gegebenheiten ist das mittlerweilige (weltweite) Auftreten des sogenannten Covid-19-Virus. Allerdings droht jungen gesunden Männern wie dem BF selbst im Falle einer Infektion mit Covid-19 mit einer lediglich im (unteren) einstelligen Prozentbereich liegenden Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für ihr Leben oder, dauerhafte schwerwiegende gesundheitliche Schäden davonzutragen. In der Mehrzahl der Fälle verläuft solch eine Erkrankung der bisherigen Erfahrung nach sogar weitgehend symptomlos bzw. heilt binnen kurzem ohne bleibende Schäden aus.

5.3.    Lage in Afghanistan gemäß dem Länderbericht der Staatendokumentation (Auszug bzw. zusammengefasst):

5.3.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

5.3.2.  Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban- Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US- Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

5.3.3.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

5.3.4.  Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).

5.3.5.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 17.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 17.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 17.2).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 17.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 17.3).

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung. Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren. Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 17.3).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (LIB, Kapitel 17.4).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (LIB, Kapitel 17.4).

Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (LIB, Kapitel 17.4).

5.3.6.  Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 16.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 16.1).

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 16.5).

5.3.7.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

5.3.8.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).

5.3.9.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Pro

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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