Entscheidungsdatum
18.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W261 2189679-1/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 28.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.06.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach gemeinsamer Einreise mit seinen Eltern XXXX (IFA XXXX ) und XXXX (IFA XXXX ) und seiner volljährigen Schwester XXXX (IFA XXXX ) am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am 04.11.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, vor ca. 5 Monaten habe er mit seinem Bruder XXXX einkaufen gehen wollen. Dabei seien sie von einer ihm unbekannten Gruppe entführt worden, sie Entführer sprachen mit ihnen Urdu. Sie seien mehrere Tage gefangen gehalten und misshandelt worden. Sie sollten den islamischen Glauben annehmen und auch Fleisch essen. Von ihrem Glauben her sei Fleisch essen verboten. Sie seien oft geschlagen worden. Als ihn sein Bruder schützen habe wollen, sei er von einem der Entführer erschossen worden. Am nächsten Tag sei der Beschwerdeführer von den Entführern freigelassen worden, mit dem Hinweis, beim nächsten Mal koste es das Doppelte. Zu diesem Zeitpunkt habe er nicht gewusst, was er damit gemeint habe. Sein Vater habe daraufhin beschlossen, dass sie das Land verlassen.
2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 03.01.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen an, er gehöre der Religionsgemeinschaft der Sikh und keiner Volksgruppe an. Seine Muttersprache sei Punjabi. Er stamme aus der Stadt Kabul, wo er mit seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester aufgewachsen sei. Sein Vater habe als Geldwechsler gearbeitet, der Familie sei es finanziell gut gegangen. Er habe keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. In Afghanistan habe er keine Angehörigen mehr, zwei Onkel väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits würden in England leben. Im Rahmen der Einvernahme legte er Integrationsunterlagen vor.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, ca. vier oder fünf Monate vor der Einreise in Österreich seien er und sein Bruder XXXX entführt worden. Fünf bewaffnete Männer hätten sie in ein Auto gezwungen und in einen Keller gebracht. Sie seien fotografiert worden und hätten Kuhfleisch zu essen bekommen. Als sie es nicht essen wollten, seien sie geschlagen worden. Am nächsten Tag seien andere Leute zu ihnen gekommen und hätten sie aufgefordert, zum Islam zu konvertieren. Als sie dies abgelehnt hätten, seien sie wieder geschlagen worden. Als sein Bruder ihm helfen wollte und laut geworden sei, sei dieser erschossen worden. Danach sei der Beschwerdeführer in einen anderen Keller gebracht und noch einmal aufgefordert worden, zum Islam zu konvertieren. Er habe dies erneut abgelehnt und sei dann freigelassen worden. Insgesamt sei er rund eine Woche in Gefangenschaft gewesen. Die Entführer hätten ihm gesagt, sie hätten dieses Mal nicht sehr viel Geld erhalten, das nächste Mal würden sie ihn und seine Schwester entführen und sein Vater solle dann bezahlen, was verlangt werde. Falls sie von der Entführung jemandem erzählen würden, würden sie alle umgebracht werden. Sein Vater habe ihm erzählt, dass 50.000 US-Dollar verlangt worden seien, er aber nur 25.000 US-Dollar bezahlt habe. Sie seien in Afghanistan auch als Sikhs auf der Straße oft belästigt worden. Die Leute hätten ihn beschimpft und Steine auf ihn geworfen, er habe deshalb kaum das Haus verlassen.
3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 28.02.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat habe ebenso wenig festgestellt werden können wie eine Bedrohungssituation im Falle der Rückkehr. Die Schilderung der Fluchtgründe sei vage und abstrakt gewesen, die vorgebrachte Entführung durch Unbekannte sei überdies nicht asylrechtlich relevant. Es gebe zwar eine gewisse Diskriminierung von Sikhs, diese erreiche aber nicht das Ausmaß einer asylrelevanten Verfolgung. Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr nach Afghanistan möglich und zumutbar. Kabul sei ausreichend sicher und der Beschwerdeführer sei ein mobiler, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der in Kabul über Verwandte verfügen würde. Die Rahmenbedingungen für sein wirtschaftliches Überleben seien bei einer Rückkehr mit seiner Familie gegeben.
4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 15.03.2018 fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen und eine Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren Länderinformationen zu treffen. Der Verwaltungsgerichtshof habe in einem Erkenntnis ausgeführt, den Länderfeststellungen ließe sich entnehmen, dass nicht-muslimische religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, Hindus und Sikhs, in Afghanistan weiterhin durch das geltende Recht sowie im Alltag diskriminiert und bei Ausübung ihrer religiösen Zeremonien bedroht oder angegriffen würden. Die afghanische Regierung schütze religiöse Minderheiten nicht vor Übergriffen. Es sei demnach nicht auszuschließen, dass die Handlungen Dritter in Verbindung mit der Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers stünden, da diese keinen umfassenden staatlichen Schutz zu erwarten hätten. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei daher als glaubhaft zu beurteilen und finde in den Länderfeststellungen Deckung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.
5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 16.03.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 19.03.2018 in der Gerichtsabteilung W263 einlangte.
6. Mit Eingabe vom 14.05.2018 legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen, darunter einen Lehrvertrag zwischen ihm und der XXXX KG vom 23.03.2018, vor.
7. Mit Eingabe vom 15.04.2019 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung ein Jahreszeugnis der Landesberufsschule XXXX vor.
8. Mit drei identischen Eingaben vom 22.10.2019 und 23.10.2019 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung medizinische Unterlagen vor.
9. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.01.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 27.01.2020 einlangte.
10. Mit Eingabe vom 30.01.2020 übermittelte die belangte Behörde den ihr vom Arbeitgeber des Beschwerdeführers vorgelegten Lehrvertrag und die Mitteilung über das Lehrverhältnis gemäß § 55a FPG.
11. Mit Eingabe vom 18.02.2020 teilte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit, dass er für die mündliche Verhandlung einen Dolmetscher für die Sprache Punjabi bevorzuge.
12. Mit Eingabe vom 17.04.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor.
13. Mit Stellungnahme vom 27.05.2020 beantragte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung die Einvernahme von XXXX als Zeugin zum Vorliegen eines schützenswerten Privatlebens und zu seiner Integration in Österreich. Der Beschwerdeführer habe bereits außerordentliche Integrationsschritte gesetzt und es seien in seinem Fall die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus den Gründen des Art. 8 EMRK gegeben. Mit der Stellungnahme legte er diverse Integrationsunterlagen vor.
14. Mit Schreiben vom 02.06.2020 teilte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer mit, dass aus Sicht des Gerichtes die Einvernahme der Zeugin XXXX nicht erforderlich sei, weswegen diese nicht zur Verhandlung geladen werde. Es stehe ihr jedoch selbstverständlich frei, ihre Wahrnehmungen vor der mündlichen Verhandlung dem Gericht schriftlich mitzuteilen.
15. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Das Verfahren des Beschwerdeführers wurde zusammen mit denen seiner Eltern XXXX (W261 2189681-1) und XXXX (W261 2189678-1) sowie seiner volljährigen Schwester XXXX (W261 2190070-1) verhandelt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte ein Unterstützungsschreiben vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Die Parteien erstatteten keine Stellungnahmen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Sikh. Seine Muttersprache ist Punjabi, er spricht auch Urdu, Deutsch auf dem Niveau B1, Englisch und Dari. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren. Sein Vater heißt XXXX und seine Mutter XXXX . Er hatte einen älteren Bruder namens XXXX , der 2015 getötet wurde, und hat eine Zwillingsschwester namens XXXX . Sein Vater und sein älterer Bruder arbeiteten als Geldwechsler, der Familie ging es finanziell gut.
Der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie in Kabul, zuletzt im Stadtteil XXXX . Er hat in Afghanistan keine Schule besucht, keinen Beruf erlernt und nicht gearbeitet.
Die Beschwerdeführer hat keine ihm bekannten Angehörigen mehr in Afghanistan, seine Verwandten sind entweder verstorben oder haben das Land verlassen. Er hat zwei Onkel väterlicherseits und einen Onkel mütterlicherseits, die in London leben.
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester und stellte am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der Beschwerdeführer leidet an Hepatitis B und ist deswegen in Behandlung. Er ist grundsätzlich arbeitsfähig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Der Beschwerdeführer und sein Bruder XXXX wurden im Mai 2015 von unbekannten Männern entführt. Die Entführer verlangten von seinem Vater 50.000 US-Dollar Lösegeld. Dieser bezahlte 25.000 US-Dollar, und nach insgesamt sechs Tagen kam der Beschwerdeführer frei. Sein Bruder wurde jedoch von den Entführern getötet. Die Entführer handelten aus kriminellen Motiven, die Religionszugehörigkeit der Familie war nicht der Grund für die Entführung. Sie drohten für den Fall, dass die Familie zur Polizei gehe, mit der (erneuten) Entführung der Kinder. Rund vier Monate nach diesem Vorfall entschieden die Eltern des Beschwerdeführers, Afghanistan gemeinsam mit ihren Kindern aus Sorge um deren Sicherheit zu verlassen.
1.2.2. Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Sikh Diskriminierungen und Beschimpfungen durch die Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt und in seinem Alltagsleben eingeschränkt. Er war jedoch konkret und individuell aus diesem Grund weder einer Bedrohung noch maßgeblicher physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Dem Beschwerdeführer würden auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Religionszugehörigkeit konkret und individuell keine maßgebliche physische oder psychische Gewalt drohen.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 12.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer besuchte mehrere Deutschkurse und verfügt mittlerweile über gute Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. Er nahm an einem Werte- und Orientierungskurs und der Dialogreihe „MEN TALK“ teil. Er besuchte die HLW XXXX und die HTL XXXX .
Der Beschwerdeführer ist in vielerlei Hinsicht ehrenamtlich engagiert, insbesondere im sozialen Bereich. Er hat im Jahr 2016 und von Oktober 2017 bis Februar 2018 Praktika im Bereich der Betreuung und Förderung geistig und mehrfach behinderter Menschen absolviert. Im Seniorenheim XXXX ist er in den ehrenamtlichen Besuchsdienst eingebunden. Auch für die Caritas in XXXX war er ehrenamtlich tätig. Im betreuten Wohnen der Lebenshilfe XXXX hilft er zweimal wöchentlich beim Kochen, Bügeln und Einkaufen. Bei der Gemeinde XXXX war er geringfügig als Gärtner beschäftigt.
Der Beschwerdeführer absolviert seit 04.04.2018 eine Lehre als Koch bei der XXXX KG und besucht die Landesberufsschule XXXX . Er befindet sich im dritten Lehrjahr, voraussichtliches Ende seiner Lehre ist der 03.04.2021. Er ist selbsterhaltungsfähig und nicht auf staatliche Leistungen angewiesen.
In Österreich leben die Eltern und die volljährige Schwester des Beschwerdeführers, wobei den Eltern mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag subsidiärer Schutz und der Schwester des Beschwerdeführers Asyl zuerkannt wurde. Es besteht ein aufrechtes Familienleben zu seinen Eltern und seiner Schwester. Der Beschwerdeführer ist auch mit einer in Österreich asylberechtigten afghanischen Staatsangehörigen verlobt. Weitere Angehörige oder enge soziale Bindungen in Österreich hat er nicht.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kabul angesichts der dort herrschenden allgemein schlechten Sicherheitslage, insbesondere auch für Sikhs, sowie der schon einmal erfolgten Entführung und Bedrohung durch Kriminelle ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem Beschwerdeführer ist auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund seiner individuellen Umstände in Verbindung mit der allgemeinen Lage der Sikhs sowie der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation nicht zumutbar.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan im Alter von 18 Jahren verlassen und nie alleine und auf sich gestellt in Afghanistan gelebt. Er verfügt in Afghanistan über keine ihm bekannten Angehörigen oder sonstige Kontakte und somit kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Der Beschwerdeführer hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Angehörigen. Als Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Sikh ist er in Afghanistan massiver Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung und Einschränkungen in seinem Alltagsleben ausgesetzt. In Mazar-e Sharif und Herat gibt es keine Sikh-Gemeinschaften.
Der Beschwerdeführer ist ein junger und, trotz seiner Erkrankung an Hepatitis B, grundsätzlich arbeitsfähiger Mann. Er verfügt jedoch über keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung und wäre daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung in einer der genannten Städte zur Sicherung seines Lebensunterhaltes jedenfalls anfänglich auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, Teehäuser sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen derzeit geschlossen. Es wäre dem Beschwerdeführer, der als Sikh stark diskriminiert und eingeschränkt ist, keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung hat und in Afghanistan niemanden kennt, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden.
Die beim Beschwerdeführer vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),
- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)
- ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban; Stigmatisierung) vom 05.06.2020
- World Food Programme (WFP): Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 13 (Covering 2nd week of August 2020) - 12 August, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-weekly-market-price-bulletin-issue-13-covering-2nd-week, abgerufen am 12.08.2020 (WFP).
1.5.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Infolge der COVID-19-Pandemie und damit verbundener Importeinschränkungen sowie gestiegener Nachfrage sind die Preise für Lebensmittel in Afghanistan, insbesondere für Grundnahrungsmittel, seit Mitte März 2020 stark gestiegen. So stiegen die Preise zwischen 14. März und 12. August 2020 für Weizenmehl um 11 %, für Weizen um 12 %, für Speiseöl um 30 %, für Hülsenfrüchte um 28 %, für Zucker um 22 % und für Reis um 8 % bzw. 18 % (niedrige bzw. hohe Qualität) (WFP).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
1.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
1.5.5. Religionen
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
Sikhs und Hindus:
Die Gemeinschaft der Sikhs und Hindus schätzte 2018 ihre Größe in Afghanistan auf ca. 700 Mitglieder. Im Jahr 2017 hatte sie noch 1.300 Mitglieder umfasst, der Rest ist im Laufe des Jahres emigriert. Noch vor einigen Jahrzehnten lebten einige Hunderttausend Hindus und Sikhs in Afghanistan. Eine sich angeblich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Gemeinschaften, erhöhte Sicherheitsbedenken sowie fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt waren laut Sikh-Führern Hauptgrund einer verstärkten Emigration. Hindus und Sikhs leben im 1. Kabuler Stadtbezirk im Stadtteil Hindu Gozar sowie in den Provinzen Nangarhar und Ghazni. In Jalalabad war im Jänner 2017 weiterhin eine bedeutende Anzahl von Sikhs ansässig. Es gibt zwei aktive Gurudwaras (Gebetsstätten der Sikhs) in Kabul und vier Hindu-Tempel landesweit, davon zwei in Kabul sowie je einen in Jalalabad und Helmand (LIB, Kapitel 15.3).
Berichten zufolge werden Hindus und Sikhs von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung als Außenseiter betrachtet. Sie sind verbalen und physischen Übergriffen, Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, können jedoch ihren Glauben öffentlich ausüben. Quellen zufolge sind Hindus weniger gefährdet als Sikhs; der Grund dafür ist das Fehlen sichtbarer charakteristischer Merkmale (z. B. Kopfbedeckung) bei den Hindus. Sikhs sind zurückhaltend bei der Begehung religiöser Feste, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und der Staat hat nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Gemeinschaft vor alltäglichem sozialem Druck zu schützen. Der afghanische Staat verhält sich den in Afghanistan verbliebenen Sikhs gegenüber nicht feindlich. Staatliche Diskriminierung gibt es nicht, auch wenn der Weg in öffentliche Ämter für Hindus und Sikhs schon aufgrund fehlender Patronagenetzwerke schwierig ist (LIB, Kapitel 15.3).
Trotz gesellschaftlicher Diskriminierung bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften weiterhin Regierungsposten. Ein Sitz im Unterhaus ist für einen Vertreter der Hindu- und Sikh-Gemeinschaft reserviert. Hindus und Sikhs vermeiden nach eigenen Angaben Landstreitigkeiten über Gerichte beizulegen, da sie Angst vor Vergeltungsaktionen haben. Sie regeln Streitfälle mittels Gemeinschaftsversammlungen oder Mediation (LIB, Kapitel 16.3).
Berichten zufolge schicken Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaften ihre Kinder aus Angst vor Schikane durch ihre Mitschüler nicht in staatliche Schulen. In der Vergangenheit wurden die Kinder in privaten Hindu- und Sikh-Schulen unterrichtet, jedoch sind heutzutage viele davon geschlossen. Gemäß Angaben der Hindu- und Sikh-Gemeinschaften gibt es nur zwei funktionsfähige Schulen landesweit (Kabul, Jalalabad). Diese sind jedoch nicht für den Lehrbetrieb ausgestattet (LIB, Kapitel 15.3).
Viele Musliminnen und Muslime lehnen insbesondere die Feuerbestattung ab, die im Hinduismus und Sikhismus das zentrale Begräbnisritual darstellt. Hindus und Sikhs berichten weiterhin von Störungen während ihrer traditionellen Feuerbestattungen durch Anrainerinnen und Anrainer aus der Nähe ihrer Kremationsstätte (shamshan). Obwohl ihnen die Regierung Land für eben diesen Zweck zur Verfügung gestellt hat, beschweren sich Sikhs, dass der Ort zu weit von urbanen Zentren entfernt liege und dieser somit u.a. wegen der schlechten Sicherheitslage unbenutzbar sei. Die Regierung stellt Polizeischutz für die Sikh- und Hindugemeinschaft zur Verfügung, während diese ihre Kremationsrituale abhalten (LIB, Kapitel 15.3).
1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).
1.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.5.9. Relevante Provinzen und Städte
1.5.9.1. Herkunftsprovinz Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16 % gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70 % der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).
Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Schätzungen zufolge haben 32 % der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10 % der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.9.2. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif
Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).
Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).
In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).
Die in der Stadt Mazar-e Scharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und Rückkehrer/innen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand befinden. Dort gibt es ein gewisses Maß an Infrastruktur, und humanitäre Organisationen bieten dort ein gewisses Ausmaß an Unterstützung an. Es gibt dort einen gewissen Zugang zu soliden Unterkünften, Bildung und medizinischer Versorgung. Die beiden größten längerfristigen Siedlungen bzw. Stätten sind das Sakhi-Camp (20 km nordöstlich der Stadt), Qalen Bafan (im westlichen Teil von Mazar-e Sharif), sowie Zabihullah (etwa 20 km südöstlich der Stadt). Die dritte Kategorie von Gebieten sind jene Siedlungen oder Stätten, die erst vor kürzerer Zeit und aufgrund der anhaltenden und zunehmenden Vertreibung entstanden sind. Diese Siedlungen, die in der Regel von der Regierung nicht anerkannt werden, befinden sich häufig auf Landstrichen mit unklaren Eigentumsverhältnissen. In diesen neueren Siedlungen leben viele Menschen in Zelten, oft unter prekären Bedingungen und mit stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe. Es mangelt dort an Wasser, Strom und sozialen Einrichtungen. Im Prinzip ist die Situation hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser und anderen Dienstleistungen umso schlimmer, je weiter außerhalb der Stadt jemand lebt, wobei die Situation in den informellen Siedlungen bzw. Stätten am schlimmsten ist. Ob allerdings die Situation in der Innenstadt besser ist, hängt von den individuellen - insbesondere finanziellen - Umständen eines Binnenvertriebenen oder Rückkehrers ab (ACCORD Masar-e Sharif).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10-15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).
1.5.9.3. Provinz bzw. Stadt Herat
Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54 % gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).
Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stad