TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/18 W261 2189681-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.08.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

18.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W261 2189681-1/15E

W261 2189678-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1.        XXXX , geb. XXXX ,

2.        XXXX , geb. XXXX ,

beide StA. Afghanistan, beide vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom

1.       28.02.2018, Zl. XXXX ,

2.       28.02.2018, Zl. XXXX ,

nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 22.06.2020 zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte 1. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II.     Den Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte 2. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte 2. I., 3., 4. und 5. der angefochtenen Bescheide ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführers sind Ehegatten und Staatsangehörige Afghanistans. Sie stellten nach gemeinsamer Einreise mit ihren volljährigen Kindern XXXX (IFA XXXX ) und XXXX (IFA XXXX ) am 12.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am 04.11.2015 fanden ihre Erstbefragungen vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.

Die Erstbeschwerdeführerin gab dabei zu ihren Fluchtgründen an, vor ca. fünf Monaten seien ihre beiden Söhne entführt worden. Es sei nur ein Sohn freigelassen worden. Der andere Sohn sei getötet worden. Sie hätten auch Lösegeld bezahlen müssen, wie viel wisse sie nicht. Ihr Mann und sie hätten beschlossen, dass sie das Land verlassen, um mit ihrer Familie in Sicherheit und Freiheit leben zu können.

Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen an, vor ca. fünf Monaten seien seine beiden Söhne entführt worden. Die Geiselnehmer hätten 50.000 US-Dollar Lösegeld oder den Übertritt zum Islam gefordert. Er habe aber nur 25.000 US-Dollar bezahlen können. Deshalb hätten sie nur einen Sohn, XXXX , freigelassen und den anderen Sohn XXXX getötet. Er habe sich zum Schutz seiner Familie dazu entschieden, dass sie das Land verlassen würden, um in Sicherheit und Freiheit leben zu können.

2. Die Ersteinvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde fand am 05.01.2018 statt. Sie gab dabei zu ihren persönlichen Umständen an, sie gehöre der Volksgruppe und der Religionsgemeinschaft der Sikh an. Sie sei in der Stadt XXXX in der Provinz Parwan geboren und habe später in Kabul gelebt. Sie habe keine Schule besucht und sei Hausfrau gewesen, ihr Ehemann habe als Geldwechsler die Familie versorgt. Die Familie sei wohlhabend gewesen. Sie habe drei Kinder gehabt, ihr älterer Sohn sei jedoch 2015 getötet worden. Ihre anderen beiden Kinder würden mit ihr und ihrem Ehemann in Österreich leben. Sie habe auch einen Bruder und zwei Schwager, die in London leben. In Afghanistan habe sie keine Angehörigen mehr. Im Rahmen der Einvernahme legte sie Integrationsunterlagen vor.

Zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie keine eigenen Fluchtgründe habe. Sie habe ihr Heimatland gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern verlassen, da ihr ältester Sohn entführt worden sei. Ihr Ehemann habe drei oder vier Monate nach dem Vorfall beschlossen, dass sie das Land verlassen. Ihre Söhne seien an einem Freitag beim Einkaufen entführt worden. Die Entführer seien kriminelle Männer gewesen, es sei dabei nur um Geld gegangen. Wie viel Lösegeld ihr Ehemann bezahlt habe, oder an wen er es bezahlt habe wisse sie nicht. Nach acht Tagen sei ihr Sohn XXXX wieder zurückgekommen und habe ihrem Ehemann erzählt, was passiert sei. Persönlich sei sie nie bedroht worden, aber alle Sikhs würden in Afghanistan beschimpft.

3. Die Ersteinvernahme des Zweitbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 03.01.2018 statt. Er gab dabei zu seinen persönlichen Umständen an, er gehöre der Volksgruppe der Hindus und der Religionsgemeinschaft der Sikh an. Er stamme aus der Stadt Kabul. Er habe vier Jahre lang die Grundschule besucht und zunächst als Textilverkäufer und später als Geldwechsler gearbeitet. Der Familie sei es wirtschaftlich gut gegangen. Er habe drei Kinder gehabt, einer seiner Söhne sei jedoch ca. viereinhalb Monate vor der Ausreise getötet worden. Seine anderen beiden Kinder würden mit ihm und seiner Ehefrau in Österreich leben. Er habe auch zwei Brüder, die in London leben. In Afghanistan habe er keine Angehörigen mehr. Im Rahmen der Einvernahme legte er afghanische Dokumente und Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, seine Söhne seien in Afghanistan entführt worden. Obwohl er das Lösegeld bezahlt habe, sei ein Sohn getötet worden. Die Entführer hätten auch gedroht, dass sie seine Kinder wieder entführen würden. Seine Söhne seien an einem Freitag einkaufen gewesen. Als sie nicht zurückkamen, habe er nach ihnen gefragt und von Kindern auf der Straße erfahren, dass ein schwarzes Auto seine Söhne mitgenommen hätte. Er sei dann zur Polizei gegangen, doch diese habe ihm nicht geholfen. Am nächsten Tag sei ein Mann zu ihm auf die Arbeit gekommen, der sagte, er wüsste, wo seine Söhne seien. Der Mann habe ihm Fotos der Söhne gezeigt und gesagt, für 50.000 US-Dollar könne er sie freibekommen. Wenn der Zweitbeschwerdeführer nicht bezahle, würden seine Söhne getötet werden. Am Tag darauf habe er dem Mann 25.000 US-Dollar gegeben. Vier oder fünf Tage später sei sein jüngerer Sohn nachhause gekommen und habe erzählt, dass der ältere Sohn erschossen worden sei. Vier oder fünf Personen hätten sie in das Auto gezwungen, an einen unbekannten Ort gebracht und ihnen Kuhfleisch zu essen gegeben. Diese hätten sie aufgefordert, zum Islam zu konvertieren. Er glaube, die Entführung sei am 21.05.2015 gewesen. Alle Sikhs hätten in Afghanistan wegen ihrer Religion Probleme, er persönlich habe kein Problem gehabt, sei aber auch beschimpft worden.

4. Mit verfahrensgegenständlichen Bescheiden vom 28.02.2018 wies die belangte Behörde jeweils die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt 1.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt 2.) ab. Es wurden der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführers keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt 2. I.), gegen sie Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkt 3.) und festgestellt, dass ihre Abschiebungen nach Afghanistan zulässig seien (Spruchpunkt 4.). Die Fristen für die freiwillige Ausreise wurden mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt 5.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen (gleichlautend) aus, eine asylrelevante Verfolgung der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers im Herkunftsstaat habe ebenso wenig festgestellt werden können wie eine Bedrohungssituation im Falle der Rückkehr. Die Schilderung der Fluchtgründe durch den Zweitbeschwerdeführer sei vage und abstrakt gewesen, die vorgebrachte Verfolgung sei überdies aus kriminellen Motiven erfolgt und nicht asylrechtlich relevant. Es gebe zwar eine gewisse Diskriminierung von Sikhs, diese erreiche aber nicht das Ausmaß einer asylrelevanten Verfolgung. Der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführers sei eine Rückkehr nach Afghanistan möglich und zumutbar. Kabul sei ausreichend sicher und die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer seien mobile, gesunde und arbeitsfähige Personen, die in Kabul über Verwandte verfügen würden. Die Rahmenbedingungen für ihr wirtschaftliches Überleben seien bei einer Rückkehr im Familienverband gegeben.

5. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 14.03.2018 fristgerecht Beschwerde. Sie brachten im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen der beiden Beschwerdeführer einzugehen und eine Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren Länderinformationen zu treffen. Der Verwaltungsgerichtshof habe in einem Erkenntnis ausgeführt, den Länderfeststellungen ließe sich entnehmen, dass nicht-muslimische religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, Hindus und Sikhs, in Afghanistan weiterhin durch das geltende Recht sowie im Alltag diskriminiert und bei Ausübung ihrer religiösen Zeremonien bedroht oder angegriffen würden. Die afghanische Regierung schütze religiöse Minderheiten nicht vor Übergriffen. Es sei demnach nicht auszuschließen, dass die Handlungen Dritter in Verbindung mit der Religionszugehörigkeit der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers stünden, da diese keinen umfassenden staatlichen Schutz zu erwarten hätten. Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers sei daher als glaubhaft zu beurteilen und finde in den Länderfeststellungen Deckung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.

5. Die belangte Behörde legte die Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 15.03.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo die Verfahren am 19.03.2018 in der Gerichtsabteilung W263 einlangten.

6. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.01.2020 wurden die gegenständlichen Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo diese am 27.01.2020 einlangten.

7. Mit Eingabe vom 18.02.2020 teilten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit, dass sie für die mündliche Verhandlung einen Dolmetscher für die Sprache Punjabi bevorzugen würden.

8. Mit Eingabe vom 27.05.2020 legten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung diverse Integrationsunterlagen vor.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer zu deren Fluchtgründen und der Situation im Falle ihrer Rückkehr befragt wurden. Die Verfahren der beiden Beschwerdeführer wurden zusammen mit denen ihrer volljährigen Kinder XXXX (W261 2190070-1) und XXXX (W261 2189679-1) verhandelt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil, die Niederschrift wurde ihr übermittelt. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer legten Integrations- und medizinische Unterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Die Parteien erstatteten keine Stellungnahmen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers:

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind Ehegatten.

Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX (geborene XXXX ) und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe sowie der Religionsgemeinschaft der Sikh. Ihre Muttersprache ist Punjabi, sie spricht auch Dari, Urdu und Farsi.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde in der Stadt XXXX in der Provinz Parwan geboren. Ihr Vater hieß XXXX , er verstarb vor ca. 12 Jahren. Ihre Mutter hieß XXXX , sie verstarb vor ca. 7 Jahren. Ihr Vater besaß eine Apotheke. Sie hat einen Bruder namens XXXX , der gemeinsam mit den Beschwerdeführern ausgereist ist und in London lebt. Sie hat keine Schule besucht und keinen Beruf ausgeübt, sie war immer Hausfrau.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hindus und der Religionsgemeinschaft der Sikh. Seine Muttersprache ist Punjabi, er spricht auch Dari, ein wenig Paschtu und Russisch und Deutsch auf dem Niveau A1.

Der Zweitbeschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren. Sein Vater hieß XXXX und seine Mutter XXXX , sie sind bereits verstorben. Sein Vater hat in einer Bank gearbeitet. Er hat zwei Brüder, XXXX und XXXX , die in London leben. Er hat vier Jahre die Grundschule besucht, danach zunächst als selbstständiger Textilverkäufer und die letzten 15 bis 16 Jahre als selbstständiger Geldwechsler gearbeitet.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind seit ca. 32 Jahren traditionell miteinander verheiratet. Sie hatten drei gemeinsame Kinder. Ihr älterer Sohn XXXX wurde im Mai 2015 getötet. Ihr jüngerer Sohn XXXX und ihre Tochter XXXX sind Zwillinge, sie sind 23 Jahre alt und leben mit ihnen in Österreich. Nach ihrer Hochzeit lebten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführers gemeinsam in der Stadt Kabul, zuletzt im Stadtteil XXXX . Es ging ihnen finanziell gut.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben keine ihnen bekannten Angehörigen mehr in Afghanistan, ihre Verwandten sind entweder verstorben oder haben das Land verlassen. Zu früheren Freunden oder Bekannten haben sie keinen Kontakt mehr.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer verließen Afghanistan gemeinsam mit ihren beiden Kindern und stellten am 12.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Erstbeschwerdeführerin leidet an einem Fersensporn, einem Cervicalsyndrom, arterieller Hypertonie, Hypothyreose und einer Reizblase. Der Zweitbeschwerdeführer leidet an Arthrose im Sprunggelenk und es besteht ein Verdacht auf Hypertonie. Davon abgesehen sind die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer gesund. Sie sind grundsätzlich arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers:

1.2.1. Die beiden Söhne der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers wurden im Mai 2015 von unbekannten Männern entführt. Die Entführer verlangten vom Zweitbeschwerdeführer 50.000 US-Dollar Lösegeld. Dieser bezahlte 25.000 US-Dollar, und nach insgesamt sechs Tagen kam ihr jüngerer Sohn, XXXX , nach Hause. Ihr älterer Sohn, XXXX , wurde von den Entführern getötet. Die Entführer handelten aus kriminellen Motiven, die Religionszugehörigkeit der Familie war nicht der Grund für die Entführung. Sie drohten für den Fall, dass einer der Beschwerdeführer zur Polizei ginge, mit der Entführung der Kinder. Rund vier Monate nach diesem Vorfall entschied der Zweitbeschwerdeführer, Afghanistan gemeinsam seiner Ehefrau und mit den gemeinsamen Kindern aus Sorge um deren Sicherheit zu verlassen.

1.2.2. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer waren in Afghanistan wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu den Sikh Diskriminierungen und Beschimpfungen durch die Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt und in ihrem Alltagsleben eingeschränkt. Sie waren jedoch konkret und individuell aus diesem Grund weder einer Bedrohung noch maßgeblicher physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer würden auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen ihrer Religionszugehörigkeit konkret und individuell keine maßgebliche physische oder psychische Gewalt drohen.

1.2.3. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung in Österreich ist nicht zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt wegen westlicher Orientierung.

1.3. Zum (Privat)Leben der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers in Österreich:

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom 12.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Die Erstbeschwerdeführerin hat mehrere Deutschkurse, einen Werte- und Orientierungskurs und einen Näh- und Strickkurs besucht. Sie hat jedoch noch keine Deutschprüfung abgelegt.

Die Erstbeschwerdeführerin lebt von der Grundversorgung, sie ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

Der Zweitbeschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse und einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Er verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 und nimmt derzeit an einem A2-Deutschkurs teil. Er hat an der Dialogreihe „MEN TALK“ teilgenommen.

Der Zweitbeschwerdeführer war befristet gemeinnützig für die Gemeinde XXXX tätig. Er lebt von der Grundversorgung, ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

In Österreich leben die beiden volljährigen Kinder der Beschwerdeführer, denen mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag Asyl bzw. subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Die Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers hat einen Sohn, XXXX , welcher im November 2019 in Österreich geboren wurde. Aufgrund des Umstandes, dass dessen Vater, XXXX , in Österreich asylberechtigt ist, ist der Enkel der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers seit Dezember 2019 international Schutzberechtigter. Es besteht ein aufrechtes Familienleben zu ihren Kindern. Weitere Angehörige oder enge soziale Bindungen in Österreich haben sie nicht.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers in deren Herkunftsstaat:

Der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Kabul angesichts der dort herrschenden allgemein schlechten Sicherheitslage, insbesondere auch für Sikhs, sowie der schon einmal erfolgten Bedrohung durch Kriminelle ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer ist auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund ihren individuellen Umstände in Verbindung mit der allgemeinen Lage der Sikhs sowie der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation nicht zumutbar.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer verfügen in Afghanistan über keine ihnen bekannten Angehörigen und somit keinerlei familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung sie sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnten. Sie haben insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten. Als Angehörige der Religionsgemeinschaft der Sikh sind sie in Afghanistan massiver Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung und Einschränkungen in ihrem Alltagsleben ausgesetzt. In Mazar-e Sharif und Herat gibt es keine Sikh-Gemeinschaften.

Die Erstbeschwerdeführerin ist 60 Jahre alt. Sie hat keine Schule besucht, keinen Beruf erlernt und noch nie in ihrem Leben außerhalb des Haushalts gearbeitet. Sie ist grundsätzlich arbeitsfähig, leidet aber an einem Fersensporn, einem Cervicalsyndrom, arterieller Hypertonie, Hypothyreose und einer Reizblase. Angesichts ihrer persönlichen Umstände wäre es ihr schon vor der COVID-19-Pandemie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich gewesen, in Afghanistan eine Arbeit zu finden. Jedenfalls wäre sie aber im Fall einer Rückkehr auf geringqualifizierte Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten verwiesen.

Der Zweitbeschwerdeführer ist 61 Jahre alt. Er hat vier Jahre eine Grundschule besucht und danach zunächst als selbstständiger Textilverkäufer und die letzten 15 bis 16 Jahre als selbstständiger Geldwechsler gearbeitet. Er ist grundsätzlich arbeitsfähig, leidet aber an einer Arthrose im Sprunggelenk, es besteht auch der Verdacht auf Hypertonie. Trotz seiner langjährigen Berufserfahrung wäre auch der Zweitbeschwerdeführer, der sein Geschäft in Kabul aufgegeben hat, seit fünf Jahren nicht mehr in Afghanistan war und in Mazar-e Sharif und Herat niemanden kennt, bei einer Neuansiedlung in diesen Städten jedenfalls anfänglich auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten verwiesen.

Gerade diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich großteils in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, Teehäuser und Hotels sind aktuell aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen. Auch die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen.

Es wäre der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer, die als Sikhs stark diskriminiert werden, beide über 60 Jahre alt sind und in Mazar-e Sharif und Herat niemanden kennen, somit in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden.

Die bei der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer jeweils vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihnen möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefen die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban; Stigmatisierung) vom 05.06.2020

-        World Food Programme (WFP): Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 13 (Covering 2nd week of August 2020) - 12 August, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-weekly-market-price-bulletin-issue-13-covering-2nd-week, abgerufen am 12.08.2020 (WFP)

1.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Infolge der COVID-19-Pandemie und damit verbundener Importeinschränkungen sowie gestiegener Nachfrage sind die Preise für Lebensmittel in Afghanistan, insbesondere für Grundnahrungsmittel, seit Mitte März 2020 stark gestiegen. So stiegen die Preise zwischen 14. März und 12. August 2020 für Weizenmehl um 11 %, für Weizen um 12 %, für Speiseöl um 30 %, für Hülsenfrüchte um 28 %, für Zucker um 22 % und für Reis um 8 % bzw. 18 % (WFP).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.4. Relevante Bevölkerungsgruppen

1.5.4.1. Frauen

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 17.1).

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 17.1).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27 % erhöht. Für das Jahr 2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7 % angegeben. Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (LIB, Kapitel 17.1).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z. B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (LIB, Kapitel 17.1).

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (LIB, Kapitel 17.1).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (LIB, Kapitel 17.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (LIB, Kapitel 17.1).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10 % reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42 % der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (LIB, Kapitel 17.1).

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25 % aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (LIB, Kapitel 17.1).

Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (LIB, Kapitel 17.1).

1.5.5. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

1.5.6.  Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Sikhs und Hindus:

Die Gemeinschaft der Sikhs und Hindus schätzte 2018 ihre Größe in Afghanistan auf ca. 700 Mitglieder. Im Jahr 2017 hatte sie noch 1.300 Mitglieder umfasst, der Rest ist im Laufe des Jahres emigriert. Noch vor einigen Jahrzehnten lebten einige Hunderttausend Hindus und Sikhs in Afghanistan. Eine sich angeblich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Gemeinschaften, erhöhte Sicherheitsbedenken sowie fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt waren laut Sikh-Führern Hauptgrund einer verstärkten Emigration. Hindus und Sikhs leben im 1. Kabuler Stadtbezirk im Stadtteil Hindu Gozar sowie in den Provinzen Nangarhar und Ghazni. In Jalalabad war im Jänner 2017 weiterhin eine bedeutende Anzahl von Sikhs ansässig. Es gibt zwei aktive Gurudwaras (Gebetsstätten der Sikhs) in Kabul und vier Hindu-Tempel landesweit, davon zwei in Kabul sowie je einen in Jalalabad und Helmand (LIB, Kapitel 15.3).

Berichten zufolge werden Hindus und Sikhs von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung als Außenseiter betrachtet. Sie sind verbalen und physischen Übergriffen, Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, können jedoch ihren Glauben öffentlich ausüben. Quellen zufolge sind Hindus weniger gefährdet als Sikhs; der Grund dafür ist das Fehlen sichtbarer charakteristischer Merkmale (z. B. Kopfbedeckung) bei den Hindus. Sikhs sind zurückhaltend bei der Begehung religiöser Feste, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und der Staat hat nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Gemeinschaft vor alltäglichem sozialem Druck zu schützen. Der afghanische Staat verhält sich den in Afghanistan verbliebenen Sikhs gegenüber nicht feindlich. Staatliche Diskriminierung gibt es nicht, auch wenn der Weg in öffentliche Ämter für Hindus und Sikhs schon aufgrund fehlender Patronagenetzwerke schwierig ist (LIB, Kapitel 15.3).

Trotz gesellschaftlicher Diskriminierung bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften weiterhin Regierungsposten. Ein Sitz im Unterhaus ist für einen Vertreter der Hindu- und Sikh-Gemeinschaft reserviert. Hindus und Sikhs vermeiden nach eigenen Angaben Landstreitigkeiten über Gerichte beizulegen, da sie Angst vor Vergeltungsaktionen haben. Sie regeln Streitfälle mittels Gemeinschaftsversammlungen oder Mediation (LIB, Kapitel 16.3).

Berichten zufolge schicken Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaften ihre Kinder aus Angst vor Schikane durch ihre Mitschüler nicht in staatliche Schulen. In der Vergangenheit wurden die Kinder in privaten Hindu- und Sikh-Schulen unterrichtet, jedoch sind heutzutage viele davon geschlossen. Gemäß Angaben der Hindu- und Sikh-Gemeinschaften gibt es nur zwei funktionsfähige Schulen landesweit (Kabul, Jalalabad). Diese sind jedoch nicht für den Lehrbetrieb ausgestattet (LIB, Kapitel 15.3).

Viele Musliminnen und Muslime lehnen insbesondere die Feuerbestattung ab, die im Hinduismus und Sikhismus das zentrale Begräbnisritual darstellt. Hindus und Sikhs berichten weiterhin von Störungen während ihrer traditionellen Feuerbestattungen durch Anrainerinnen und Anrainer aus der Nähe ihrer Kremationsstätte (shamshan). Obwohl ihnen die Regierung Land für eben diesen Zweck zur Verfügung gestellt hat, beschweren sich Sikhs, dass der Ort zu weit von urbanen Zentren entfernt liege und dieser somit u.a. wegen der schlechten Sicherheitslage unbenutzbar sei. Die Regierung stellt Polizeischutz für die Sikh- und Hindugemeinschaft zur Verfügung, während diese ihre Kremationsrituale abhalten (LIB, Kapitel 15.3).

1.5.7. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.8.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.9.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.5.10. Relevante Provinzen und Städte

1.5.10.1. Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten