Entscheidungsdatum
18.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W110 2212820-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger der tadschikischen Volksgruppe, stellte nach illegaler Einreise am 05.02.2016 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der am Tag nach der Antragstellung durchgeführten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer als Fluchtgrund an, dass die Taliban in seinem Heimatgebiet mehrmals wöchentlich aufgetaucht seien und junge Männer zwangsrekrutiert hätten. Um nicht in Kämpfe hineingezogen zu werden, habe der Beschwerdeführer flüchten müssen. Es sei zu unsicher, in seiner Heimat zu leben.
2. Mit Bescheid vom 01.07.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag – ohne in die Sache einzutreten – als unzulässig zurück, erklärte zur Prüfung des Antrages Kroatien für zuständig und die Abschiebung des Beschwerdeführers dorthin für zulässig, um schließlich die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers anzuordnen.
Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 21.07.2016 statt und behob den bekämpften Bescheid wegen diverser Verfahrensfehler.
3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 03.12.2018 nannte der Beschwerdeführer als Fluchtgrund den Umstand, dass er mit circa zwölf Jahren alleine von Mazar-e Sharif nach Kabul gezogen und dort einer Person begegnet sei, die ihn einem Kommandanten übergeben habe, dem der Beschwerdeführer drei Jahre lang gedient habe. Der Kommandant, für den der Beschwerdeführer auch auf Partys tanzen haben müssen, habe ihn wiederholt vergewaltigt. Schließlich sei der Beschwerdeführer vom Kommandanten nach Ghazni mitgenommen worden, wo der Beschwerdeführer sechs Monate lang „beim Heer“ ausgebildet worden sei. Anlässlich der Beschaffung des Essensbedarfs für die Soldaten sei es ihm bei einer Tankstelle gelungen zu flüchten. Befragt nach den Verwandtschaftsverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass seine Eltern sowie seine Schwester bereits während des Bürgerkrieges ums Leben gekommen seien. Vor seiner Übersiedlung nach Kabul habe er bei einem Onkel, der ihn nicht gut behandelt habe, gelebt.
4. Mit Bescheid vom XXXX wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als nunmehr belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I 100 idF BGBl. I 145/2017 (im Folgenden: AsylG 2005), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I. und II.). In Spruchpunkt III. wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg. cit. nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV). nach Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle traf die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung Länderfeststellungen zur allgemeinen Situation in Afghanistan und stellte die Nationalität und Volksgruppenzugehörigkeit, nicht jedoch die Identität des Beschwerdeführers fest. Die vorgebrachten Fluchtgründe erachtete die belangte Behörde als unglaubwürdig und begründete dies im Rahmen ihrer Beweiswürdigung u.a. damit, dass der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme gänzlich andere Fluchtgründe genannt habe, als er in seiner Erstbefragung angegeben habe. Zudem seien die Ausführungen des Beschwerdeführers unplausibel, wenig detailgetreu und auch nicht nachvollziehbar gewesen. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer lediglich aufgrund besserer Bildungsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Chancen nach Europa gereist sei.
Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater für eine allfällige Beschwerdeerhebung zur Seite gestellt.
5. Gegen diesen Bescheid richtete sich die vorliegende, rechtzeitig erhobene und zulässige Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften. In den Beschwerdegründen wurde u.a. ausgeführt, dass – entgegen dem Einvernahmeprotokoll, demzufolge der Beschwerdeführer gesund sei und keine Medikamente einnehme – sich der Beschwerdeführer in psychiatrischer Behandlung befinde und regelmäßig Medikamente einnehme. Bei der Protokollierung während der Einvernahme sei ein Missverständnis aufgekommen: Der Beschwerdeführer sei nicht gesund und leide vielmehr an massiven psychischen Problemen, was von der belangten Behörde berücksichtigt hätte werden müssen. Überdies sei notorisch, dass Personen mit ähnlichen Erlebnissen, wie der Beschwerdeführer, traumatisiert seien, dies – so die Beschwerdeausführungen – wirke sich auf das Aussageverhalten aus und sei im gesamten Verfahren zu berücksichtigen. Tanzjungen, wie es der Beschwerdeführer gewesen sei, wären in Afghanistan ein Leben lang stigmatisiert und könnten wegen des Vorwurfs der Homosexualität getötet werden.
6. Am 09.01.2019 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vorgelegt.
Am 3.7.2020 fand im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an welcher der Beschwerdeführer und ein Beschwerdevertreter sowie ein Dolmetscher für Dari teilnahmen. Die belangte Behörde war zur Verhandlung nicht erschienen. Im Zuge der Verhandlung wurden die Fluchtgründe sowie alle weiteren entscheidungsrelevanten Aspekte umfassend erörtert. Zur Vorlage weiterer Beweismittel wurde dem Beschwerdeführer eine Frist von zwei Wochen gewährt.
Mit Schriftsatz vom 17.7.2020 legte der Beschwerdeführer mit einem USB-Stick das Video, das ihn bei einer Veranstaltung beim Tanz zeigt, sowie zum Beweis seiner psychiatrischen Behandlung eine Medikamentenliste vor, die er von einer Fachärztin für Psychiatrie (auf seinen Namen lautend) erhalten hatte. Weiters berief sich der Beschwerdeführer auf einige Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema „Tanzjungen“, die er ausführlich zitierte.
7. Beweis wurde erhoben durch die Einvernahmen des Beschwerdeführers, Einsichtnahme in den Inhalt des Verwaltungsaktes, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen (wie insbesondere in den Videomitschnitt, der den Beschwerdeführer als „Tanzjungen“ zeigt) sowie in eine Zusammenfassung verschiedener Länderberichte über die allgemeine Situation in Afghanistan.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Folgender Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur Situation in Afghanistan:
1.1.1. Allgemeines
Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 5).
Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen unterzeichnet, das den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt. Derweil gab es am 10.4.2020 abends Angriffe in den Provinzen Kandahar und Ghazni, bei denen Regierungsvertreter jeweils die Taliban als Verantwortliche vermuteten. In Kandahar wurden drei Zivilisten getötet und zwei verletzt. Die anhaltende Gewalt weckt Zweifel, wie fruchtbar die innerafghanischen Friedensgespräche sein können, die die USA mit den Taliban vorbereitet haben (Zeit-Online am 11.4.2020).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 32).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, das Personenstands- und Urkundenwesen ist kaum entwickelt. Die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 314).
Medien berichteten auch in der vergangenen Woche von Kämpfen und Anschlägen in zahlreichen Provinzen. Am 7.5.2020 wurde der Polizeichef der östlichen Provinz Khost zusammen mit zwei seiner Leibwächter bei einem Anschlag der Taliban getötet. Bei einer Demonstration gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen der Regierung und die schleppende Verteilung von Hilfsgütern in der zentralafghanischen Provinz Ghor wurden am 9.5.2020 mindestens 20 Menschen getötet und mindestens sechs Menschen verletzt, darunter zwei Polizisten. Eine Auswertung der bestätigten Meldungen über sicherheitsrelevante Vorfälle durch die New York Times ergab, dass im April 2020 mindestens 350 Regierungskräfte und 66 Zivilisten getötet worden sind. Im Mai 2020 wurden 42 getötete Sicherheitskräfte und vier getötete Zivilisten gezählt. Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtsorganisation meldet, dass in den ersten zehn Tagen des Ramadan 43 Zivilisten getötet und 73 verletzt worden seien. Die Provinzen, in denen zivile Opfer festgestellt worden seien, waren Kabul, Ghazni, Logar, Kandahar, Paktia und Helmand (Briefing Notes des BAMF vom 10.5.2020).
1.1.2. Sicherheitslage
Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12.9.2019). Die afghanische Regierung hat wichtige Transitrouten verloren (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 27).
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb - im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019 - weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Für das Jahr 2019 waren 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt; in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 28f.).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Für den Zeitraum vom 8.11.2019 - 6.2.2020 wurden 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 27f.).
1.1.2.1. Situation in Kabul (Stadt/Provinz)
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit rund 5 Mio. Einwohnern). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 42).
Die afghanische Regierung kontrolliert Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 37). Im Jahr 2019 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul dokumentiert. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 43).
Im Vergleich zu Herat und Mazar-e Sharif ist Kabul – hinsichtlich der Nahrungsmittelsicherheit – nicht am stärksten vom Lebensmittelnotstand betroffen, jedoch importiert die Stadt den Großteil des Bedarfes aus umliegenden Regionen und dem Ausland. Es gibt große Schwankungen bei der Lieferung, und es kommt zu Knappheiten bei bestimmten Lebensmitteln. Es gibt keine Speicherkapazität für größere Mengen Getreide, und es gibt keine Maßnahmen wie Preisregulierungen oder Coupons, um vulnerable Haushalte zu schützen. Die Lebensmittelversorgung in Kabul und Mazar-e Sharif ist Stand Dezember 2018 „angespannt“, das bedeutet, dass trotz humanitärer Unterstützung mindestens ein Fünftel der Haushalte einen minimal ausreichenden Lebensmittelkonsum aufweist, aber nicht in der Lage ist, notwendige Ausgaben abseits von Lebensmitteln zu bestreiten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 3.5.2019, S. 3).
1.1.2.2. Situation in Herat
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt, die als „sehr sicher“ gilt, und von den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban.
Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein UN-Mitarbeiter wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 105).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat (wie in den anderen Städten Afghanistans auch) für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population leben in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften, doch besteht in Herat grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO Guidance 2019, S. 133).
Was die Nahrungsmittelversorgung anbelangt, ist zu bemerken, dass weit verbreitete Konflikte und die schwere Dürre über 150.000 Menschen gezwungen haben, aus ihren Dörfern im Nordwesten Afghanistans zu fliehen und in der Stadt Herat Schutz zu suchen. Ihr Zustand ist nach wie vor äußerst prekär, da sie mit Nahrungsmittelmangeln und begrenztem Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sind. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind unzureichend und in Bezug auf Unterkünfte, Wasser und sanitäre Einrichtungen besonders schlecht (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 14). Das Famine Early Warning System Network (FEWS NET) bewertet die Versorgungslage in der Stadt Herat mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 10).
1.1.2.3. Situation in Mazar-e Sharif
Die Provinz Balkh, deren Hauptstadt Mazar-e Sharif ist, gilt nach wie vor als eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Derzeit leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif.
In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Es gibt eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet.
Was die Nahrungsmittelversorgung betrifft, bewertet das FEWS NET die Versorgungslage in Mazar-e Sharif mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 10).
1.1.3. Ethnische Minderheiten
Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 274.).
1.1.4. Religionen
Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert. Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert (Bericht des deutschen Außenamtes vom 2.9.2019, S. 11).
1.1.5. Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 251).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungsgesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen. Regierungsfreundliche Kräfte verursachen eine geringere – dennoch erhebliche – Zahl an zivilen Opfern (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 246).
Ob eine Person bedroht ist, kann nur unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten und unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls, wie Ethnie, Konfession, Geschlecht, Familienstand und Herkunft, beurteilt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 7).
1.1.6. Tanzjungen - Bacha Bazi
Eine in Afghanistan praktizierte Form der Kinderprostitution ist Bacha Bazi (sog. „Tanzjungen“), was in der afghanischen Gesellschaft in Bezug auf Jungen nicht als homosexueller Akt erachtet und als Teil der gesellschaftlichen Norm empfunden wird. Bacha Bazi ist eine Praxis, bei der Buben von reichen oder mächtigen Männern zur Unterhaltung, insbesondere Tanz und sexuellen Handlungen, ausgebeutet werden. In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Mehrheit der Vorfälle nicht angezeigt wird. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist durch das afghanische Gesetz unter Strafe gestellt, die strafrechtliche Verfolgung scheint nur in Einzelfällen stattzufinden. Mit einer Ergänzung zum Strafgesetz, die am 14. Februar 2018 in Kraft trat, wurde die Bacha Bazi-Praxis erstmalig explizit unter Strafe gestellt. Das Anheuern von Bacha Bazi wird nun durch das revidierte Strafgesetzbuch als Straftat definiert und mit Strafe bedroht. Aber auch hier verläuft die Durchsetzung des Gesetzes nur schleppend, und die Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet. Missbrauchte Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 307).
Die afghanische Regierung ist dafür bekannt, eher die Opfer von Bacha Bazi als die erwachsenen, männlichen Täter strafrechtlich zu verfolgen. Einige afghanische Provinzgouverneure halten sich offen Bacha-Bazi-Harems. Afghanistans Militärangehörige und Polizisten gehören zu einigen der energischsten Sexualtäter und unternehmen keine Anstrengungen, die von ihnen praktizierte sexuelle Ausbeutung afghanischer Jungen zu verbergen. Zahlreiche afghanische Jungen würden ohne Anklage oder Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftnahme von einem Gericht überprüfen zu lassen, in staatlichen Einrichtungen inhaftiert und Opfer sexueller Übergriffe. Wiederholt sind Vorfälle dokumentiert worden, bei denen die afghanische Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen mutmaßliche Vergewaltigungsopfer wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs eingeleitet haben; in solchen Fällen ist die Staatsanwaltschaft nicht von einer tatsächlichen Vergewaltigung des Opfers sondern davon ausgegangen, dass die Opfer einen „schlechten Charakter“ besäßen. Anklagen wegen „moralischer Verbrechen“, die alle sexuellen Beziehungen zwischen Menschen, die nicht miteinander verheiratet seien, beinhalten, sind oftmals genützt worden, um das Opfer einer Straftat zu bestrafen. Viele Afghanen lehnen Bacha Bazi vehement ab, da die Praxis einen homosexuellen Charakter habe und von der islamischen Tradition verboten werde.
In einigen Fällen wurden die Jungen - und nicht die Täter - der Homosexualität oder anderer Verbrechen beschuldigt. Der Islam und die Scharia sind in Bezug auf Homosexualität unnachgiebig (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 6.10.2015, Beil./2). Homosexuelle Orientierung wird von der breiten Gesellschaft abgelehnt. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft werden diskriminiert, misshandelt, vergewaltigt und verhaftet. Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 309f.). Das Stigma, einmal ein Tanzknabe gewesen zu sein, ist eine lebenslange Bürde. Kaum jemand wird einem Mann, der als Junge missbraucht wurde, eine Frau zur Heirat geben (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 6.10.2015, Beil./2).
Üblicherweise sind die Buben zwischen zehn und 18 Jahren alt; viele von ihnen werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben. Viele der Buben wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft. Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder, und in manchen Fällen entschließen sich Buben, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 307). Die Opfer des „Knabenspiels“ sind afghanische Jungen im Alter zwischen 9 und 16 Jahren, 13 % sind zwischen 18 und 25 Jahre alt (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 6.10.2015, Beil./2).
1.1.7. Rückkehr
1.1.7.1 Rückkehrmöglichkeiten
In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (in Kabul, Herat, Mazar e-Sharif und Kandahar); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 223).
1.1.7.2 Rückkehrsituation
Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019 (LIB vom 13.11.2019, S. 337).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die für sie erforderliche Unterstützung erhalten, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, von den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und von Internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen. Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können. IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 332 f.).
1.1.7.3 Soziale Verhältnisse für Rückkehrer
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.
1.1.7.4 Gesundheitsversorgung
Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos (Bericht des deutschen Außenamtes vom 2.9.2019, S. 29). Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019). Viele Menschen in Afghanistan haben konfliktbedingt keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Behandlung von Traumata gilt als einer der wesentlichsten Mängel im öffentlichen Gesundheitswesen Afghanistans. Medizinische Einrichtungen werden zunehmend zum Ziel militärischer Angriffe (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 16).
1.1.8.4 COVID-19-Pandemie in Afghanistan
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 infiziert, mehr als 670 sind daran gestorben. Nach Einschätzung des afghanischen Gesundheitsministeriums liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher, und es könnten in den kommenden Monaten landesweit 26 Mio. Menschen mit dem Virus infiziert werden, wodurch die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen würde. In vier der 34 Provinzen Afghanistans - Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz - hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet; in manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60 - 90% vermutet (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 8).
Die höchste Anzahl an Fällen weist Kabul auf, gefolgt von Herat, Kandahar und Balkh. Zwischen 26.4. und 2.5.2020 kehrten aus dem Iran 5.801 Personen zurück, 42 % weniger als in der Vorwoche. 3.526 Personen waren freiwillige Rückkehrer, 2.275 Personen wurden abgeschoben. Die Mehrheit der freiwilligen Rückkehrer, von denen zunächst viele nach Herat gingen, gab an, ihre Arbeitsstelle im Iran verloren zu haben, 29 % nannten auch die Furcht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, als Rückkehrgrund (ACCORD COVID-19 Informationen vom 5.6.2020). Die Zahl der aus dem Iran abgeschobenen Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen (LIB 13.11.2019 idF 29.6.2020, S. 10).
Aufgrund der COVID-19-Krise stiegen die Nahrungsmittelpreise und sanken die finanziellen Möglichkeiten von Tagelöhnern infolge geringerer Gelegenheitsarbeit. Rückkehrer sind aufgrund der COVID-19-Krise mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert, da Teehäuser und Hotels durch den Lockdown geschlossen seien. Die regelmäßige Verweigerung von Familien, Betroffene aufzunehmen, könnte im Zweifelsfall Rückkehrern das in Krankheitsfällen essentielle Betreuungsnetzwerk nehmen (ACCORD COVID-19 Informationen vom 5.6.2020).
1.1.8.5 UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und EASO-Country Guidance vom Juni 2018 zu internen Schutzalternativen in afghanischen Städten:
Nur wenige Städte bleiben von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden.[…] Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.
UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018).
Nach den EASO-Guidelines könnte eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif für alleinstehende erwachsene Männer und verheiratete kinderlose Paare, welche über sonst keinerlei schutzwürdige Merkmale verfügen - trotz gewisser Härten - durchaus zumutbar sein, wenn sie in arbeitsfähigem Alter sind, an keinen ernsthaften Krankheiten leiden, über Berufserfahrung und/oder Bildung sowie finanzielle Mittel verfügen, vertraut sind mit den afghanischen sozialen Normen sind und Erfahrungen in einem urbanen Umfeld haben. Ein Netzwerk, dass sie mit Wissen über die lokalen Gegebenheiten zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse informiert, ist erforderlich, wenn sie außerhalb Afghanistans geboren wurden oder für eine sehr lange Zeit gelebt haben, wobei auch ihr Hintergrund, insbesondere ihre Bildung, Arbeitserfahrung und die Erfahrung eines auf sich alleingestellten Lebens außerhalb von Afghanistan relevant ist (EASO Guidance 2018, S. 135-139].
1.2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch genannten Namen gehört der tadschikischen Volksgruppe an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben.
Der Beschwerdeführer wurde in Mazar-e Sharif geboren. Seine Eltern verstarben im Kleinkindalter Beschwerdeführers. Gemeinsam mit seiner Schwester wuchs er bei seinem Onkel auf. Aufgrund regelmäßiger Konflikte mit seinem Onkel brach der jugendliche Beschwerdeführer (zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt) die Schule ab und verließ fluchtartig die Stadt, um alleine nach Kabul mit dem Ziel zu reisen, sich dort ein neues Leben aufzubauen. Nach seiner Ankunft in Kabul verbrachte er einige Tage am Busbahnhof, wo er nach Gelegenheitsarbeiten Ausschau hielt und in weiterer Folge Hunger litt. Schließlich bat er einen Mann, der ihm hilfsbereit erschien, um Hilfe. Dieser Mann stellte eine Jobmöglichkeit für den nächstfolgenden Tag in Aussicht und nahm den Beschwerdeführer zu sich nachhause, wo sich der Beschwerdeführer waschen konnte und etwas zu essen und zu trinken bekam. In der Nacht bedrohte der Mann den Beschwerdeführer mit einer Pistole und vergewaltigte ihn mehrmals. Am nächsten Tag übergab dieser Mann den Beschwerdeführer einem einflussreichen Kommandanten der afghanischen Armee, namens XXXX , der in verschiedenen Grenzgebieten für die Grenzsicherung zuständig war. Zuletzt war dieser Kommandant für zwei Checkpoints an einer näher bekannten Hauptstraße in der Provinz Ghazni in der Nähe zu Pakistan verantwortlich. Die ersten beiden Jahre verbrachte der Beschwerdeführer in einem festungsähnlichen Gebäude in einem Ort nahe XXXX , das im Norden der Provinz Kabul (etwa XXXX von der Stadt XXXX entfernt) liegt. Der Kommandant zog den Beschwerdeführer regelmäßig als Tanzjungen für diverse Fest-Veranstaltungen heran, zu denen der Kommandant gerade auch wegen der Begleitung durch seinen Tanzjungen eingeladen wurde. Es handelte sich um Veranstaltungen mit zahlreichen Gästen, die mitunter aus allen Regionen Afghanistans anreisten. Beispielsweise tanzte der Beschwerdeführer bei einer Hochzeitsfeier vor rund 1000 bis 2000 Festgästen. Abseits der Tanzveranstaltungen war der Beschwerdeführer gewissermaßen als Diener tätig und hatte wie ein Hausangestellter haushalterischen Verpflichtungen nachzukommen. Nächtens wurde der Beschwerdeführer vom Kommandanten immer wieder vergewaltigt. Später war er auch als Wachmann in der Anlage des Kommandanten tätig. Nach zwei Jahren übersiedelte der Beschwerdeführer mit dem Kommandanten in die Provinz Ghazni, wo ihm drei bis vier Monate später die Flucht gelang, als er gemeinsam mit einem Soldaten ein Auto an der Tankstelle betankte und vorgab, die Toilette zu besuchen. Mit dem Geld, das er bei sich trug, konnte er eine Auto-Fahrt nach XXXX finanzieren, bevor er - nach einigen Tagen - eine Gelegenheit fand, von Kabul nach Mazar-e Sharif zu gelangen. Dort verkaufte er ein in seinem Eigentum befindliches Grundstück mithilfe eines Bekannten, dem er die Hälfte des Grundstücks überließ. Aus Angst davor, dass er von einem der zahlreichen Gäste einer der Veranstaltungen, im Rahmen derer er getanzt hatte, wiedererkannt werden könnte, verließ der Beschwerdeführer Afghanistan.
1.2.2. Im Falle seiner Rückkehr besteht die tatsächliche Gefahr, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner zahlreichen Auftritte als Tanzjunge wiedererkannt und ihm eine homosexuelle Orientierung unterstellt wird, die ihn wiederum im gesamten Staatsgebiet einer Strafverfolgung, Gewalthandlungen und erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch staatliche Organe oder Private aussetzt.
Der Aufenthaltsort und das Schicksal der Schwester des Beschwerdeführers ist seit einem Angriff der Taliban im Jahr 2017 auf das Dorf, in dem die Schwester gelebt hatte, unbekannt. Der Beschwerdeführer, der sich in psychiatrischer Behandlung befindet, ist in Österreich unbescholten.
2. Diese Feststellungen gründen auf folgender Beweiswürdigung:
2.1. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation basiert auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen und gewährleistet einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Ihre Richtigkeit wurde auch von den Verfahrensparteien nicht bestritten.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen:
2.2.1. Die Feststellungen zur Nationalität, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seinem Herkunftsort sowie zu seinen Familienangehörigen gründen – soweit sie nicht bereits von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid festgestellt wurden – auf den insoweit unbedenklichen Angaben des Beschwerdeführers.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Österreich unbescholten ist, gründet auf einem von Amts wegen eingeholten Strafregisterauszug. Die von einer Fachärztin für Psychiatrie für den Beschwerdeführer ausgestellte Medikamentenliste war Grundlage für die vorbringenskonforme Feststellung, dass sich der Beschwerdeführer in psychiatrischer Behandlung befindet (siehe auch S. 3f. der Verhandlungsniederschrift).
2.2.2. Aus folgenden Erwägungen konnte das Fluchtvorbringen im Wesentlichen den Feststellungen zu Grunde gelegt werden:
Die belangte Behörde hatte in ihrer Beweiswürdigung die vorgebrachten Geschehnisse, in denen der Beschwerdeführer von einem Armeekommandanten gegen dessen Willen als Tanzjunge missbraucht wurde, als unglaubwürdig qualifiziert und dies sowohl mit den anders gearteten Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung als auch mit dessen Aussageverhalten in der behördlichen Einvernahme am 3.12.2018 begründet (AS 418).
Es ist der belangten Behörde zu konzedieren, dass sie in der Einvernahme vom 3.12.2018 den Beschwerdeführer in einwandfreier Art und Weise ausführlich befragt und der Beschwerdeführer auf konkrete und naheliegende Fragen nur sehr detailarme und insgesamt unzureichende Antworten gegeben hatte. Dass derartige Angaben in der Einvernahme zur Annahme der Unglaubwürdigkeit der Fluchtgründe im asylbehördlichen Verfahren führen können, ist nicht weiter zu beanstanden. Auch aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichts vermag sich die Glaubwürdigkeit eines Aussageverhaltens nicht zu verstärken, wenn ein Asylwerber in der Erstbefragung gänzlich andere Fluchtgründe bekannt gibt als in der darauffolgenden Einvernahme. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass Opfer von Gewalt (insbesondere sexueller Gewalt) bei der Schilderung traumatischer Erlebnisse vor besondere Herausforderungen gestellt sind, sodass eine Klarstellung der Fluchtgründe in der darauffolgenden behördlichen Einvernahme - auch vor dem Hintergrund des Verbots der näheren Befragung zu den Fluchtgründen in der Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 (vgl. dazu VfGH 20.2.2014, U 1919/2013 u.a.) - nicht schadet, sofern der Asylwerber in weiterer Folge seinen Mitwirkungspflichten nachkommt und seine Fluchtgründe umfassend und überzeugend darlegt.
Im vorliegenden Verfahren hat der Beschwerdeführer letztlich im Laufe der Beschwerdeverhandlung sein Aussageverhalten derart verändert, dass seine Schilderungen als einwandfrei authentisch gewertet werden konnten: Abgesehen von einigen Anfangsschwierigkeiten (siehe die teils missverständlichen, teils ausweichenden Antworten des Beschwerdeführers etwa zu seinem Gesundheitszustand oder zum Erhalt des als Beweismittel angebotenen Videos auf S. 3 und 5 der Verhandlungsniederschrift), hat der Beschwerdeführer mit fortschreitender Dauer der Befragung in der Verhandlung die fluchtauslösenden Ereignisse letztlich ohne Zurückhaltung, eigeninitiativ und sehr ausführlich geschildert. Die teilweise auf ganz konkrete Details abzielenden Fragen beantwortete er spontan und entsprechend detailliert. Der Beschwerdeführer beschränkte sich in seiner Darstellung der Fluchtgründe nicht auf einige (mehr oder weniger) abstrakte Eckpunkte, sondern schilderte die Erlebnisse konkret, lebensnah und mit zahlreichen Details, die den (nicht negierbaren) Eindruck vermittelten, dass der Beschwerdeführer die geschilderten Umstände auch tatsächlich erlebt hat (siehe S. 10f. der Verhandlungsniederschrift, insbesondere die Passage über die Ankunft und die ersten Vorfälle in Kabul). Der Beschwerdeführer hat sich im Laufe der Befragung in der Beschwerdeverhandlung von keiner (noch so in die Detailtiefe gehenden) Frage überrascht gezeigt; er hat auch nicht mit taktischen Antworten auszuweichen bzw. abzulenken versucht.
Die geschilderten Erlebnisse sind in ihrer Abfolge schlüssig und insgesamt plausibel. Sie finden auch in den allgemeinen Länderfeststellungen Deckung (siehe oben unter 1.1.6.). Unklarheiten, wie den Grundstücksverkauf in Mazar-e Sharif vor der Ausreise, konnte der Beschwerdeführer überzeugend ausräumen (S. 13 der Verhandlungsniederschrift). Auf entsprechende Nachfrage konnte er auch die Aufenthaltsorte präzise beschreiben (S. 12f. der Verhandlungsniederschrift). Seine persönliche Glaubwürdigkeit hat der Beschwerdeführer auch dadurch verstärkt, dass er etwa auf die Frage nach der Ausreisemotivation (und damit indirekt auch nach der Verfolgungswahrscheinlichkeit) offenkundig keine taktisch motivierten Aussagen getroffen hat, sondern die Beweggründe und Befürchtungen in plausibler und nachvollziehbarer Form erklärt hat (S. 13f. der Verhandlungsniederschrift).
Dabei wird nicht übersehen, dass die zeitlichen Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich seines Alters teilweise erheblich divergieren: So erklärte der Beschwerdeführer im verwaltungsbehördlichen Verfahren, dass er im Alter von 12 oder 13 Jahren nach Kabul ging (AS 281), wogegen er in der Beschwerdeverhandlung sein damaliges Alter mit 18 oder 19 Jahren einordnete (S. 10 der Verhandlungsniederschrift). Derartige Unklarheiten waren in den Angaben des Beschwerdeführers jedoch auch bei anderen Aspekten zu bemerken, die mit den Fluchtgründen nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen, sodass diese Ungenauigkeiten nicht dahingehend gewürdigt werden können, dass sie ein fiktives Konstrukt einer asylrelevanten Geschichte erkennen lassen, sondern vielmehr auf den Bildungsgrad des Beschwerdeführers und auch auf seine psychische Verfassung zurückzuführen sind (zu letzterem siehe auch S. 3 der Verhandlungsniederschrift).
Der vorgelegte Videomitschnitt, der eindeutig den Beschwerdeführer als „Tanzjungen“ in Frauenkleidern zeigt, ist hinsichtlich seiner Echtheit unbedenklich. Es lässt keinen Zweifel, dass der Beschwerdeführer tatsächlich als „Tanzjunge“ in Afghanistan tätig war. Im Übrigen ist anhand des Videomitschnitts auch ein gewisser Bartwuchs des Beschwerdeführers zu erkennen (siehe in diesem Licht auch die Länderfeststellungen, wonach ein geringer aber doch gewisser Prozentsatz von Tanzjungen zwischen 18 und 25 Jahre alt ist).
Somit hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung einen glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck hinterlassen, weshalb von der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens ausgegangen wird.
2.2.3. Die Feststellung, wonach dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan droht, als früherer „Tanzjunge“ wiedererkannt zu werden und in weiterer Folge - in Unterstellung einer homosexuellen Orientierung - einer privaten oder gar staatlichen Verfolgung bzw. Eingriffen in seine Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (siehe oben 1.2.2.), gründet auf folgenden Überlegungen:
Festgestelltermaßen ist der Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum hindurch auf zahlreichen Veranstaltungen mit einer mitunter großen Teilnehmerzahl aufgetreten. Dabei ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer als „Tanzjunge“ nicht in jüngeren Jahren, sondern bereits als älterer Jugendlicher aufgetreten ist. Wie bereits erwähnt, ist der Beschwerdeführer auf dem von ihm als Beweis vorgelegten Videomitschnitt deutlich wiederzuerkennen. Damit kann nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer schon von Alters wegen bei einer Rückkehr aufgrund seines mittlerweile veränderten Aussehens nicht als früherer „Tanzjunge“ erkannt werden würde. Vielmehr wird die Wahrscheinlichkeit, dass man sich an den Beschwerdeführer erinnert, gerade auch durch den auffälligen Umstand erhöht, dass der Beschwerdeführer die Tätigkeit des „Tanzjungen“ in einem vergleichsweise höheren und insofern ungewöhnlichen Alter ausgeübt hat. Es muss davon ausgegangen werden, dass Afghanen, die an jenen Veranstaltungen teilgenommen und den Beschwerdeführer als „Tanzjungen“ gesehen haben, den Beschwerdeführer - auch nach seiner Rückkehr nach Afghanistan - wiedererkennen können. Hinzu kommt, dass - wenn bereits ein Videomitschnitt über den Beschwerdeführer als „Tanzjunge“ besteht - auch noch weitere Videos vom Beschwerdeführer existieren könnten und nicht auszuschließen ist, dass entweder der vorgelegte Videomitschnitt oder auch andere Videos ähnlichen Inhalts im Umlauf sind und von einer größeren Zahl von Menschen gesehen wurden bzw. werden. Dieser Umstand erhöht noch die Gefahr erheblich, dass die Vergangenheit des Beschwerdeführers im Zuge von gewöhnlichen Kontakten im Alltag überraschend ans Tageslicht kommt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer einerseits den Personenkreis, der (auch nur im Entferntesten) mit dem Armee-Kommandanten in Verbindung stehen könnte, meiden müsste, da der Kommandant den Beschwerdeführer für seine Flucht gewiss „bestrafen“ wollen würde. Andererseits verfügt der Beschwerdeführer auch nicht über Verwandte, die ihm beim Aufbau einer Existenz behilflich wären und es ihm erleichtern könnten, Personenkreise zu meiden, deren Teilnahme an den Veranstaltungen realistisch erschiene und die ihn wiedererkennen könnten. Diese Problematik ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass wegen der landestypischen hohen sozialen Kontrolle selbst in den Städten kaum Anonymität zu erwarten ist (siehe oben unter 1.1.1.).
Aus all diesen Gründen ist das Risiko für den Beschwerdeführer, dass seine Vergangenheit durch Personen, die ihn wiedererkennen, zum Vorschein kommt, nicht bloß als gering zu veranschlagen, sondern (aufgrund der oben erwähnten individuellen Besonderheiten) durchaus als hoch einzuordnen. Folglich ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Vergangenheit des Beschwerdeführers als früherer „Tanzjunge“ ans Tageslicht geraten wird.
2.2.4. Den Länderfeststellungen ist zu entnehmen, dass missbrauchte „Tanzjungen“ von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert, mitunter sogar strafrechtlich wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr verfolgt werden. Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen des gleichen Geschlechts (siehe oben in den Länderfeststellungen unter 1.1.6.). Mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebrachte Sexualpraktiken werden mit langjährigen Haftstrafen sanktioniert (siehe auch BVwG 8.7.2020, W194 2182623-1/13E [insb. unter Punkt 2.1.4.]).
Die Stigmatisierung als lebenslängliche Bürde bedeutet die gesellschaftliche Ächtung und Diskriminierung wegen (unterstellter) Homosexualität. Die Unterstellung der homosexuellen Orientierung impliziert den Vorwurf, tatsächlich oder vermeintlich vorherrschenden rechtlichen, religiösen und gesellschaftlichen Normen nicht zu entsprechen (siehe dazu auch die UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 102). Mit diesem Vorwurf geht für tatsächlich oder vermeintlich homosexuelle Personen der drohende Verlust des Arbeitsplatzes bzw. die Schwierigkeit, einer geregelten Arbeit nachgehen zu können, einher. Auch der Zugang zur medizinischen Versorgung ist eingeschränkt (idS UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 101). Wenn auch eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe nicht nachgewiesen werden kann, da das Thema völlig tabuisiert ist, wird dennoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Die Handlungen, denen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft ausgesetzt sein können, sind gemäß den EASO-Leitlinien vom Juni 2019 so schwerwiegend, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (siehe BVwG 8.7.2020, W194 2182623-1/13E [unter Punkt 3.2.4.]). Wenn Mitgliedern der LGBTI-Gemeinschaft Diskriminierung, Misshandlung, Vergewaltigung und Verhaftung droht, so gilt dies gleichermaßen für Personen, denen Homosexualität unterstellt wird. Die bereits in der behördlichen Einvernahme geäußerte Befürchtung des Beschwerdeführers, als Homosexueller angesehen und deshalb umgebracht zu werden (AS 284), findet somit in den Länderfeststellungen Deckung.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1 Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 10.6.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.2.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.1.2015, Ra 2014/18/0112 mwN).
3.1.2. Es ist dem Beschwerdeführer gelungen, (drohende) Verfolgung glaubhaft zu machen: Der Beschwerdeführer wurde - gemäß seinen glaubwürdigen und den Feststellungen zugrunde gelegten Aussagen - über einen längeren Zeitraum hindurch gezwungen, als „Tanzjunge“ bei einer Vielzahl von Veranstaltungen aufzutreten. Die mit dem Schicksal von „Tanzjungen“ verbundene Stigmatisierung und Unterstellung von Homosexualität kann gemäß den Länderfeststellungen zu Diskriminierung, Misshandlung, Vergewaltigung und Verhaftung führen (siehe oben 2.2.4.). Den EASO-Guidelines zufolge sind derartige Handlungen, denen Homosexuelle ausgesetzt sein können, so schwerwiegend, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (z.B. Vergewaltigung, Hinrichtung, Tötung; vgl. dazu auch BVwG 8.7.2020, W194 2182623-1/13E). Das Risiko, dass der Beschwerdeführer als „Tanzjunge“ wiedererkannt wird (was sozusagen die Verfolgungshandlungen erst voraussetzt), ist aufgrund der besonderen Konstellation des vorliegenden Falles als derart real einzuschätzen, dass bei der zu treffenden Prognoseentscheidung von einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit der drohenden Verfolgung auszugehen war (siehe oben 2.2.3.).
Die dem Beschwerdeführer