TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/19 W203 2181795-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2020
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Entscheidungsdatum

19.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W203 2181795-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Eva Jana MESSERSCHMIDT, RA in 1010 Wien, Salztorgasse 2/6, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2017, Zl. 1097600408 – 151919565, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.07.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, stellte am 30.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 02.12.2015 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er an, dass er am XXXX in der Provinz Paktia geboren worden und traditionell verheiratet sei. Er habe elf Jahre lang die Grundschule besucht und zuletzt als Bauangestellter gearbeitet. Sein familiäres Netzwerk bestehe aus seinen Eltern, seiner Ehefrau, einem Bruder und sieben Schwestern. Sein zweiter Bruder sei bereits verstorben. Zudem habe er eine Tante, die mit ihrem Mann in Österreich lebe.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab er an, dass sein Vater früher „für die Amerikaner“ gearbeitet und für diese Kasernenstützpunkte gebaut habe. Da bereits sein Bruder durch eine Bombe der Taliban ums Leben gekommen sei, würde auch ihm dasselbe Schicksal drohen. Er sei ebenfalls öfters von den Taliban bedroht worden. Deshalb habe er die Flucht ergreifen müssen.

3. Am 31.10.2017 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) im Beisein einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Im Zuge der Einvernahme legte er seine Tazkira, einen Drohbrief der Taliban, eine Bestätigung über den Tod seines Bruders sowie mehrere Kursbestätigungen und Empfehlungsschreiben vor und gab an, dass er am XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Paktia geboren und aufgewachsen sei. Er sei sunnitischer Moslem und gesund. Seine Eltern lebten gemeinsam mit seinen vier Schwestern und seinem Bruder in seinem Heimatdorf. Seine Ehefrau lebe ebenfalls in seinem Heimatdorf und werde vom Vater unterstützt. Seine Tante, mit der er ca. einmal im Monat Kontakt habe, lebe in Wien. Weiters lebten noch fünf Onkel und eine Tante in seinem Heimatdorf. Er stehe mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt. Der Beschwerdeführer gab an, dass er elf Jahre lange eine Grundschule in Shumkel besucht und anschließend für seinen Vater in einem Unternehmen für Baumaschinen gearbeitet habe. Er habe dort im Büro gearbeitet und sei für die Auszahlung der Löhne zuständig gewesen. Nachdem sein Bruder ermordet worden sei, habe ihm sein Vater nicht mehr erlaubt, die Schule weiter zu besuchen

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass das Unternehmen seines Vaters mit den Amerikanern kooperiert habe. Aufgrund dessen seien sein Vater und er von den Taliban mehrmals – insgesamt dreimal - bedroht worden. Mit den Drohungen seien sie aufgefordert worden, den Taliban Geld zu bezahlen oder diesen Waffen zu liefern. Nachdem sie den dritten Drohbrief erhalten hätten, hätten sie die Behörden benachrichtigt. Die Behörden hätten ihnen jedoch gesagt, dass sie nicht helfen könnten und dass das Unternehmen weder Geld noch Waffen an die Taliban liefern dürfe. Eine Woche nach dem Erhalt des letzten Drohbriefes seien Arbeiter des Unternehmens entführt worden und sein Bruder sei durch einen Bombenangriff getötet worden, als dieser eine der Baumaschinen gestartet habe. Dieser Vorfall sei im Jahr 2011 bzw. 2012 passiert. Im Oktober 2015 habe sein Vater einen zusätzlichen Drohbrief erhalten, in dem der Beschwerdeführer persönlich bedroht worden sei. Daraufhin sei er geflüchtet. Seit seiner Flucht sei das Unternehmen stillgelegt worden.

Auf die Frage der belangten Behörde, ob er jemals persönlich und konkret bedroht worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht persönlich bedroht worden sei.

In ihrem Heimatdorf hätte die Familie des Beschwerdeführers keine finanziellen Probleme. Sie besitze Grundstücke und Verkaufsflächen. Innerhalb seines Heimatdorfes sei die Sicherheitslage momentan sehr gut. Außerhalb seien viele Taliban und man könne sich nicht gut bewegen. Wenn er nicht mehr von den Taliban verfolgt werden würde und die Sicherheitslage besser werde, könne er wieder zu seiner Familie zurückkehren.

Zu seinem Leben in Österreich befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass er einen Deutschkurs besuche, Sport betreibe und in einem österreichischen Verein arbeite.

4. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.11.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, da er eine Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gewährt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung, konkret Verfolgung durch die Taliban, sein Heimatland verlassen habe. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei für die belangte Behörde unglaubwürdig, nicht nachvollziehbar und gesteigert gewesen. Insgesamt komme die belangte Behörde zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können.

Hinsichtlich einer Rückkehr stellte die belangte Behörde fest, dass eine solche in die Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Paktia, aufgrund der dort herrschenden volatilen Lage, momentan für ihn nicht zumutbar sei, ihm jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offenstehe. Er sei gesund, verfüge über eine Schulausbildung und Arbeitserfahrung. Er könne seinen Lebensunterhalt in Kabul selbst bestreiten. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gegenwärtig einer „spürbaren, stärkeren und besonderen Gefährdung“ ausgesetzt sei.

Der Beschwerdeführer habe in Österreich – abgesehen von einer Tante - keine Familienangehörigen oder Verwandten. Aufgrund einer Gesamtschau der Interessen und unter Beachtung aller bekannten Umstände ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung gerechtfertigt sei.

Der nunmehr angefochtene Bescheid wurde am 21.12.2017 zugestellt.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 03.01.2018 fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund des Umstandes, dass der Bruder des Beschwerdeführers von den Taliban umgebracht worden sei, nun das Leben des Beschwerdeführers ebenfalls in Gefahr sei. Der Beschwerdeführer habe seine Asylgründe schlüssig, ausführlich und glaubhaft angeführt. Die Organisation der Taliban habe sich laut einem Bericht von Dr. Antonio Guistozzi verbessert. Bei einer richtigen rechtlichen Beurteilung hätte die belangte Behörde zu dem Ergebnis kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigen zusteht.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul sei zudem für den Beschwerdeführer nicht zumutbar. Er verfüge in Kabul über kein unterstützendes soziales oder familiäres Umfeld. Außerdem sei die Sicherheitslage in Kabul weiterhin nicht sicher. Zudem sei die Sicherheitslage in Afghanistan allgemein prekär und verschlechtere sich stetig.

6. Einlangend am 04.01.2018 wurde die Beschwerde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

7. Am 26.06.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine erste, von der damals zuständigen Gerichtsabteilung W259 durchgeführte öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der der Beschwerdeführer bzw. dessen Vertretung sowie die belangte Behörde als Parteien geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde erschien zur Verhandlung nicht. Im Zuge der Verhandlung legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Unterlagen sowie zwei ÖSD Zertifikate (A1 und A2) und eine Bestätigung über die Mitgliedschaft und die Trainingsteilnahme bei „Shinergy“ vom 21.06.2018 vor.

In der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er gesund sei. Bei der Einvernahme vor der belangten Behörde sei es zu Missverständnissen bei einigen Zeitangaben gekommen. Sein Bruder sei richtigerweise im Jahr 2010 gestorben. Den persönlich gegen seine Person gerichteten Drohbrief der Taliban habe er nach dem afghanischen Kalender im 11. Monat (Anm. des Jahres 2015) erhalten. In Afghanistan habe er die Schule bis zur 10. Klasse besucht.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers lebe nach wie vor in Afghanistan, er habe zu dieser regelmäßig, aber nicht sehr viel Kontakt mit seiner Familie, weil es „Internetprobleme“ gebe.

Nachgefragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er und seine Familienangehörigen aufgrund ihrer Arbeit für die Amerikaner als Ungläubige bezeichnet worden seien. Bei dem Begräbnis seines Bruders habe er zudem in aller Öffentlichkeit den damaligen Anführer der Taliban namens XXXX beschimpft. Die Stammesangehörigen seien daraufhin beleidigt gewesen. Zwei Tage nach dem Begräbnis habe der Mörder seines Bruders und Kommandant der Taliban (Spitzname „ XXXX “), seinen Vater angerufen und gesagt, dass er seinen Bruder getötet habe und nun auch das Leben der restlichen Familie in Gefahr sei. Dieser Mann sei zudem ein Nachbar von ihnen gewesen. Er habe den Mörder seines Bruders daraufhin bei den Amerikanern verraten, die daraufhin dessen Haus gestürmt hätten. Er sei allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht zuhause gewesen. Deswegen habe er die Familie dieses Mannes entehrt und ihm auf diese Weise geschadet. Bei einer Rückkehr drohe ihm dadurch Verfolgung durch diese Person.

Einen weiteren Drohbrief habe er von einem Talibankommandanten namens XXXX erhalten. Insgesamt habe er drei Drohbriefe im Jahr 2015 erhalten. Im dritten Drohbrief hätten sie ihn ein letztes Mal gewarnt und mit dem Tod bedroht für den Fall, dass er den Forderungen nicht nachkomme.

Auf Nachfrage gab er an, dass er noch nie einen persönlichen Kontakt mit den Taliban gehabt habe. Seit seiner Ausreise habe es keine Vorfälle oder Kontaktaufnahmen seitens der Taliban gegeben. Die Taliban wüssten mittlerweile über Facebook, dass er in Österreich sei.

Auf Nachfrage führte er aus, dass die Taliban sicher mehr als zehn Mal persönlich Leute zu seinem Vater geschickt hätten.

Er sei in Gefahr gewesen, da er den damaligen Anführer der Taliban in der Öffentlichkeit beschimpft und einen Kommandanten der Taliban bzw. den Mörder seines Bruders verraten habe, woraufhin die Amerikaner dessen Haus gestürmt und Waffen mitgenommen hätten.

Nachgefragt führte er aus, dass seine Familie noch immer in seinem Heimatdorf lebe. Konkret seien dies seine Eltern mit seinen vier Schwestern und seinem Bruder, die im selben Haushalt lebten. Drei seiner Schwestern lebten in den Heimatdörfern bei deren Schwiegereltern. Zudem lebten fünf Onkeln und zwei Tanten in seinem Heimatdorf. Drei seiner Onkel seien Taliban. Seine Familie lebe von Mieteinnahmen. Zu seinen Eltern und Geschwistern habe er Kontakt.

8. Am 23.07.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht – nach nunmehriger, durch den Geschäftsverteilungsausschuss des BVwG erfolgter Zuweisung des Verfahrens an die Gerichtsabteilung W203 - eine mündliche Verhandlung durch, zu der der Beschwerdeführer sowie die belangte Behörde als Parteien geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Im Zuge der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er seit einigen Monaten unter Stress leide, aber trotzdem der Verhandlung gut folgen könne. Er legte u.a. einen Psychiatrischen Befundbericht vom 20.07.2020 vor, aus dem hervorgeht, dass er sich aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer nicht organischen Insomnie seit 16.09.2019 in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung befindet.

Der Beschwerdeführer gab an, dass er in Österreich einen B1-Deutschkurs absolviert habe, diesen aber nicht habe abschließen können, da es ihm im Jahr 2018 aufgrund seiner psychischen Probleme sehr schlecht gegangen sei.

Er habe ca. ein Jahr vor seiner Einreise in Österreich seine Frau namens XXXX geheiratet, diese halte sich derzeit zeitweise bei ihrer Familie und zeitweise bei der Familie des Beschwerdeführers auf. Kinder habe der Beschwerdeführer keine.

Er habe Afghanistan ca. im Herbst 2015 verlassen.

In Afghanistan lebten noch die Eltern des Beschwerdeführers, dessen Schwestern und ein Bruder. Das Haus, in dem die Familie des Beschwerdeführers gewohnt habe, sei bei einem Bombenangriff zerstört worden, jetzt lebe die Familie des Beschwerdeführers in einer anderen Unterkunft ca. 20 Minuten Fahrzeit mit dem Auto entfernt vom ursprünglichen Wohnsitz. Die Familie des Beschwerdeführers habe „wirtschaftliche und Sicherheitsprobleme“, sein Vater leide seit gut einem halben Jahr an einer linksseitigen Körperlähmung.

Zu seinen Aktivitäten in Österreich befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er regelmäßig ins Fitnessstudio trainieren gehe, vor der Corona-Krise einen Kurs besucht habe und ab August einen neuen Deutschkurs besuchen werde. Samstag arbeite er ehrenamtlich, indem er Gemüse, Blumen und Bäume pflanze, könne dafür aber keine Bestätigung vorlegen, weil der Arbeitgeber derzeit auf Urlaub sei. Er bestreite seinen Lebensunterhalt von „Geld von der Caritas und vom Integrationshaus“ und sei nicht Mitglied in einem Verein. Seine Freizeit verbringe er sowohl mit Afghanen als auch mit Österreichern, eine spezielle Bezugsperson hier in Österreich gebe es aber nicht. Die Ehefrau eines Freundes von ihm, die auch Deutschlehrerin sei, habe ihm Deutsch beigebracht und geholfen, die österreichische Kultur kennenzulernen. Einige auf Deutsch und ohne Übersetzung durch den Dolmetscher gestellte Fragen des Richters konnte der Beschwerdeführer nur schleppend und unter Verwendung eines geringen, einfachen Wortschatzes beantworten. Während der Beantwortung der Frage, was dem Beschwerdeführer an Wien, der Stadt in der schon einige Jahre lebe, besonders gut gefalle, wechselte dieser – nachdem er auf Deutsch geantwortet hatte, dass es viele Möglichkeiten gebe und es ihm in Österreich und in ganz Europa gut gefalle - wieder in seine Muttersprache Paschtu. An bekannten österreichischen Persönlichkeiten konnte der Beschwerdeführer lediglich Bundespräsident van der Bellen nennen, an aktuellen Politikern fiel ihm der Name Strache ein, während er angab, den Bundeskanzler zwar zu kennen, dass er aber dessen Namen momentan nicht nennen könne.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er das Land verlassen habe, weil er in Afghanistan viele Probleme gehabt habe. Auch sei sein Leben in Gefahr gewesen und er habe dort keine Ausbildung machen können. Er sei nicht zum Urlaub nach Österreich gekommen, sondern um hier Schutz zu suchen. Konkret fluchtauslösend seien einige Ereignisse gewesen – so habe seine Familie Drohbriefe von den Taliban erhalten und sein Bruder sei getötet worden. Daraufhin habe der Vater des Beschwerdeführers gemeint, dass dieser flüchten solle, da ansonsten auch er getötet werde. Die Probleme mit den Taliban hätten ca. 2008 oder 2009 begonnen und würden immer noch andauern. Grund für die Probleme sei gewesen, dass – nachdem die Amerikaner in das Heimatdorf des Beschwerdeführers gekommen seien – die Einheimischen Verträge mit diesen abgeschlossen hätten. Die Leute hätten für die Amerikaner bzw. mit den Amerikanern gearbeitet, woraufhin ihnen von den Taliban vorgeworfen worden sei, dass sie für die „Ungläubigen“ arbeiten würden. Darum sei auch sein Bruder getötet worden. Nach dessen Tod habe er seinen Vater in der Firma unterstützt. Die ganze Familie des Beschwerdeführers sei an der Firma beteiligt gewesen. Er habe dort kurz nach dem Tod seines Bruders im Jahr 2010 zu arbeiten begonnen. Die Firma, die aus ca. 30 Personen bestanden habe, habe einen Vertrag mit den Amerikanern gehabt, dem zu Folge sie an diese Asphalt, Wasser, Sprit und auch andere Güter hätten liefern müssen. Der Beschwerdeführer selbst habe eine Bürotätigkeit ausgeübt, indem er die Gehälter an die Mitarbeiter ausgezahlt habe. Die Firma habe auch diverse Fahrzeuge, die man für den Straßenbau benötigt, wie Tanker, Lastenkipper, Schaufelbagger und sonstige Lastkraftwagen an die Amerikaner vermietet, und auch die dafür erforderlichen Fahrer zur Verfügung gestellt. Die Fahrer seien aber inzwischen von den Taliban getötet und die Fahrzeuge niedergebrannt worden.

Die Zusammenarbeit mit den Amerikanern habe bis 2015 gedauert, nachdem die Amerikaner das Dorf verlassen hätten, sei das Leben der Familie in Gefahr gewesen. Es habe immer Drohungen durch die Taliban gegeben und 2015 habe der Beschwerdeführer nicht mehr in sein Heimatdorf gehen können. Er habe persönlich nie Kontakt mit den Taliban gehabt. Wäre dies der Fall gewesen, hätten sie ihn mitgenommen und getötet. Er sei aber immer wieder gewarnt worden und habe sich so vor den Taliban schützen können.

Nach dem Tod seines Bruders habe der Beschwerdeführer die Taliban und deren Anführer beleidigt und das Haus eines Taliban-Kommandanten an die Amerikaner verraten, woraufhin die Polizei dort Waffen sichergestellt und einen Bruder des Kommandanten festgenommen habe. Die Taliban seien deswegen über den Beschwerdeführer sehr verärgert gewesen. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban auch Waffen und Geld von seiner Familie verlangt hätten. Im Dorf sei dies die einzige große Firma gewesen, sodass die Taliban gerade von der Familie des Beschwerdeführers Geld gefordert hätte. In Afghanistan sei es üblich, dass alle, die etwas besitzen, eine Art Zoll an die Taliban abliefern müssten.

Die Probleme des Beschwerdeführers beruhten sowohl darauf, dass er sich geweigert habe, Geld an die Taliban abzuführen, als auch darauf, dass er mit den Amerikanern zusammengearbeitet habe.

Der Bruder des Beschwerdeführers, der Fahrer eines Schaufelbaggers gewesen sei, sei ebenfalls bedroht und aufgefordert worden, die Firma zu schließen. Eines Samstags – als der Beschwerdeführer in der Schule gewesen sei – sei dessen Bruder als erstes Familienmitglied beim Abstellplatz der Fahrzeuge gewesen und beim Versuch, die Maschine zu starten, durch eine Bombe getötet worden. An das genaue Datum, wann der Vorfall passiert sei, könne er sich nicht erinnern, es dürfte aber im elften Monat des Jahres 2010 gewesen sein. Der Standort der Maschinen sei an sich von zwei Securities bewacht worden, diese seien aber von den Taliban entführt worden, bevor der Bruder des Beschwerdeführers dort eingetroffen sei. Er vermute, dass der Umstand, dass keine Wachen vor Ort waren, seinem Bruder deswegen nicht befremdlich vorgekommen sei, weil er angenommen habe, dass sich diese bereits schlafen gelegt hätten, um sich von der Nachtschicht zu erholen. Als es zur Explosion gekommen sei, seien auch andere Firmenmitarbeiter vor Ort gewesen, einige hätten dabei „oberflächliche Verletzungen“ erlitten. Der Beschwerdeführer sei sicher, dass es sich um einen gezielten Anschlag der Taliban gehandelt habe, weil vorher die Drohbriefe zum Einsatz gekommen seien. Wenn es ein Unfall gewesen wäre hätten die Taliban nicht vorher die Wachen mitgenommen. Nachgefragt bezüglich des weiteren Schicksals der von den Taliban entführten Wachen gab der Beschwerdeführer an, dass diese freigekommen wären, nachdem sie den Taliban dafür gebürgt hätten, nicht mehr für die Firma zu arbeiten. Konkret verantwortlich für den Tod des Bruders des Beschwerdeführers sei ein „sehr bekannter Kommandant namens XXXX “.

Nachdem der Beschwerdeführer das Land verlassen habe sei die Firma geschlossen worden, nachdem die Fahrzeuge und Maschinen von den Taliban zerstört worden wären. Die Firma habe einen großen wirtschaftlichen Verlust erlitten und die nicht zerstörten Maschinen den Gläubigern ausgefolgt. Die Familie des Beschwerdeführers sei auch danach weiterhin bedroht worden und habe deswegen das Haus verlassen müssen. Die Umstände für die Familie seien „unglaublich schwierig“, sie könne kein normales Leben führen. Die Schwestern des Beschwerdeführers könnten nicht mehr zur Schule gehen.

Auf die Frage, ob er ernsthaft glaube, dass die Taliban nach so vielen Jahren immer noch ein Interesse an ihm hätten, gab der Beschwerdeführer an, dass man – wenn man einmal auf die „schwarze Liste“ der Taliban gekommen sei - getötet werde. Schon „normale“ Firmenangestellte seien getötet worden, die Mitglieder der Familie des Beschwerdeführers seien als Besitzer bzw. Teilhaber der Firma das eigentliche Primärziel der Taliban. Sie würden daher nicht nur in ihrem Wohngebiet, sondern in ganz Afghanistan bedroht und verfolgt werden.

Die Vertreterin des Beschwerdeführers führte aus, dass Personen, die sich nach Ansicht der Taliban in der Form wie der Beschwerdeführer fehlverhalten hätten, keine Chance auf Reue oder Wiedergutmachung hätten. Aufgrund des funktionierenden Nachrichtendienstes der Taliban sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr überall im Land gefunden werden könne und einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seiner Familie:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist am XXXX in XXXX , Provinz Paktia geboren. Er ist afghanischer Staatsbürger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan am Ende des Jahres 2015 verlassen und ist spätestens am 02.12.2015 illegal in Österreich eingereist.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor in Afghanistan in der Provinz Paktia. Der Beschwerdeführer hat – soweit es die Internetverbindung zulässt - regelmäßig Kontakt zu seiner Familie.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan ca. 10 Jahre die Grundschule besucht, danach hat er für mehrere Jahre in einer Strassenbaufirma als Lohnverrechner eine Bürotätigkeit ausgeübt.

Der Beschwerdeführer hält sich seit ca. vier Jahren und acht Monaten in Österreich auf. Er hat diesen Zeitraum nicht bzw. nur wenig genutzt, um sich in Österreich sozial zu integrieren.

Der Beschwerdeführer verbringt seine Zeit mit Deutschlernen und betätigt sich sportlich. Er ist auch in geringem Umfang ehrenamtlich tätig. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt vor allem durch die Grundversorgung.

Der Freundeskreis des Beschwerdeführers besteht sowohl aus Afghanen als auch aus Österreichern. Er verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte, lebt nicht in einer Partnerschaft und hat in Österreich keine spezielle Bezugsperson. Er ist nicht Mitglied in einem Verein.

Der Beschwerdeführer ist kaum – und wenn, dann nur in einfachen Sätzen und mit entsprechenden Pausen – in der Lage, auf Deutsch kommunizieren. Er verfügt – bezogen auf seine bereits sehr lange Aufenthaltsdauer in Österreich - über nur mäßige Deutschkenntnisse. Er kennt – mit ganz wenigen Ausnahmen – keine aktuellen oder historischen österreichischen Persönlichkeiten oder Politiker.

Der Beschwerdeführer leidet seit 2018 an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an einer nichtorganischen Insomnie und befindet sich seit Juni 2019 in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung. Eine Behandlung seiner Erkrankung in Afghanistan ist möglich.

Es ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit mit für ihn schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen an Covid-19 erkranken wird.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan im Jahr 2015 auf Anraten seines Vaters verlassen.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nicht die Gefahr, aufgrund seiner ehemaligen Berufstätigkeit in einer Firma, die für die in Afghanistan stationierten amerikanischen Streitkräfte tätig war, in Zusammenhang mit einer gegen die Taliban gerichteten oppositionellen politischen Gesinnung verfolgt zu werden.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr keine konkrete, gegen ihn als Einzelperson gerichtete Verfolgung durch die Taliban.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr auch keine Verfolgung aus einem sonstigen in der GFK genannten asylrelevanten Grund.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Paktia aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung bzw. Abschiebung nach Afghanistan nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Der Beschwerdeführer leidet an keinen derart schwerwiegenden oder chronischen Krankheiten, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Bezugnehmend auf die sonstigen Verfahrensergebnisse sind vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Afghanistan keine Hinweise auf eine allfällige Gefährdung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat hervorgekommen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ist der Beschwerdeführer in der Lage, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich mit den daraus zu erzielenden Einkünften selbst erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zur aktuellen Lage in Afghanistan:

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, zuletzt gesamtaktualisiert am 13.11.2019 und mit der zuletzt eingefügten Kurzinformation vom 18.05.2020, wird auszugsweise und beschränkt auf die relevanten Abschnitte wie folgt angeführt:

1.4.1. Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.3. Zur aktuellen Lage hinsichtlich Covid-19:

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen, Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

1.4.4. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.4.5. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

1.4.6. Rekrutierung durch die Taliban

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht, Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).

1.4.7. Provinzen und Städte

1.4.7.1. Provinz Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Die Provinz hat 1.475.649 Einwohner (LIB, Kapitel 3.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.4.7.2. Provinz Paktia

Letzte Änderung: 22.4.2020

Paktika liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Sie grenzt im Nordwesten an Ghazni, im Norden an Paktia und Khost, im Osten an die Stammesdistrikte Nord- und Süd-Wasiristan (Pakistan), im Süden an Belutschistan (Pakistan) und im Südwesten an Zabul (UNOCHA 4.2014pk; vgl. NPS o.D.pk). Die Provinzhauptstadt ist Sharan/Sharana. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot) und Ziruk (CSO 2019; vgl. IEC 2018, UNOCHA 4.2014pk, NPS o.D.pk, PAJ o.D.pk, AAN 13.11.2018). Gemäß Angaben auf der offiziellen Website des Büros des afghanischen Präsidenten verfügt die Provinz auch über die folgenden vier nicht offiziellen Distrikte: Shakeen, Bak Khil, Charbaran und Shakhil Abad (OPr 1.2.2018pk).

Die Provinz besteht aus drei Teilregionen: der nördlich-zentralen Teilregion, der südöstlichen Teilregion entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und der südwestlichen Teilregion, genannt Katawaz, die früher Teil von Ghazni war. Darüber hinaus spielen die lokalen Stammesbeziehungen in der Provinz nach wie vor eine wichtige Rolle (AAN 13.11.2018; vgl. AAN 11.12.2018).

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Paktika für den Zeitraum 2019-20 auf 762.108 Personen (CSO 2019). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen mit einer tadschikischen Minderheit in den Städten Sharan und Urgoon (AAN 13.11.2018).

Eine Autobahn verbindet die Provinzen Ghazni und Paktika und führt zur afghanisch-pakistanischen Grenze (MoPW 16.10.2015; vgl. PAJ 13.12.2018) zum Grenzübergang Angoor Ada (PAJ 22.4.2017; vgl. Dawn 25.5.2016). Immer wieder kommt es durch die Taliban zu temporären Sperren und sicherheitsrelevanten Vorfällen auf den Straßen der Provinz Paktika (PAJ 13.12.2018; PAJ 7.6.2018; PAJ 20.8.2018).

Laut UNODC Opium Survey 2018 ist Paktika seit 2014 schlafmohnfrei (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Sowohl die Taliban, als auch das Haqqani-Netzwerk sind in einigen Distrikten der Provinz Paktika aktiv (KP 4.4.2019), wobei einer lokalen Quelle zufolge die Taliban im November 2018 bei der Durchführung von Angriffen gegen regierungsfreundliche Kräfte in Paktika nicht sehr aktiv waren (AAN 13.11.2018). Ende 2018 waren die Taliban in vielen Gebieten der Provinz Paktika vorherrschend. Einige Distrikte standen entweder vollständig unter der Kontrolle der Taliban oder waren umstritten (AAN 11.12.2018), wie z.B. die Distrikte Nika und Omna. Zu anderen Zeitpunkten war die Kontrolle der Regierung in der Provinzhauptstadt und in den Distrikten Mata Khan, Yosuf Khel, Zarghun Shahr, Urgoon und Yahya Khel stark (AAN 13.11.2018). Wobei der Distrikt Yahya Khel als einer der friedlichsten Distrikte in Paktika beschrieben (AAN 11.12.2018).

Das Haqqani-Netzwerk begann in Loya Paktya, einem Gebiet, das sich aus den Provinzen Khost, Paktia und Paktika zusammensetzt, einige Jahre vor 2011 zu expandieren (AAN 24.11.2011); dessen Haupteinsatzgebiet war das Zadran-Tal zwischen Paktia, Paktika und Khost, das als Korridor von Pakistan nach Ghazni und Logar durch die Distrikte Spera in Khost, Giyan in Paktika und Zurmat in Paktia diente (Ruttig 2009; vgl. UNOCHA 4.2014pk). Unter der Schirmherrschaft der Taliban versucht al-Qaida in den Povinzen Badakhshan (Distrikt Shighnan) und Paktika, im Distrikt Barmal, Fuß zu fassen (FE 30.7.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Paktika in der Verantwortung des 203. ANA Corps, das unter die Task Force Southeast fällt, die von US-Truppen geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 30.5.2019).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 168 zivile Opfer (128 Tote und 40 Verletzte) in der Provinz Paktika. Dies entspricht einer Steigerung von 11% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Suchoperationen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffe (UNAMA 2.2020).

In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen gegen Aufständische durch die afghanischen Sicherheitskräfte (KP 19.5.2019; AN 13.5.2019; KP 4.4.2019; KP 25.12.2018; ST 26.12.2018; KP 13.12.2018; PAJ 6.11.2018). Im Dezember 2018 wurden in Folge von Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Aufständischen mindestens 35 Schulen in der Provinz Paktika, die meisten davon im Distrikt Dila Wa Khushamand, geschlossen (PAJ 16.12.2018)

Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2018 kam es in Teilen von Surobi, Sar Rawzah, Mata Khan und Sharan zu einigen Sicherheitsvorfällen (AAN 13.11.2018).

1.4.7.3. Provinz Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 3.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2018 gab es 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.13).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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