Entscheidungsdatum
17.08.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W247 1414757-4/33E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.05.2020, zu Recht:
A)
I. In Erledigung der Beschwerde wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, idgF., auf Dauer unzulässig ist.
II. Gemäß §§ 54, 55 iVm § 58 Abs. 2 AsylG, sowie § 9 Abs. 4 iVm § 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, idgF, wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführerin (BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, reiste am 13.10.2008, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, von Polen kommend illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 16.07.2010, Zl. XXXX , bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und gemäß § 8 Abs. 1 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen, sowie die BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.) wurde. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 30.08.2012, GZ. XXXX , wurde die dagegen erhobene Beschwerde gemäß §§ 3, 8, 10 AsylG als unbegründet abgewiesen und erwuchs die Entscheidung am 17.09.2012 in Rechtskraft.
1.2. Am 09.08.2013 stellte BF, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, den 2. Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.11.2013, Fz. XXXX , wegen entschiedener gemäß § 68 AVG zurückgewiesen (Spruchpunkt I.) und die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt II.) wurde.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.05.2014, XXXX , wurde die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 iVm Abs 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 idgF insoweit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Dieses Erkenntnis erwuchs in weiterer Folge am 27.05.2014 in Rechtskraft.
1.3. Am 13.09.2014 stellte die BF erneut, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, den 3. Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid vom 11.11.2015, ZI. XXXX , gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen wurde (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen und wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Mit Erkenntnis des BVwG vom 25.10.2017, XXXX , wurde die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 iVm §§ 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 Asylgesetz 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
1.4. Am 23.01.2018 stellte die BF gegenständlichen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gemäß § 56 Abs. 1 AsylG.
1.5. Ihrem Antrag beigefügt wurden folgende Unterlagen/Dokumente:
? Schreiben des AMS XXXX vom 10.11.2017;
? Arbeitsvorvertrag vom 10.01.2018;
1.6. Am 06.02.2018 erging ein Schreiben des BFA, wobei es die BF zur Vorlage weiterer Unterlagen aufforderte.
1.7. Der rechtsfreundliche Vertreter der BF legte am 20.02.2018 bei der Behörde persönlich Versicherungsdatenauszüge für diese vor und wurde darüber informiert, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG nach der bisherigen Aktenlage nicht vorliegen würden. Dabei gab der RV gegenüber der Behörde an, dass die Erlangung eines „humanitären Aufenthaltstitels“ angestrebt werde, wobei dies § 55 AsylG betreffe und möglicherweise ein falsches Antragsformular verwendet worden sei. Für die allfällige Modifizierung des Antrags bzw. der Vorlage einer Stellungnahme wurde dem BF eine Frist bis zum 01.04.2018 gewährt.
1.8. Mit Schriftsatz vom 23.02.2018 langte eine Stellungnahme ein, womit der ursprüngliche Antrag gemäß § 56 AsylG auf § 55 AsylG geändert wurde. Dabei wurde weiters vorgebracht, dass es sich um eine sehr gut integrierte Familie handle – ursprünglich erfolgte die Antragstellung für alle Familienmitglieder, weshalb eine Stellungnahme für alle erfolgte –, wobei die betroffenen Frauen nicht einmal das obligate Kopftuch trügen. Deren Verwandte hätten allesamt ein Aufenthaltsrecht, Asyl oder die österreichische Staatsbürgerschaft und seien alle, bis auf eine Person, erwerbstätig. Vorort bei den Familien würden sie in geordneten ordentlichen Verhältnissen leben und würden sie von der Familie unterstützt. Es gäbe keinerlei Neigung zum Extremismus und lebe ein großer Teil areligiös oder liberal muslimisch. Alle hätten ihr Möglichstes zur Weiterbildung getan, die BF habe bei ihrer Tante, die eine Schneiderei in Wien habe, ein Praktikum absolviert und könne sofort eine Lehrstelle bekommen. Überdies seien alle bei der GKK XXXX versichert. Aufgrund ihrer Geschichte, ihrem Mitwirken, besonders ihrer Aufenthaltsdauer und ihrer Unbescholtenheit werde empfohlen ein Bleiberecht nach § 55 AsylG zu gewähren.
1.9. Im weiteren Verfahrensverlauf brachte die BF folgende Unterlagen in Vorlage:
? Bestätigung einer Änderungsschneiderei vom 23.04.2018 über die Absolvierung eines Praktikums, sowie Zusage als Näherin und Büglerin;
1.10. Mit dem gegenständlich bekämpften Bescheid vom 28.03.2018, Zl. XXXX wies die belangte Behörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG zurück (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG erließ die belangte Behörde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich seit rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens mit 27.10.2017 keine wesentlichen Änderungen ergeben hätten, die eine Neubewertung im Hinblick auf Art. 8 EMRK bedürfte. Da eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung bestehe und die BF ihrer Ausreiseverpflichtung bis dato nicht nachgekommen sei, sei diese nach wie vor aufrecht, wodurch die Erlassung einer neuerlichen Rückkehrentscheidung nicht geboten sei. In ihrem Privat- und Familienleben hätten sich keine Änderungen ergeben. Seitens des BVwG sei über die privaten und familiären Anknüpfungspunkte bis zum Zeitpunkt der Erlassung der in Rechtskraft erwachsenen Rückkehrentscheidung rechtskräftig und verbindlich abgesprochen worden. Eine maßgebliche Sachverhaltsänderung sei nicht eingetreten und auch nicht behauptet worden. Es liege der Verdacht nahe, dass die BF durch ihr Verhalten, insbesondere den letztlich unbegründeten Asylantrag und den anschließend illegalen Aufenthalt durch Nichtbefolgung ihrer Ausreiseverpflichtung, die Behörde vor vollendete Tatsachen stelle und legale Einwanderungsbestimmungen zu umgehen beabsichtige. Der vorgelegte Arbeitsvorvertrag sei nicht derart relevant, um von einer wesentlichen Sachverhaltsänderung iSd Art. 8 EMRK ausgehen zu können.
1.11. Mit Verfahrensanordnung vom 29.03.2018 wurde de BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater für ein etwaiges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
1.12. Mit für alle Familienmitglieder gleichlautendem Schriftsatz erhob die BF am 26.04.2018 durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, Nichtbeachtens von schriftlichen und mündlichen Vereinbarungen, sowie wegen Rechtswidrigkeit in Folge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Familie nicht gut beraten gewesen sei und deshalb einen 2. und 3. Folgeantrag gestellt hätten. Mit Schreiben des BFA vom 06.02.2018 habe das BFA einen Brief mit vier Auflagen geschickt, die alle erfüllt worden seien. Es seien weitere 5 Punkte zur Erfüllung auferlegt worden, darunter gültige Reisedokumente gemäß § 8 AsylG-DV. Der rechtsfreundliche Vertreter habe darauf verwiesen, dass die russische Botschaft unkooperativ mit ehemaligen Flüchtlingen umgehe und die Erlangung von Reisepässen bis etwa 6 Monate dauere, weshalb eine Frist bis zum 01.04.2018 mit Option der Verlängerung gewährt worden sei. Umgehend hätte die Familie versucht Termine bei der Botschaft zu bekommen. Persönliche Vorsprachen seien jedoch nicht zugelassen worden, man müsse sich mit russischen Personaldokumenten ausweisen oder österreichische Ausweise vorlegen. Da die AB Karten eingezogen worden seien, sei die Familie ohne Ausweis. Der rechtsfreundliche Vertreter habe den Antrag gestellt der Familie die hinterlegten Dokumente auszuhändigen. Dies sei bis heute nicht geschehen. Seine mündliche Anfrage auf Ausstellung eines österreichischen Ausweises für Fremde habe ergeben, dass die Familie keinen Anspruch habe, da sie sich illegal im Land befinden würden. Statt eine Fristverlängerung beantragen zu können, sei vor Ende der Frist der negative Bescheid zugestellt worden. Der Antrag der BF sei begründet, weil sie voll integriert sei, Unterstützung von der Familie bekomme und sie daher von keiner Organisation unterstützt werden müsse, über eine ortsübliche Unterkunft verfüge, versichert sei, über eine Arbeitszusage verfüge, ihre Schulzeit in Österreich verbracht und die Schule positiv abgeschlossen habe. Im Übrigen sei Russisch (Tschetschenisch) für die BF eine Fremdsprache, sie spreche akzentfrei Deutsch, trage kein Kopftuch und sei sehr tolerant gegenüber Andersdenkenden. Sie interessiere sich für die ehrenamtliche Arbeit und helfe anderen. Es gäbe zahlreiche Befürworter für einen Verbleib der BF in Österreich und lebe sie unbescholten seit über 10 Jahren in Österreich. Die BF beantragte, das BVwG möge 1.) den hier angefochtenen Bescheid der Erstbehörde abändern, dass dem Antrag in Spruchpunkt I. auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Folge gegeben und ihr ein Aufenthaltsrecht in Österreich zugesprochen werde; 2.) in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt I. beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die I. Instanz zurückweisen; 3.) allenfalls die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG aufheben und; 4.) die Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 FPG aufheben; 5.) jedenfalls wenn notwendig die aufschiebende Wirkung aussprechen; 6.) sollte Punkt 1. und 2. nicht entsprochen werden, jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG anberaumen und 7.) umgehend alle hinterlegten russischen Dokumente aushändigen, damit die BF damit einen Reisepass bei der russischen Botschaft erlangen könne.
Mit der Beschwerde wurde eine Bestätigung vom 23.04.2018 über die Absolvierung eines Praktikums der BF in einer Schneiderei vorgelegt.
1.13. Die Beschwerdevorlage vom 02.05.2018 und der Verwaltungsakt langten beim Bundesverwaltungsgericht am 04.05.2018 ein.
1.14. Über die gestellten Anträge der Eltern und Geschwister der BF gemäß § 55 AsylG wurde mit Erkenntnissen des BVwG vom 25.02.2019, GZ XXXX , XXXX , XXXX und XXXX rechtskräftig negativ entschieden.
1.15. Mit Schriftsatz vom 27.04.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerdeführerin aktuelle Feststellungen zur Situation in ihrem Herkunftsstaat (Länderinformationsblatt Russische Föderation, Gesamtaktualisierung vom 30.09.2019, letzte Kurzinfo vom 03.12.2019) und wurde ihr Gelegenheit eingeräumt, dazu innerhalb von 10 Tagen hg. einlangend Stellung zu nehmen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführerin die Ladung für die am 26.05.2020 anberaumte mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übermittelt. Die BF gab keine Stellungnahme ab.
1.16. Am 26.05.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter der Beiziehung eines der Beschwerdeführerin einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die tschetschenische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu welcher die Beschwerdeführerin ordnungsgemäß geladen wurde und an welcher diese auch teilnahm. Im Rahmen dessen wurde das neue Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation, Gesamtaktualisierung 27.03.2020, eingebracht und eine 10-tägige Stellungnahmefrist dazu eingeräumt.
Die Niederschrift lautet auszugsweise:
„[…] RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat zuletzt aufgehalten haben.
BF (auf Deutsch): Mein Name ist XXXX , ich bin 23 Jahre alt. Ich habe mich vor meiner Ausreise in XXXX aufgehalten.
Die BF möchte auf die Übersetzung verzichten und auf Deutsch antworten.
RI: (mit Übersetzung) Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Tschetschenin. Ich spreche Tschetschenisch.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?
BF (auf Deutsch): Ich bin sunnitische Muslima.
RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?
BF (auf Deutsch): Ich habe keine.
RI: Besitzen Sie einen gültigen Reisepass?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Welche Sprachen sprechen Sie?
BF (auf Deutsch): Tschetschenisch und Deutsch.
RI: Mit wieviel Jahren sind sie nach Österreich gekommen?
BF (auf Deutsch): Als ich 11 Jahre alt war.
RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Welche Schulausbildung haben Sie abgeschlossen? Welchen Beruf haben Sie gelernt und welchen Beruf haben Sie ausgeübt? Gemeint ist sowohl im Herkunftsstaat, als auch im Bundesgebiet. Ich ersuche Sie um eine genaue Übersicht über ihre bisherige Ausbildung.
BF (auf Deutsch). In Tschetschenien habe ich zweieinhalb Jahre eine Schule besucht. Als ich hergekommen bin, habe ich die 1. Klasse Hauptschule besucht. Ich war nur zwei, drei Monate dort, dann habe ich mir die Hand gebrochen und konnte nicht zur Schule gehen. Dann sind wir von XXXX umgezogen und dort habe ich ein halbes Jahr die Schule besucht. Dann sind wir wieder umgezogen, nach Amstetten. Da war ich zwei Jahre in der Hauptschule und dann sind wir nach Deutschland gefahren.
RI: Wann sind Sie nach Deutschland gefahren?
BF (auf Deutsch): 2013. Wir haben ca. acht oder neun Monate in Deutschland gelebt, dann wurden wir hergebracht. Wir haben hier in Wien gelebt für ein paar Monate. Dann sind wir nach XXXX umgezogen. Dort bin ich zur polytechnischen Schule gegangen für ein halbes Jahr. Danach bin ich auf die Handelsschule gegangen für zwei Jahre.
RI: Haben Sie irgendeine Schule abgeschlossen?
BF (auf Deutsch): Nein, wir sind immer umgezogen. Nachdem ich aus der Handelsschule weg war, war ich ein Jahr zuhause und habe nichts gemacht. Dann bin ich nach Wien gekommen und habe immer meine Verwandten besucht. Ich bin dann zur Tante gekommen zu Besuch und sie hat mir jedesmal vieles beigebracht, z.B. Kleider zu schneiden. Sie hat ein eigenes Geschäft. Sie hat mir alles beigebracht, ich habe auch eine Einstellungszusage. Letztes Jahr habe ich das BFI besucht für ein Jahr in XXXX , damit ich den Pflichtschulabschluss nachholen kann. Ich habe im Februar angefangen und im Februar hat es geendet. Ich habe kein Zeugnis, weil noch eine Prüfung fehlt, die nachzumachen wäre. Das ist in Deutsch.
RI: Wann können Sie diese nachmachen?
BF (auf Deutsch): Sobald ich die Möglichkeit habe.
RI: Das heißt, wenn Sie die Prüfung geschafft haben, haben Sie den Pflichtschulabschluss?
BF (auf Deutsch): Ja.
RI: Haben Sie einen Beleg darüber?
BFV legt vor, eine Teilnahmebestätigung des BFI XXXX vom 25.05.2020 betreffend die Teilnahme der BF an der Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ vom 18.02.2019 bis zum 12.02.2020. Des Weiteren ein Jahres- und Abschlusszeugnis der Polytechnischen Schule XXXX Schuljahr 2013/14. Des Weiteren zwei Unterstützungsschreiben und ein Schreiben der ARGE Rechtsberatung vom 25.05.2020 betreffend das gegenständliche Verfahren. Diese werden in Kopie zum Akt genommen.
RI: Bezüglich des Pflichtschulabschlusses: Haben Sie einen Beleg oder ein Zeugnis, dass Sie alle Prüfungen bestanden haben, bis auf die Deutschprüfung?
BF (auf Deutsch): Nein, ich habe nichts.
RI: Die BF wird aufgefordert ein Schreiben des BFI nachzubringen, aus welchem hervorgeht, dass sie hinsichtlich ihres angestrebten Pflichtschulabschlusses alle Fächer, bis auf Deutsch, bereits positiv abgeschlossen hat sowie eine Bestätigung, dass sie zur Prüfung Deutsch noch einmal antreten kann und im Falle eines positiven Ablegens dieses Faches, den Pflichtschulabschluss in Österreich erhält.
BF (auf Deutsch): Diese Prüfung wird in der Schule gemacht, nicht beim BFI. Ich werde heute nachfragen.
Die BF wird aufgefordert, die Bestätigung binnen 10 Tagen vorzulegen.
RI: Haben Sie eine sonstige Ausbildung oder Fortbildung oder Weiterbildung in Österreich gemacht?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Haben Sie sich außer an dem von Ihnen angegebenen, letzten Wohnort in der Russischen Föderation auch an einem anderen Wohnort längere Zeit aufgehalten?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in Russischen Föderation und in welcher Stadt?
BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht.
RI: Sie wissen nicht, ob Sie Verwandte in der russischen Föderation haben?
BF (auf Deutsch): Ich habe Großeltern.
RI: Das sind ja Verwandte. Wo wohnen die?
BF (auf Deutsch): In XXXX .
RI: Haben Sie sonst noch Verwandte in der russischen Föderation?
BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht. Ich habe nur Kontakt zu den Großeltern.
RI: Wie oft haben Sie Kontakt zu Ihren Verwandten in der Russischen Föderation und wie treten Sie in Kontakt?
BF (auf Deutsch): Ich würde sagen einmal in einem halben Jahr über das Internet.
RI: Wovon leben Ihre im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten?
BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht.
RI: Ist Ihre Familie im Herkunftsstaat im Besitz von Häusern oder Wohnungen?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht.
RI: Haben Sie Verwandte, die außerhalb Russischen Föderation leben und haben Sie Kontakt zu diesen?
BF (auf Deutsch): Hier habe ich einen Onkel in Wien und zwei Tanten.
RI: Welchen Aufenthaltsstatus haben diese?
BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass meine Tante die Staatsbürgerschaft hat und bei den anderen beiden, glaube ich, dass sie ein Visum haben.
RI: Wie lange leben Ihre Verwandten, also Onkel und zwei Tanten, in Wien?
BF (auf Deutsch): Länger als wir.
RI: Sind Sie verheiratet oder haben Sie einen Lebensgefährten oder Freund?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Wie bestreitet Sie in Österreich Ihren Lebensunterhalt?
BF (auf Deutsch): Von dem Geld, das ich jeden Monat von Caritas bekomme.
RI: Wo wohnen Sie zur Zeit?
BF (auf Deutsch): In der XXXX .
RI: Laut aktuellen ZMR-Auszug waren Sie seit 28.02.2020 in Wien bei der Fremdenpolizei gemeldet. Haben Sie davor auch einen Wohnsitz in Wien gehabt und seit wann?
BF (auf Deutsch): Wir haben davor in der XXXX gelebt. Ich habe meine Tante immer nur in Wien besucht. Ich habe aber in der XXXX gelebt.
RI: Wann sind Sie nach Österreich gekommen und was war der Grund ihrer Reise nach Österreich?
BF (auf Deutsch): Ich war klein, ich weiß nicht. Ich kann mich sehr schwach erinnern. Ich kann mich nicht an das Jahr erinnern.
RI: Sie haben drei Asylanträge in Österreich gestellt, welche alle drei rechtskräftig negativ entschieden worden sind. Wieso sind Sie Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen und im Bundesgebiet unrechtmäßig verblieben?
BF (auf Deutsch): Ich habe keine Antwort dazu, weil das haben meine Eltern für mich entschieden.
RI: Sind Sie in Österreich zu irgendeinem Zeitpunkt einer geregelten Arbeit nachgegangen?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Sind Sie seit Ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation in 2008 wieder einmal in der Russischen Föderation gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Haben Sie seit Ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation in 2008 Besuch von Ihrer in der Russischen Föderation lebenden Verwandten in Österreich erhalten?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?
BF (auf Deutsch): Was mir richtig Angst macht, ist Zwangsheirat. Wenn ich zurückkehre, darf ich mich nicht entscheiden, wen oder ob ich heirate. Ich werde nicht gefragt.
RI: Haben Sie Angst, dass Sie von Ihren Eltern zwangsverheiratet werden?
BF (auf Deutsch): Sie werden nicht gegen mich sein. Ich habe Angst, dass ich von den Leuten gezwungen werde.
RI: Wenn Ihre Eltern nicht mitmachen, dann gibt es keine Zwangsverheiratung oder? Wer könnte Sie denn zwangsverheiraten?
BF (auf Deutsch): Die Gesellschaft.
RI: Was befürchten Sie sonst noch bei einer Rückkehr?
BF (auf Deutsch): Meine Zukunft. Ich habe hier ein sichereres Leben als dort. Wie gesagt, die würden mich zwingen zu heiraten. Ich hätte keine Rechte für mich. Hier habe ich Rechte.
RI: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor?
BF (auf Deutsch): Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich gleich anfangen die Schneiderlehre zu machen.
RI: Bei wem könnten Sie die Schneiderlehre machen?
BF (auf Deutsch): Bei meiner Tante.
RI: Ist Ihre Tante ausgebildete Schneidermeisterin?
BF (auf Deutsch): Ja.
RI: Hat Ihre Tante irgendwelche anderen Lehrlinge?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Das heißt, Sie möchten in Österreich als Schneiderin arbeiten?
BF (auf Deutsch): Ja.
RI: Haben Sie sich bei offizieller Stelle bereits erkundigt, welche Voraussetzungen Sie für diese Arbeit in Österreich mitbringen müssen?
BF (auf Deutsch): Nein, ich habe mich nicht erkundigt.
RI: Sind Sie in Österreich einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Haben Sie in Österreich Deutschkurse besucht? Wenn ja, welches Niveau haben Sie abgeschlossen?
BF (auf Deutsch): Nein, ich habe gleich die Schule angefangen.
RI: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder einem Klub in Österreich?
BF (auf Deutsch): Nein, aber ich würde gerne.
RI: Wo würden Sie gerne dabei sein?
BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht, ob es sowas gibt, aber ich würde gerne etwas mit Computern machen. Ich würde mich gerne fortbilden.
RI: Was hat Sie bis jetzt davon abgehalten, sich am Computer fortzubilden?
BF (auf Deutsch). Egal wohin wir gezogen sind, wir waren immer in einer kleinen Stadt und da hat es Computerklubs nicht gegeben.
RI: Haben Sie österreichische Freunde?
BF (auf Deutsch): Ja. Ich bin schon lange hier. Ich habe sehr viele verschiedene Menschen kennengelernt, aus verschiedenen Ländern. Die meisten habe ich in der Schule kennengelernt.
RI: Wo befinden sich zur Zeit Ihre Eltern und Ihre Geschwister?
BF (auf Deutsch): Meine Mutter und mein kleiner Bruder sind mit mir in einer Klasse. Der große Bruder wohnt beim Onkel. Vom Vater habe ich nichts gehört. Ich weiß nicht, wo er ist.
RI: Ist er unbekannten Aufenthalts?
BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht.
RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich in Ihrem Familienverband?
BF (auf Deutsch): Wir mischen die zwei Sprachen Deutsch und Tschetschenisch.
RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?
BF (auf Deutsch): Ja.
RI: Nehmen Sie Medikamente?
BF (auf Deutsch): Nur für meine Haut.
RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?
BF (auf Deutsch): Nein.
RI: Sind Sie arbeitsfähig?
BF (auf Deutsch): Ja.
RI: Sind im Rahmen ihres Privat- und Familienlebens wesentliche Veränderungen seit dem 27.10.2017, d.h. der rechtskräftig negativen Entscheidung ihres dritten Asylantrags, eingetreten? Wenn ja, welche Änderungen waren dies?
BF (auf Deutsch): Bei mir hat sich nur verändert, dass ich den Pflichtschulabschluss nachgeholt habe. Ich wollte es schon lange nachholen, aber ich hatte die Möglichkeit nicht. Ich wusste auch nicht, dass es ein BFI gibt. Des Weiteren hat mir meine Tante vieles übers Schneidern in ihrer Freizeit beigebracht. Sonst keine.
BF legt vor, eine Unterstützungserklärung einer ehemaligen Lehrerin aus XXXX . Diese wird zum Akt genommen.
Die Verhandlung wird um 09:20 Uhr unterbrochen und um 09:32 Uhr fortgesetzt.
RI an BFV: Haben Sie Fragen an die BF?
BFV: Zu Ihrem Vater besteht kein Kontakt mehr. Ist dieser untergetaucht?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht. Seit ich hier in der XXXX bin, habe ich keinen Kontakt.
RI: Weiß irgendjemand von Ihrer Familie, wo Ihr Vater ist?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es wirklich nicht, ich habe nicht nachgefragt.
BFV: Könnten Ihre Großeltern Sie in Tschetschenien unterstützen?
BF (auf Deutsch): Nein, diese sind zu alt.
BFV: Haben die Großeltern eine ähnliche Einstellung, wie Ihre Eltern oder sind diese traditionell?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht, aber wenn sie mit mir sprechen, sind sie normal.
BFV: Sie kleiden sich eher modern. Ist Ihnen das wichtig?
BF (auf Deutsch): Sehr. Ich will mich frei fühlen. Ich möchte nicht gezwungen werden.
BFV: Haben Sie für Ihre Zukunft als Schneiderin schon Skizzen gemacht?
BF (auf Deutsch): Ja, aber ich habe nichts dabei. Als wir in die XXXX gebracht worden sind, sind meine Sachen in der XXXX geblieben. Ich habe mich vorbereitet für die Verhandlung, aber ich habe die Skizzen nicht dabei.
BFV: Haben Sie hier in Wien ein paar Skizzen gemacht?
BF (auf Deutsch): Ja.
Die BF legt einen Collegeblock vor. Auf den vorgelegten Blättern sind vor allem Darstellungen von menschlichen Gesichtern, von Köpfen, auf einem Blatt befinden sich zwei Skizzen von Röcken.
BFV: Keine Fragen mehr, danke. […]“
1.17. Im Zuge der Beschwerdeverhandlung legte die Beschwerdeführerin ergänzend folgende Unterlagen vor:
? Unterstützungsschreiben von XXXX ., einer Freundin der BF;
? Jahres- und Abschlusszeugnis der Polytechnischen Schule XXXX , Schuljahr 2013/14;
? Beschwerdeseitige Stellungnahme zur Vorlage in der Verhandlung vom 25.05.2020;
? Bestätigungsschreiben des BFI XXXX vom 25.05.2020;
? Unterstützungsschreiben der Diplompädagogin XXXX ;
? Unterstützungsschreiben vom 20.05.2020 der XXXX (Lehrerin des BFI XXXX );
1.18. Mit Stellungnahme vom 04.06.2020 verwies die BF auf die § 55, 58 AsylG sowie § 9 Abs. 2 BFA-VG und brachte zusammenfassend vor, dass es seit der letzten Rückkehrentscheidung sehr wohl zu einer maßgeblichen Änderung des Sachverhaltes gekommen sei und die Behörde eine umfassende Interessenabwägung hätte vornehmen müssen. Dass keine neuerliche Einvernahme, trotz Vorliegen einer 3-jahre alten Rückehrentscheidung, durchgeführt wurde, stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Die Behörde hätte die lange Aufenthaltsdauer der BF entsprechend gewichten müssen und könne ihr nicht vorgeworfen werden, dass sie ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei, weil sie zum Zeitpunkt ihrer bisherigen Antragstellungen minderjährig gewesen sei. Die BF sei seit mittlerweile fast 12 Jahren in Österreich, sei hier aufgewachsen, habe hier die Schule besucht und Freundschaften geschlossen. Sie sei eine aufgeschlossene, moderne, westlich orientierte Frau, die kein Kopftuch trage und könne sie sich nicht vorstellen nach Tschetschenien zurückzukehren. Die BF habe mehrere Verwandte im Bundesgebiet, zu denen die Beziehung sehr eng sei, insbesondere zu ihrer Tante, bei der die BF eine Schneiderlehre machen dürfte. Als westlich orientierte, alleinstehende Frau würde sie als Rückkehrerin und ohne Unterstützungsmöglichkeit in eine aussichtslose Lage geraten. Sie würde der Gefahr ausgesetzt, Gewalt und Diskriminierung zu erfahren, sowie zwangsverheiratet zu werden. In dem Zusammenhang wird auf die Länderberichte in Bezug auf die allgemeine Menschenrechtssituation in Tschetschenien, der Frauen, der Rückkehrer und der Grundversorgung zitiert sowie auf die aktuelle COVID-19 Pandemie in der Russischen Föderation verwiesen. Nachgereicht wurde eine Bestätigung vom 02.06.2020 des BFI XXXX .
1.19. Mit verspätet eingelangter ergänzender Stellungnahme vom 11.06.2020 wurde auf zahlreiche VwGH Erkenntnisse verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG vom 23.01.2018, der Stellungnahmen von 23.02.2018, 25.05.2020, 04.06.2020 und 11.06.2020, der Beschwerde vom 26.04.2018 gegen den angefochtenen Bescheid vom 28.03.2018, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakte, der Einsichtnahme in die beschwerdeseitig vorgelegten Unterlagen, der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Ausländer- und Fremdeninformationssystem, das Strafregister und Grundversorgungssystem, sowie nach mündlicher Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 26.05.2020, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:
1.1. Zur Person der BF:
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, aus der Teilrepublik Tschetschenien und dem sunnitischen Glauben des Islam zugehörig. Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.
Die BF reiste am 13.10.2008, sohin als sie 11 Jahre alt war, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von Polen kommend, illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF ist bis dahin in Tschetschenien aufgewachsen, hat dort zweieinhalb Jahre die Schule besucht und lebte zuletzt in XXXX .
In der Russischen Föderation, in XXXX , leben noch die Großeltern der BF, mit denen sie zumindest einmal alle 6 Monate Kontakt hat.
Die BF stellte in Österreich insgesamt 3 Anträge auf internationalen Schutz, die allesamt rechtskräftig ab- bzw. zurückgewiesen wurden. Die BF befindet sich seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 13.10.2008, mit Ausnahme eines 9-monatigen Aufenthalts in Deutschland, durchgehend in Österreich.
Die Beschwerdeführerin spricht Tschetschenisch und sehr gut Deutsch. In Österreich hat sie unter anderem die Hauptschule, das Polytechnikum und die Handelsschule besucht. Aufgrund zahlreicher Umzüge, hat sie jedoch keine Schule abgeschlossen und besitzt keinen Pflichtschulabschluss. Von 18.02.2019 bis 12.02.2020 hat sie an der Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ des BFI XXXX teilgenommen und fehlt ihr zur Erlangung des Pflichtschulabschlusses lediglich eine Deutschprüfung. Alle anderen Prüfungen hat sie bereits positiv absolviert. Im April 2018 hat die BF ein Praktikum in einer Schneiderei absolviert und verfügt sie über eine Einstellungszusage in besagter Schneiderei. Die BF befindet sich in Grundversorgung.
Im Bundesgebiet hat die BF mehrere Angehörige oder Verwandte in den Personen ihrer Mutter, eines minderjährigen, sowie eines volljährigen Bruders, zweier Tanten und eines Onkels. Mit ihrem minderjährigen Bruder und ihrer Mutter lebt sie im gemeinsamen Haushalt in einem Quartier der Fremdenpolizei. Sie verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet.
Die BF leidet an keinen schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist gesund sowie arbeitsfähig.
Die BF ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Lage in der Russischen Föderation:
1.2.1. Auszug aus dem Informationsblatt der Staatendokumentation vom 27.03.2020;
„Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).
Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
[…]
Tschetschenien
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür
des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
[…]
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
[…]
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
[…]
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
[…]
Folter und unmenschliche Behandlung
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019, vgl. EASO 3.2017).
Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 22.2.2018, vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019, vgl. US DOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der