TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/17 W237 2209433-1

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Veröffentlicht am 17.08.2020
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Entscheidungsdatum

17.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §53 Abs3 Z4
FPG §53 Abs3 Z6
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W237 2209433-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin WERNER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2018, Zl. 732871806-160587397, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.06.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis V. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 7 Abs. 1 Z 1 und § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005, § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, § 57 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und § 52 Abs. 2 Z 3 FPG sowie § 52 Abs. 9 iVm § 46 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe stattgegeben, dass gemäß § 55 Abs. 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise bis zum 30.09.2020 festgesetzt wird.

III. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbots gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, 4 und 6 FPG auf vier Jahre herabgesetzt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers von Amts wegen ein Verfahren zur Aberkennung des ihm zukommenden Status des Asylberechtigten ein. Nach seiner Haftentlassung fand am 28.05.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Einvernahme mit dem Beschwerdeführer statt.

Mit Bescheid vom 08.10.2018 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 05.04.2005 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte es dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß „§ 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005“ iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß „§ 52 Abs. 2 Z 1 FPG“ (Spruchpunkt IV.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm § 46 FPG die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation fest (Spruchpunkt V.), legte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.) und erließ schließlich gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegenüber dem Beschwerdeführer ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 07.11.2018 über seinen zur Vertretung im Beschwerdeverfahren bevollmächtigten Rechtsberater vollinhaltlich Beschwerde.

2.1. Der Beschwerdeschriftsatz wurde samt Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht am 12.11.2018 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt.

2.2. Am 30.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung mit dem Beschwerdeführer, seiner Rechtsberaterin sowie seiner als Zeugin einvernommenen Tochter statt, in der der Beschwerdeführer zu den maßgeblichen Sachverhaltsaspekten näher befragt wurde.

2.3. Mit Schreiben vom 14.07.2020 erstattete der Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme, in der er auch um eine Fristerstreckung von einer Woche ersuchte, um einen Befundbericht zu seinem psychischen Gesundheitszustand vorzulegen. Bis zum Entscheidungszeitpunkt langte keine weitere Eingabe beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er wuchs in Tschetschenien auf, beherrscht die russische und tschetschenische Sprache und besuchte in Grosny zehn Jahre die Grund- und Hauptschule. Danach absolvierte er eine polytechnische Schule und wurde 1994 auch als Sanitätshelfer ausgebildet. Da er in seiner Jugend sportlich war, absolvierte er auf eigenes Betreiben hin nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens ein militärisches Training und schloss sich zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt einem Sonderkommando der tschetschenischen Sicherheitsbehörden an. Innerhalb dieses Sonderkommandos war der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt in einer führenden Position tätig, bekam aber in den beiden Tschetschenienkriegen Kriegsverbrechen mit, die er heute verdrängt und über welche er nicht näher sprechen möchte. Nähere Details zu diesem Sonderkommando und den Aktivitäten des Beschwerdeführers darin sind unbekannt.

Von Jänner 1997 bis August 1999 war der Beschwerdeführer in Tschetschenien als LKW-Fahrer und im Bauhandel tätig. Am 15.05.2002 wurde er im Rahmen einer Überprüfung mitgenommen, weil russische Soldaten bei ihm einen alten Passierschein fanden. Sein Bruder kaufte ihn am nächsten Tag frei. Zwei Wochen später wurde der Beschwerdeführer im Rahmen einer Kontrolle eines Busses angehalten, weil er im Besitz eines neuen Passes war. Nach sofortiger Zahlung von 2.000,– US-$ konnte er seinen Weg fortsetzen. Am 29.11.2002 wurde er schließlich für drei Tage festgenommen, dabei geschlagen und schließlich von seinen Verwandten wiederum freigekauft. Sein Neffe, dem das Gleiche nur wenige Tage später widerfuhr, wurde tot aufgefunden.

1.2. Im Dezember 2012 reiste er mit seiner damaligen Ehefrau aus Tschetschenien aus und gelangte über Weißrussland nach Polen, wo er einen Asylantrag stellte. Er reiste einige Monate später nach Tschechien und suchte dort ebenfalls um Asyl an. Sein dortiges Asylverfahren nicht abwartend reiste er am 20.09.2003 mit seiner Frau und seiner zwischenzeitig geborenen Tochter nach Österreich ein. Seinem hier ebenso gestellten Asylantrag wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 05.04.2005 in Bezug auf seine wiederholten Anhaltungen in Tschetschenien Folge geben und dem Beschwerdeführer Asyl gewährt.

1.3. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter lebte er im Besitz wiederholt ausgestellter Konventionsreisepässe fortan zunächst in Kärnten und ab Sommer 2005 in Wien. Er besuchte Deutschkurse und machte von 2006 bis 2008 eine Facharbeiterausbildung zum Maschinenbauer und Wartungstechniker, die er allerdings mangels Ableistung der Fachprüfung nicht abschloss. Zudem absolvierte er eine durch die Arbeiterkammer Niederösterreich angebotene Grundausbildung zur Sicherheitsvertrauensperson im Jahr 2007, besuchte einen Kurs zum Gefahrgutlenker im Jahr 2010 und machte im Jahr 2011 den Computerführerschein ECDL. In den Jahren 2008 bis 2012 und 2014 war der Beschwerdeführer jeweils für wenige Monate bei unterschiedlichen Arbeitgebern in Ostösterreich als Monteur, LKW-Fahrer, Lieferant, Chauffeur, Marktfahrer und Arbeiter beschäftigt. Weiters war der Beschwerdeführer bei einem Christkindlmarkt Verkäufer und arbeitete ebenso im Prater, wo er drei Eisstände betrieb. Zwischen seinen Beschäftigungen lagen Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Im September 2013 wurde die Ehe des Beschwerdeführers mit seiner Frau im Einvernehmen geschieden. Die gemeinsame Obsorge für die Tochter des Beschwerdeführers blieb aufrecht, wobei diese in weiterer Folge im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter lebte und der Beschwerdeführer sie an drei Nachmittagen in der Woche besuchen durfte. Der Beschwerdeführer leistete in der Folge bis zum heutigen Tag einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 50,– Euro.

1.4. Der Beschwerdeführer wurde im Bundesgebiet wiederholt straffällig:

1.4.1. Spätestens im August 2015 fasste der damals Arbeitslosenunterstützung in der Höhe von XXXX ,– Euro beziehende Beschwerdeführer mit zwei weiteren Personen den Entschluss, sich durch die fortgesetzte Begehung von Schlepperei eine laufende Einnahme in der Größenordnung von mehr als 400,– Euro pro Monat und Person über einen längeren Zeitraum zu verschaffen. Zu diesem Zweck schlossen sich der Beschwerdeführer und seine Bekannten zusammen, um fortgesetzt Schlepperei, teils im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren Personen, zu begehen.

In Umsetzung dieses Entschlusses beförderte der Beschwerdeführer in der Nacht vom XXXX auf XXXX mit zumindest drei anderen Personen in (zumindest) einem zuvor angemieteten Kastenwagen mehrere nicht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union berechtigte Fremde von Ungarn nach Wien. Die gleiche Handlung wiederholte er in der darauffolgenden Nacht; weitere Male transportierte der Beschwerdeführer mit einem Kastenwagen Fremde von Ungarn nach Österreich in den Nächten vom XXXX . auf den XXXX , vom XXXX auf den XXXX sowie vom XXXX auf den XXXX , wobei in der letztgenannten Nacht die Schleppungsroute von Ungarn über die Slowakei nach Österreich führte.

Auch am XXXX beteiligte sich der Beschwerdeführer an einer Schleppung von zumindest 70 hauptsächlich syrischen Staatsangehörigen nach Österreich, indem diese in Ungarn aufgenommen und zu jeweils ungefähr 35 Personen in äußerst beengten und – mangels ausreichender Luftzufuhr und Sicherung – ihre Gesundheit gefährdenden Umständen auf den Ladeflächen von zwei zu diesem Zweck angemieteten Kastenwägen zusammengepfercht wurden. Die beiden Kastenwägen fuhren im Konvoi nach Österreich, wobei der Beschwerdeführer der Lenker eines der beiden war. Ein anderer Mittäter war der Lenker des zweiten Kastenwagens, der dritte (die Schleppungen führend organisierende) Mittäter fuhr in einem PKW voraus, um nach Polizeistreifen Ausschau zu halten. Der übermüdete Beschwerdeführer fuhr von Ungarn nach Österreich zumindest teilweise mit erhöhter Geschwindigkeit und unter häufigem abruptem Abbremsen, wodurch die auf der Ladefläche befindlichen Fremden keine stehende Position behalten konnten und aufeinander fielen. Auf Höhe der burgenländischen Ortschaft Nickelsdorf erhielt der Beschwerdeführer von seinem vorausfahrenden Bekannten die Nachricht von einer bevorstehenden Polizeikontrolle. Daraufhin bremste der Beschwerdeführer seinen Kastenwagen abrupt ab, um ein Wendemanöver einzuleiten. Dies hatte zur Folge, dass der unmittelbar hinter ihm fahrende Kastenwagen auf jenen des Beschwerdeführers auffuhr und diesen zum Umkippen brachte. Hiedurch verletzten sich zumindest 39 transportierte Fremde leicht, indem sie Prellungen, Stauchungen, Schürf- und Rissquetschwunden, Gehirnerschütterungen, eine Schulterauskegelung sowie eine Kniedehnung erlitten; drei Fremde wurden durch Frakturen im Hüftbereich, im Bereich des Jochbeinbogens, der Augenhöhle und des Schläfenbeins sowie einen Handgelenksbruch schwer verletzt. Der Beschwerdeführer und der Fahrer des anderen Kastenwagens ergriffen sofort die Flucht, ohne sich um die verletzten Personen zu kümmern.

Der Beschwerdeführer verübte diese Tathandlungen wissentlich und absichtlich, wobei die absichtliche Vorgangsweise sich auch darauf erstreckte, sich durch die fortgesetzte Begehung von Schleppungshandlungen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen. Der Beschwerdeführer wusste am XXXX auch, dass er in dem von ihm gelenkten, für den Personentransport im Bereich des Laderaumes nicht geeigneten Kastenwagen rund 35 Personen transportierte; als er sich von der Unfallstelle entfernte, wusste er weiters, dass durch den Verkehrsunfall eine Reihe von Personen verletzt worden waren.

Mit Urteil vom XXXX verurteilte das Landesgericht Eisenstadt den Beschwerdeführer aufgrund dieser Handlungen und Umstände wegen gewerbsmäßiger Schlepperei in einer kriminellen Vereinigung in Bezug auf mindestens drei Fremde unter qualvollen Zuständen nach § 114 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 bis 3 sowie Abs. 4 erster Fall FPG, fahrlässiger Körperverletzung nach § 88 Abs. 1, 3 und 4 StGB, Imstichlassens von Verletzten gemäß § 94 Abs. 1 StGB sowie fahrlässiger Gemeingefährdung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Gericht berücksichtigte den bisher ordentlichen Lebenswandel des Beschwerdeführers und sein Geständnis als mildernd, erschwerend jedoch das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen, die Tatwiederholungen und die Verletzung einer Vielzahl an Personen. Der Beschwerdeführer erhob kein Rechtsmittel gegen dieses Urteil.

1.4.2. Am XXXX verbarg der Beschwerdeführer in einer Filiale der Handelskette „Müller“ ein Parfum im Wert von 61,75 Euro und passierte damit ohne zu bezahlen den Kassenbereich. Da er von einem Ladendetektiv beobachtet wurde, wurde er von diesem sogleich angehalten. Am XXXX zog der Beschwerdeführer in einer Filiale der Modekette „Kleiderbauer“ eine Jacke im Wert von 149,– Euro unter seiner Oberbekleidung an und verließ damit den Geschäftsbereich. Diese Taten beging der Beschwerdeführer wissentlich und absichtlich.

In dem angeführten Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen dieser Handlungen auch wegen Diebstahls gemäß § 15 iVm § 127 StGB verurteilt.

1.4.3. Am XXXX befand sich der Beschwerdeführer in Wien in der Näher der U-Bahnstation Gumpendorferstraße und überließ dort einer anderen Person eine geringe Menge – verbotene Substanzen enthaltendes – Cannabiskraut zu einem Preis von 10,– Euro. Weiters verkaufte er einem verdeckten Ermittler ein Stück Substitol 200mg, das Morphinsulfat enthielt, zu einem Preis von 15,– Euro. Der Beschwerdeführer erwarb an diesem Tag zudem 21 Stück Morphinsulfat enthaltendes Substitol 200mg zum persönlichen Gebrauch.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilte den Beschwerdeführer deswegen mit Urteil vom XXXX wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 sowie Abs. 2a zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten, wobei davon sieben Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Das Gericht berücksichtigte das reumütige Geständnis des Beschwerdeführers und die Sicherstellung des Suchtgiftes als mildernd, erschwerend jedoch die Vorstrafe sowie die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit. Der Beschwerdeführer verzichtete auf ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil.

1.4.4. Der Beschwerdeführer war wegen der oben unter Pkt. II.1.4.1. angeführten Tathandlungen bereits am XXXX in Untersuchungshaft genommen worden; an diese schloss sich die mit Urteil vom XXXX ausgesprochene Strafhaft an, aus welcher der Beschwerdeführer durch Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom XXXX am XXXX nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit – auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt – entlassen wurde. Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom XXXX wurde die Probezeit auf fünf Jahre verlängert und dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt, sich einer ambulanten Suchtgifttherapie zu unterziehen. Wegen der unter Pkt. II.1.4.3. angeführten Tathandlungen befand sich der Beschwerdeführer ab XXXX für drei Monate in Strafhaft.

1.4.5. Hinsichtlich der angeführten Strafhandlungen verantwortet sich der Beschwerdeführer heute dahingehend, dass er bestreitet, an den Schleppungen vor dem XXXX teilgenommen oder davon gewusst zu haben; er sei zu den Vorfallszeitpunkten in Klagenfurt gewesen. Am XXXX habe ihn ein Bekannter darum gebeten, ihm bei dem Umzug seiner Familie aus Ungarn behilflich zu sein; zwar seien die beiden Kastenwägen auf den Namen des Beschwerdeführers angemeldet gewesen, doch habe er nicht gewusst, dass er Personen darin transportieren würde. Er habe bei einer Tankstelle mit einem der Autos gewartet, bis sein Bekannter gekommen und mit dem Auto weggefahren sei. Als er mit dem Kastenwagen wieder erschienen sei, habe der Beschwerdeführer die Schlüssel übernommen und sich – ohne zu wissen, dass hinten auf der Ladefläche 35 Menschen seien – ans Steuer gesetzt. Erst als er Menschen laut sprechen habe hören, habe er sofort angehalten und seinen vorausfahrenden Bekannten zur Rede gestellt. Dieser habe ihn somit in die Schleppersituation gelockt. Da die Kastenwägen aber auf den Namen des Beschwerdeführers angemeldet gewesen seien, habe er sich entschlossen, möglichst rasch nach Wien zu fahren, worauf es in Nickelsdorf zu dem Unfall gekommen sei. Dies sei ein „Blödsinn“ und damit seine Schuld gewesen. Allerdings sei bis auf ein zwölfjähriges Mädchen, das sich zwei Zähne ausgeschlagen habe, niemand verletzt worden.

Der Beschwerdeführer bestreitet weiters die beiden Diebstähle am XXXX und am XXXX : Beim Vorfall in der „Müller“-Filiale habe er nur eine leere Parfumflasche in der Hand gehabt. Jemand sei zu ihm gekommen und habe ihm vorgeworfen, einen Diebstahl zu begehen. Diese Person habe auch 200,– Euro verlangt, damit keine Anzeige erstattet werde. Der Beschwerdeführer habe erwidert, selbst zur Polizei gehen zu wollen; dort sei er allerdings falsch bezichtigt worden. Dies sei auch beim angeblichen Jackendiebstahl der Fall gewesen: Damals habe ihn ein Verkäufer hereingelegt, der eine Sicherheitsmarke neben ihn platziert und dem Beschwerdeführer den Diebstahl einer Jacke vorgeworfen habe, die dieser bereits einige Wochen zuvor gekauft habe. Der Beschwerdeführer wusste in der Verhandlung vom 30.06.2020 nicht, dass er deshalb mit Urteil vom XXXX wegen Diebstahls ebenso verurteilt wurde.

Der Beschwerdeführer gibt zu, die ihm im Urteil vom XXXX vorgeworfenen Drogendelikte begangen zu haben, und zeigt sich diesbezüglich reuig. Er habe kein Geld mehr gehabt und im Verkauf von Drogen seinen einzigen Ausweg gesehen.

1.5. Der Beschwerdeführer leidet unter Rückenschmerzen infolge abgenutzter Bandscheiben bei zwei Rückenwirbeln. Er hat häufige Kopfschmerzen, die er auf eine Bombenexplosion im Jahr 1996 in Tschetschenien zurückführt. Die Leber des Beschwerdeführers ist stark vergrößert, eine nähere ärztliche Diagnose steht noch aus. Der Beschwerdeführer leidet unter Hepatitis C und schloss eine diesbezügliche Medikamententherapie ab; derzeit werden alle zwei Monate seine Leber- und Blutwerte gemessen. Weiters ist der Beschwerdeführer zumindest seit dem Zeitraum seiner ersten Strafhaft opiatabhängig und absolviert eine Substitutionstherapie. Er nahm in den vergangenen Monaten Methadon und reduzierte die Dosis schrittweise; im Laufe des Augusts 2020 plant der Beschwerdeführer, das Substitutionsmittel nicht mehr einzunehmen. Er hält sich an die gerichtlich vorgesehene Suchtgifttherapie und steht mit seiner Betreuerin jeden Donnerstag in Kontakt. Schließlich leidet der Beschwerdeführer auch an Nierensteinen; eine entsprechende Behandlung war bislang aufgrund der Behandlungseinschränkungen zwecks Vermeidung von Sars-CoV-2 noch nicht möglich. Mit Ausnahme der Einnahme von Medikamenten ist der Beschwerdeführer durch die angeführten Erkrankungen nur wenig eingeschränkt.

1.6. Seit seiner Haftentlassung Ende Jänner 2018 lebt der Beschwerdeführer allein. Derzeit wohnt er in einer Übergangswohnung des Projekts „Obdach Gänsbachergasse“ des Fonds Soziales Wien. Er war zuletzt zumindest im Juli und August 2018 in einer Fahrradwerkstatt des Vereins Neustart geringfügig beschäftigt; derzeit bezieht er Notstandshilfe. Der Beschwerdeführer wohnte seit seiner Verhaftung im Jänner 2016 nicht mehr mit seiner Tochter im gemeinsamen Haushalt; seine Ex-Frau sieht er nur mehr selten.

Die Tochter des Beschwerdeführers ist 17 Jahre alt und besucht ein Abendgymnasium, in welchem sie nächstes Jahr zur Matura antreten wird. Nebenbei arbeitet sie als Kellnerin und veranstaltet für die International Organisation for Migration Workshops an Schulen im Bereich Radikalisierungsprävention und Anti-Diskriminierung. Nach der Matura beabsichtigt sie die Aufnahme des Studiums der Rechtswissenschaften. Sie und ihre Mutter stellten einen Antrag auf Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft. Den Beschwerdeführer sieht sie zumindest ein- oder zweimal pro Monat, manchmal jede Woche bei Verwandten. Als ihr Vater zwei Jahre inhaftiert war, besuchte seine Tochter ihn für gewöhnlich jeden Freitag, manchmal aber nur zweimal im Monat. Die Inhaftierung ihres Vaters war für die Tochter des Beschwerdeführers psychisch belastend und beeinträchtigte ihren Schulerfolg. Von seiner Suchtmittelabhängigkeit weiß die Tochter Bescheid. Für den Beschwerdeführer ist das Zusammenleben mit seiner Tochter ein wesentlicher Ansporn für seine Bemühungen, seine Drogenabhängigkeit zu überwinden. Umgekehrt stellt der Beschwerdeführer für seine Tochter eine bedeutende elterliche Stütze dar, welche die Erziehung durch ihre (im gemeinsamen Haushalt lebende) Mutter ergänzt.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache fließend und im Wesentlichen uneingeschränkt verständlich. Er ist bestrebt, in Österreich sein weiteres Leben zu verbringen und für seine Tochter da sein zu können; er möchte seine Arbeit bei einem näher genannten Abfallunternehmen, für welches er vor mehreren Jahren bereits arbeitete, wieder aufnehmen.

In Österreich lebt die Schwester des Beschwerdeführers, die ihn zeitweise finanziell unterstützt. Weiters wohnen ein Cousin, die Nichte sowie eine Tante des Beschwerdeführers im Bundesgebiet; zu diesen Verwandten hat der Beschwerdeführer hin und wieder, allerdings nicht regelmäßig Kontakt. Er hat zudem fünf bis sechs österreichische Freunde, die er mangels zeitlicher Verfügbarkeit aber ebenso nicht übermäßig häufig sieht.

Die Mutter des Beschwerdeführers ist 76 oder 77 Jahre alt, bezieht eine staatliche Pension und wohnt in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Sie leidet unter altersbedingten Erkrankungen, darunter Gallensteinen und Leberproblemen. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt in der russischen Stadt Rostow am Don und hat vier erwachsene Kinder; eine Tochter wohnt in der Schweiz. Sie ist Bäuerin und betreibt mit ihrem Mann eine Land- und Viehwirtschaft. Der Beschwerdeführer steht in laufendem Kontakt mit seiner Schwester und telefoniert etwa ein- bis zweimal pro Woche mit ihr. Der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers sind bereits verstorben.

1.7. Zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

-        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

-        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

-        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

-        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

-        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die rus

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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