TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/17 W238 2189435-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.08.2020
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Entscheidungsdatum

17.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W238 2189435-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Sarah KUMAR, Kärntner Straße 7b/1, 8020 Graz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.02.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.07.2020 zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte am 18.01.2016 im Alter von 15 Jahren einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sunnitisch-muslimischen Glaubens sei. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er stamme aus Kabul und habe acht Jahre die Schule besucht. Zuletzt habe er in einem Kleidergeschäft gearbeitet. Seine Familie lebe in Afghanistan (Kabul). Als Fluchtgrund gab er an, dass vermummte Personen ihm eine Verletzung am Kopf zugefügt hätten. Sein Onkel, der beim Verteidigungsministerium tätig gewesen sei, habe auch Probleme mit diesen Leuten gehabt.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 29.04.2016 wurde die gesamte Obsorge hinsichtlich des Beschwerdeführers dem Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes Steiermark, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , übertragen. Die Rechte und Pflichten wurden seitens der Bezirkshauptmannschaft XXXX ab 07.04.2017 an zwei näher bezeichnete Pflegepersonen übertragen.

4. Anlässlich der am 25.01.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und des (vormaligen) Pflegevaters durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark (im Folgenden: BFA), wiederholte der Beschwerdeführer seine Angaben hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Herkunftsort, Familienstand, Schulbesuch und Berufserfahrung. Er gab an, dass er in psychologischer Betreuung sei und das Medikament Sertralin einnehme. Seine Kernfamilie halte seit weiterhin in Afghanistan (Kabul) auf. Lediglich sein Vater lebe in Dubai. Als Fluchtgrund gab er an, dass sein Onkel im Verteidigungsministerium gearbeitet und einen Anschlag eines namentlich genannten Terroristen vereitelt habe. Daraufhin seien sein Onkel, dessen Familie und auch der Beschwerdeführer von der terroristischen Vereinigung bedroht worden. Eines Tages sei der Beschwerdeführer nach Verlassen des familieneigenen Bekleidungsgeschäfts geschlagen und entführt worden. Er habe sich jedoch nach kurzer Zeit aus der Gefangenschaft befreien und schließlich aus Afghanistan flüchten können. Er legte einen radiologischen Befund vom 16.02.2016, einen psychiatrischen Befund vom 11.01.2018, eine Visitenkarte des Bekleidungsgeschäfts in Kabul sowie Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich vor.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 14.02.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin machte der Beschwerdeführer zunächst die fehlende Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen in Afghanistan geltend. Sodann wiederholte er sein Fluchtvorbringen und rügte die mangelhafte Beweiswürdigung der belangten Behörde. Weiters brachte er vor, dass sich die belangte Behörde nicht mit der Tätigkeit seiner Angehörigen für die Regierung und die damit für ihn bestehende Verfolgungsgefahr auseinandergesetzt habe. Als Angehöriger der sozialen Gruppe seiner Familie habe er Verfolgung wegen unterstellter politischer Gesinnung seitens der Feinde seiner Familie (Taliban, Terroristen) zu befürchten. Dem Beschwerdeführer stehe entgegen der Ansicht der belangten Behörde auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, zumal der minderjährige Beschwerdeführer in den Städten nicht in der Lage wäre, für seinen Unterhalt zu sorgen und ein menschenwürdiges Leben zu führen. Hierbei sei seine psychische Erkrankung besonders zu berücksichtigen. Weiters habe es die belangte Behörde unterlassen, die gute Integration des Beschwerdeführers zu berücksichtigen.

7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 16.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 07.05.2019 erstattete der vormalige Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ein ergänzendes Vorbringen, in dem insbesondere auf das Bestehen einer psychischen Erkrankung Bezug genommen und eine Rückkehrmöglichkeit nach Kabul bzw. eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif unter Verweis auf die dortige Sicherheits- und Versorgungslage in Abrede gestellt wurde.

9. Am 21.07.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Paschtu beigezogen wurde. Im Zuge der Verhandlung wurde die (vormalige) Pflegemutter des Beschwerdeführers als Zeugin einvernommen. Ein Vertreter der (ordnungsgemäß geladenen) belangten Behörde, die bereits anlässlich der Beschwerdevorlage auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtet hatte, nahm nicht an der Verhandlung teil. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

Der Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden vom Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers eingebracht.

Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers erstattete eine mündliche Stellungnahme zur Berichtslage. Der Beschwerdeführer legte (erneut) den psychiatrischen Befund vom 11.01.2018 sowie weitere Unterlagen betreffend seine Integration in Österreich vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch dieses Erkenntnisses enthaltenen Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Dari, Englisch und Deutsch.

Er wurde am XXXX in Afghanistan, Stadt Kabul geboren und hielt sich dort bis zu seiner Ausreise Ende 2015 auf.

Der Beschwerdeführer stellte am 18.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Zuge der Erstbefragung mit einer ihm zugefügten Kopfverletzung durch Personen, mit denen auch sein Onkel Probleme gehabt habe. Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA brachte er diesbezüglich präzisierend vor, dass sein Onkel im Verteidigungsministerium gearbeitet und einen Anschlag eines Terroristen namens XXXX vereitelt habe, woraufhin die ganze Familie von der terroristischen Vereinigung bedroht und der Beschwerdeführer entführt worden sei.

Im Beschwerdeschriftsatz wurde darüber hinaus unter Verweis auf andere Familienmitglieder vorgebracht, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger von Staatsbediensteten bzw. als Angehöriger von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich für die Regierung arbeiten oder die internationale Gemeinschaft unterstützen, ein besonderes Risikoprofil aufweise.

Weiters wurde in der Beschwerde eine Verfolgungsgefahr wegen der (vormaligen) Minderjährigkeit des Beschwerdeführers geltend gemacht.

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde eine Verfolgungsgefahr wegen „westlicher Orientierung“ des Beschwerdeführers vorgebracht.

Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht im Einzelnen Folgendes festgestellt:

Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat aufgrund eines von seinem Onkel verhinderten Anschlags einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung – etwa in Form von Drohungen bzw. einer Entführung – durch Anhänger einer terroristischen Vereinigung oder andere regierungsfeindliche Gruppen ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt.

Der älteste Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers arbeitet(e) nicht im Verteidigungsministerium. Er verhinderte keinen terroristischen Anschlag. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge von Anhängern einer terroristischen Vereinigung weder bedroht noch entführt.

Der älteste Onkel mütterlicherseits ist nicht in der Provinz Herat als Beamter bzw. Staatsbediensteter tätig. Ein weiterer Onkel mütterlicherseits arbeitet nicht beim afghanischen Geheimdienst. Der Beschwerdeführer ist kein Familienangehöriger von Personen, die für die Regierung arbeiten.

Der Beschwerdeführer wurde 2019 volljährig. Er ist mittlerweile fast 20 Jahre alt (19 Jahre, 8 Monate). Der Beschwerdeführer wäre im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keiner Verfolgung wegen seines Alters ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer wuchs in einem islamisch geprägten Land eingebettet in den afghanischen Familienverband als Angehöriger der muslimischen Religion auf, ist allerdings gegenwärtig nicht religiös interessiert bzw. hält sich gegenwärtig nicht an alle Vorgaben der islamischen Religion. Er betet nicht und fastet nicht zu Ramadan. Er hat sich jedoch weder aus tiefer innerer Überzeugung vom Islam abgewendet noch ist er aus tiefer innerer Überzeugung Atheist oder Anhänger einer anderen religiösen Überzeugung geworden. Er wäre in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt.

Weiters wird nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er seit Jänner 2016 in Europa lebt, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Er hat keine „westliche Lebenseinstellung“ als wesentlichen Bestandteil seiner Identität angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan steht. Eine solche würde ihm auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit unterstellt werden.

Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Paschtune), seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers wird festgestellt, dass er an keinen lebensbedrohenden Krankheiten leidet. Er ist körperlich völlig gesund. In psychischer Hinsicht wurde bei ihm im Jänner 2018 eine mittelgradige Depression diagnostiziert. Empfohlen wurden dem Beschwerdeführer damals die Einnahme eines Antidepressivums und die Absolvierung einer Psychotherapie. Der Beschwerdeführer nimmt derzeit täglich Sertralin 50 mg ein. Er besuchte zweimal eine Schulpsychologin. Er nimmt aktuell keine Psychotherapie in Anspruch. Eine Woche vor der Verhandlung nahm der Beschwerdeführer über Veranlassung seiner vormaligen Pflegemutter einen Termin bei einer Amtspsychologin wahr, welche ihm die Inanspruchnahme einer Psychotherapie freistellte. Der Beschwerdeführer gab auf Nachfrage zu seinem Gesundheitszustand insbesondere an, dass er unter Konzentrationsschwierigkeiten und Stress leide.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – auch in Afghanistan aufgetretene – Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen maßgeblicher physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan acht Jahre die Schule. Er kann lesen und schreiben. In Kabul arbeitete er ein Jahr als Verkäufer im familieneigenen Bekleidungsgeschäft.

Seine Mutter, seine drei Brüder und drei Schwestern leben nach wie vor in der Stadt Kabul. Die Familie besitzt dort ein Haus. Sein Vater lebt in Dubai, wo er als LKW-Fahrer tätig ist und von dort für den Unterhalt der Familie sorgt. Der Kernfamilie des Beschwerdeführers geht es gut. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie. Dass sich das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern seit dessen Aufenthalt in Österreich verschlechtert hat, konnte nicht festgestellt werden.

Auch Onkel und Tanten des Beschwerdeführers halten sich in Afghanistan auf, konkret in Kabul, in Herat und in Laghman. Zu dem in Herat lebenden Onkel hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt.

Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kabul, insbesondere in die relativ sichere Stadt Kabul, möglich. Der Beschwerdeführer kann sich im Rückkehrfall stattdessen aber auch in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.

Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer lebte zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch – bis auf einen in Herat lebenden Onkel, zu dem kein Kontakt besteht – über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner achtjährigen schulischen Ausbildung, seiner Schreib- und Lesekompetenz, seiner Sprachkenntnisse (Paschtu, Dari, Englisch, Deutsch), seiner Arbeitsfähigkeit und seiner als Verkäufer gewonnenen beruflichen Erfahrungen sowie der mittlerweile in Österreich erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten könnte sich der Beschwerdeführer dennoch sowohl in Kabul als auch in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer ist selbsterhaltungsfähig. Zudem könnte er mit – wenn auch geringfügiger – finanzieller Unterstützung seines in Dubai lebenden Vaters sowie im Falle der Niederlassung in Kabul zusätzlich mit der Bereitstellung von Wohnraum im Haus seiner Familie rechnen. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Er kann die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif grundsätzlich auf dem Luftweg sicher erreichen.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er hat Familienangehörige in Afghanistan und in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Auch in Österreich hat der Beschwerdeführer Verwandte. Ein Cousin seiner Mutter lebt seit acht bis neun Jahren in Tirol. Zu ihm hatte der Beschwerdeführer seit seinem Aufenthalt in Österreich kaum Kontakt. Kurz nach der Einreise in Österreich war der Beschwerdeführer in Tirol untergebracht und wurde von seinem Großcousin in der Asylunterkunft besucht. Vor ca. zwei Jahren verbrachte er einen Urlaub in Tirol und besuchte seinen Großcousin in XXXX . Ein Cousin seines Vaters lebt in XXXX . Zu ihm hatte der Beschwerdeführer vor eineinhalb Jahren einmalig Kontakt. Die beiden Großcousins haben Asylstatus, leben mit ihren Familien zusammen und sind berufstätig. Ein Cousin des Beschwerdeführers, Sohn einer Tante väterlicherseits, lebt in XXXX . Zu ihm hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Sein Aufenthaltsstatus konnte nicht festgestellt werden.

Es besteht keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinen in Österreich lebenden Verwandten.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 29.04.2016 wurde die gesamte Obsorge hinsichtlich des damals minderjährigen Beschwerdeführers dem Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes Steiermark, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , übertragen. Die Rechte und Pflichten wurden seitens der Bezirkshauptmannschaft XXXX ab 07.04.2017 an die Pflegepersonen XXXX und XXXX übertragen, welche vorher eine Patenschaft für den Beschwerdeführer übernommen hatten.

Mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Beschwerdeführers ( XXXX ) endete die Obsorge. Die vormaligen Pflegeeltern beziehen unbeschadet dessen weiterhin Pflegeelterngeld für den Beschwerdeführer, bis er 21 Jahre alt ist oder keine Ausbildung mehr macht.

Seit 07.04.2017 wohnt der Beschwerdeführer – gemeinsam mit einem weiteren Asylwerber – im gemeinsamen Haushalt mit seinen vormaligen Pflegeeltern. In dieser Zeit entstand eine emotionale Bindung zwischen dem Beschwerdeführer und seinen vormaligen Pflegeeltern, die von gegenseitiger Wertschätzung, Zuneigung und Unterstützung geprägt ist. Der Beschwerdeführer hilft oft im Haushalt (einkaufen, kochen etc.) und achtet auf seinen vormaligen Pflegevater, der vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitten hat, wenn dessen Ehefrau nicht zu Hause ist. Der Beschwerdeführer ist jedoch nicht an dessen Pflege beteiligt. Die vormaligen Pflegeeltern des Beschwerdeführers beraten und unterstützen ihn insbesondere bei seiner Ausbildung in Österreich. Der Beschwerdeführer nimmt an Familienfesten seiner vormaligen Pflegeeltern teil. Sie unternehmen viel zusammen und fahren auch gemeinsam in den Urlaub. Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem – mittlerweile volljährigen und selbständigen – Beschwerdeführer und seinen vormaligen Pflegeeltern.

Der Beschwerdeführer verfügt über (weitere) freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Privatpersonen und brachte zahlreiche Unterstützungsschreiben in Vorlage.

Er lernte Deutsch im Zuge des Schulbesuchs und nahm auch an privatem Deutschunterricht teil. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer war zunächst außerordentlicher Schüler an einer Neuen Mittelschule in XXXX (Schuljahr 2015/2016). Im Schuljahr 2016/2017 war er ordentlicher Schüler an der Bundeshandelsakademie/Bundeshandelsschule in XXXX . Er bestand erfolgreich die Abschlussprüfung an der Bundeshandelsakademie/Bundeshandelsschule und meldete sich für einen Aufbaulehrgang in der Medien-HAK in XXXX an. Weiters absolvierte er im Jahr 2017 ein Praktikum (Büroassistenz) und besuchte einen Werte- und Orientierungskurs.

2019 und 2020 erhielt der Beschwerdeführer von Verwandten seiner vormaligen Pflegeeltern für diverse Tätigkeiten (z.B. Hausanstrich) Dienstleistungsschecks; er war insoweit von 08.08.2019 bis 31.08.2019 sowie von 17.02.2020 bis 29.02.2020 geringfügig beschäftigt. Von 29.08.2018 bis 07.09.2018 war er vollversichert als Arbeiter beschäftigt.

Der Beschwerdeführer ist Mitglied beim Verein XXXX , nimmt aber schon seit langem nicht mehr an Vereinsaktivitäten teil.

Die Bindung des Beschwerdeführers zu Afghanistan ist angesichts seiner Aufenthaltsdauer im Herkunftsstaat – insbesondere auch unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache Paschtu und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur – deutlich intensiver als jene zu Österreich, zumal seine Kernfamilie und weitere Verwandte dort leben. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 18.01.2016 im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020 samt Kurzinformation zu COVID-19 vom 29.06.2020, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO – EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2018 und Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019 – enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Sicherheitslage und politische Lage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB Stand 18.05.2020, S. 16).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt. Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (LIB Stand 18.05.2020, S. 16 ff.).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt. Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte. Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig. CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52%. Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern.

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht. Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen. Nach monatelanger politischer Krise, einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (LIB Stand 18.05.2020, S. 16 ff.).

Friedens- und Versöhnungsprozess (LIB Stand 18.05.2020, S. 19)

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche [Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen.

Das Abkommen mit den US-Amerikanern (LIB Stand 18.05.2020, S. 19 f.)

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen.

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB Stand 18.05.2020, S. 22). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB Stand 18.05.2020, S. 22).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019 bis 6.2.2020 verzeichnete UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

Die Sicherheitslage im Jahr 2019 (LIB Stand 18.05.2020, S. 22 f.)

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht.

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018.

Zivile Opfer (LIB Stand 18.05.2020, S. 23 f.)

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand.

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall.

High-Profile Angriffe (HPAs) (LIB Stand 18.05.2020, S. 25)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein.

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten (LIB Stand 18.05.2020, S. 26)

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt.

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt.

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:

Taliban (LIB Stand 18.05.2020, S. 26 f.)

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani – Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

Haqani-Netzwerk (LIB Stand 18.05.2020, S. 27)

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich.

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (LIB Stand 18.05.2020, S. 28)

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv.

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck. Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen. So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen. Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen. Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert.

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert.

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt.

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten.

Al-Qaida (LIB Stand 18.05.2020, S. 29)

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv.

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder.

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen.

Sicherheitsbehörden (LIB Stand 18.05.2020, S. 234 ff.)

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF – Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte.

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt.

Die autorisierte Truppenstärke der ANDSF wird mit 382.000 beziffert. Die autorisierte Stärke des MoD beträgt 227.103 Mann, während die autorisierte Stärke des MoI 154.626 beträgt. Die ALP zählt mit einer Stärke von 30.000 Leuten als eigenständige Einheit. Die zugewiesene (tatsächliche) Truppenstärke der ANDSF soll jedoch nur 272,807 betragen. Die Truppenstärke ist somit seit dem Beginn der RS-Mission im Jänner 2015 stetig gesunken. Der Rückgang an Personal wird allerdings auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll. Gewisse Daten wie z.B. die Truppenstärke einzelner Einheiten werden teilweise nicht mehr publiziert.

Die Anzahl der in der ANDSF dienenden Frauen hat sich erhöht (USDOD 12.2019). Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor strukturelle und kulturelle Herausforderungen, um Frauen in die ANDSF und die afghanische Gesellschaft zu integrieren

Kabul (LIB Stand 18.05.2020, S. 35 ff.)

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt. Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen.

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB Stand 18.05.2020, S. 322).

Balkh (LIB Stand 18.05.2020, S. 58 ff.)

Die Provinzhauptstadt von Balkh ist Mazar-e Sharif. Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistan und ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Es leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif.

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89; S. 92f).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen. Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) zu erreichen (LIB Stand 18.05.2020, S. 58 f., S. 323).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB Stand 18.05.2020, S. 334).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 „stressed“ eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).

Herat (LIB Stand 18.05.2020, S. 99 ff.)

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und ist eine der größten Provinzen Afghanistans. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt. Die Provinz verfügt über 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen.

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen erreichbar.

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. In der Stadt Herat steigt die Kriminalität und Gesetzlosigkeit.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89, S. 99f).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB Stand 18.05.2020, S. 323).

Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch „stressed“ genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).

Allgemeine Menschenrechtslage (LIB Stand 18.05.2020, S. 251 ff.):

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten.

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken in Anliegen von Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen den Zugang der Bürger zu Justiz ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt.

Menschenrechtsverteidiger werden sowohl von staatlichen, als auch nichtstaatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten.

Religionsfreiheit (LIB Stand 18.05.2020, S. 264 f.):

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus; in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (LIB Stand 18.05.2020, S. 64 ff).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor.

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert.

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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