TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/20 W227 2181999-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.08.2020
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Entscheidungsdatum

20.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W227 2182013-1/11E

W227 2182002-1/12E

W227 2181992-1/11E

W227 2182010-1/11E

W227 2182005-1/12E

W227 2182008-1/10E

W227 2181997-1/10E

W227 2181999-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerden der afghanischen Staatsangehörigen (1.) XXXX , geboren am XXXX , (2.) XXXX , geboren am XXXX , (3.) XXXX , geboren am XXXX , (4.) XXXX , geboren am XXXX , (5.) XXXX , geboren am XXXX , (6.) XXXX , geboren am XXXX , (7.) XXXX , geboren am XXXX und (8.) XXXX , geboren am XXXX gegen die Spruchteile I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) (1.), (5.), (6.), (7.) und (8.) vom 27. Oktober 2017, (2.) vom 14. November 2017, sowie (3.) und (4.) vom 3. November 2017, Zlen. (1.) 108897106-151447405, (2.) 1088977602-151447413, (3.) 1088977700-151447421, (4.) 1088978000-151447430, (5.) 1088978501-151447448, (6.) 1088978610-151447456, (7.) 1088978708-151447464 und (8.) 1088978708-151447464, zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und (1.) XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX , (4.) XXXX , (5.) XXXX , (6.) XXXX , (7.) XXXX und (8.) XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass (1.) XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX , (4.) XXXX , (5.) XXXX , (6.) XXXX , (7.) XXXX und (8.) XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführer (die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer) sind afghanische Staatsangehörige, schiitischen Glaubens und Angehörige der Volksgruppe der Hazara.

Die Beschwerdeführer brachten am 28. September 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Bei ihrer Erstbefragung gaben die Beschwerdeführer u.a. Folgendes an:

Die Erstbeschwerdeführerin sei in XXXX , Distrik XXXX , Provinz Ghor geboren und habe sich zuletzt in der Stadt Herat, Provinz Herat, aufgehalten. Dort seien die Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer geboren und aufgewachsen. Afghanistan hätten die Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer im Jahr 2008 legal Richtung Iran verlassen, da sie von den aus der ersten Ehe stammenden Söhnen des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vaters der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer verfolgt worden seien. Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer seien von den aus erster Ehe stammenden Söhnen ihres Ehemannes bzw. Vaters geschlagen worden. Diese hätten die Beschwerdeführer auch im Iran gefunden und geschlagen. Im Jahr 2011 sei der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer umgebracht worden. Zu diesem Zeitpunkt sei die Erstbeschwerdeführerin schwanger gewesen; die Achtbeschwerdeführerin sei 2012 im Iran geboren. Aufgrund des Todes ihres Ehemannes bzw. Vaters hätten die Beschwerdeführer den Iran verlassen.

2. Bei ihrer Einvernahme vor dem BFA am 23. Oktober 2017 gaben die Beschwerdeführer zusammengefasst Folgendes an:

Die Erstbeschwerdeführerin habe keine Schule in Afghanistan besuchen können und sei Hausfrau gewesen, ihr Ehemann bzw. der Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer habe mit Tieren gehandelt. Finanziell sei es ihnen „gut“ gegangen. Zuletzt hätten sie sich in der Herat aufgehalten, wo sie ein Haus und Grundstücke besessen hätten.

Afghanistan hätten sie verlassen, da die Beschwerdeführer „Probleme“ mit den aus erster Ehe stammenden Söhnen des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vaters der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer gehabt hätten. Diese hätten XXXX und XXXX geheißen. Als Grund für die Verfolgung gaben die Beschwerdeführer an, dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer eine Angehörige der Volksgruppe der Hazara geheiratet habe, was den aus erster Ehe stammenden Söhnen missfallen habe. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer sei Usbeke gewesen. Die Erst- bis Siebtbeschwerdeführer seien deshalb in den Iran gereist, wo die Söhne sie jedoch nach einiger Zeit gefunden hätten. Die Erstbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführer und der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer seien sowohl in Afghanistan als auch im Iran von diesen Söhnen mit „voller Brutalität“ geschlagen worden. Die Zweitbeschwerdeführerin sei von ihnen sexuell missbraucht worden. Die Zweitbeschwerdeführerin habe auch gesehen, wie die Viertbeschwerdeführerin von diesen Söhnen „sexuell ausgenützt“ worden sei. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer sei im Jahr 2011 getötet worden. Die Beschwerdeführer wüssten jedoch nicht, wie er zu Tode gekommen sei. Sie gingen allerdings davon aus, dass es die Söhne gewesen seien. Überdies hätte die Zweitbeschwerdeführerin nach dem Tod ihres Vaters mit einem Onkel dieser Söhne zwangsverheiratet werden sollen. Da die Erstbeschwerdeführerin gegen diese Zwangsverheiratung gewesen sei, seien die Beschwerdeführer mit dem Umbringen bedroht worden.

Im Falle einer Rückkehr, würden die Beschwerdeführer von den aus erster Ehe stammenden „Söhnen“ ihres Ehemannes bzw. Vaters umgebracht. Die Zweitbeschwerdeführerin sei überdies medial bekannt, da sie in Österreich in einem Film mitgespielt habe, wo sie kein Kopftuch getragen habe.

In Folge legten die Beschwerdeführer Folgende Dokumente vor:

?        ein Konvolut an medizinischen Unterlagen der Erstbeschwerdeführerin, wonach diese an einer schwergradigen depressiven Störung leide und sich deshalb in Therapie befinde und Medikamente einnehme

?        ein Konvolut an medizinischen Unterlagen der Zweitbeschwerdeführerin, wonach diese an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und sich deshalb in Psychotherapie befinde und Medikamente einnehme

?        Bestätigungen der Zweitbeschwerdeführerin über ihren Besuch des „Start Wien – das Jugendcollege“ vom 20. Oktober 2016 und vom 21. Juli 2017

?        ein Empfehlungsschreiben der Caritas XXXX über die Teilnahme und Mitwirkung der Zweitbeschwerdeführerin an Tanzworkshops und Veranstaltungen vom 18. Oktober 2017

?        eine Bestätigung des Drittbeschwerdeführers über den Besuch des „Start Wien – das Jugendcollege“ vom 20. Oktober 2017

?        eine Bestätigung über die regelmäßige Teilnahme des Drittbeschwerdeführers beim Fußballtraining der XXXX vom 18. Oktober 2017

?        ein Zeugnis der Viertbeschwerdeführerin über die Integrationsprüfung A2 vom 28. August 2017

?        ein Empfehlungsschreiben der Caritas XXXX über die Teilnahme und Mitwirkung der Viertbeschwerdeführerin an Tanzworkshops und Veranstaltungen vom 18. Oktober 2017

?        eine Bestätigung von Interface Wien über die Teilnahme der Viertbeschwerdeführerin an der Veranstaltung „Das österreichische Schulsystem“ vom 12. September 2017

?        eine Bestätigung der Viertbeschwerdeführerin über den Besuch des „Start Wien – das Jugendcollege“ vom 19. Oktober 2017

?        eine Deutschkursbestätigung des Fünftbeschwerdeführers vom 3. Februar 2017

?        eine Bestätigung von Interface Wien über die Teilnahme des Fünftbeschwerdeführers an der Veranstaltung „Gleichstellung der Geschlechter in der Familie und in der Erziehung“ vom 3. Oktober 2017

?        eine Bestätigung von „Open Piano for Refugees“ über die Teilnahme der Fünft- bis Siebtbeschwerdeführer am Klavierunterricht vom 22. Oktober 2017

?        ein Empfehlungsschreiben der Nachhilfelehrerin der Sechst- und Siebtbeschwerdeführerinnen

3. Mit den angefochtenen Bescheiden wies das BFA die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (jeweils Spruchteil I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu (jeweils Spruchteil II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG befristete Aufenthaltsberechtigungen (1.), (5.), (6.), (7.) und (8.) bis zum 27. Oktober 2018, (2.) bis zum 15. November 2018, (3.) und (4.) bis zum 3. November 2018 (jeweils Spruchteil III.).

Zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführer stellte das BFA u.a. Folgendes fest:

Ihre Identität stehe fest; sie seien afghanische Staatsangehörige, schiitischen Glaubens und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Sie hielten sich zuletzt in der Stadt Herat auf.

Es sei nicht glaubwürdig, dass die Beschwerdeführer von den „Brüdern“ (wohl gemeint: „Söhnen) der Ex-Frau ihres Ehemannes bzw. Vaters verfolgt würden. So sei die Erstbeschwerdeführerin weder in der Lage gewesen, konkrete Vorkommnisse im Detail zu benennen noch sei es ihr möglich gewesen, Namen, Orte und Zeitpunkte betreffend allfällige Übergriffe durch diese Personen anzugeben. Es sei aufgrund der vagen und substanzlosen Behauptungen davon auszugehen, dass eine konstruierte Fluchtgeschichte vorliege. Es sei auch nicht glaubwürdig, dass die Zweitbeschwerdeführerin „sexuell ausgenützt“ worden sei. So habe sie dies weder in ihrer Erstbefragung angegeben, noch würden sich entsprechende Hinweise aus der Einvernahme der Viertbeschwerdeführerin ergeben. Die Viertbeschwerdeführerin habe überdies betont, dass sie selbst keinen Kontakt zu ihren Halbbrüdern im Iran gehabt habe. Ihre Halbbrüder hätten die Viertbeschwerdeführerin auch nie geschlagen. Selbst bei einer Wahrunterstellung der ins Treffen geführten Verfolgung, würden die Beschwerdeführer nicht in ganz Afghanistan asylrelevant verfolgt. Vielmehr bestünde für die Beschwerdeführer in Herat und Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative. Überdies habe nicht festgestellt werden können, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr aufgrund einer „wesentlichen Lebensführung“ verfolgt würde.

Rechtlich begründete das BFA die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten damit, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA mit der physischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin und der weiterhin erforderlichen Therapie „in Konjunktion“ mit den zu versorgenden vier minderjährigen Kindern.

4. Gegen die Spruchteile I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerden, in welchen sie zusammengefasst Folgendes vorbringen:

Die Erstbeschwerdeführerin befinde sich in Österreich wegen einer schweren depressiven Störung in psychiatrischer Behandlung, weshalb das BFA die Auswirkung dieser Behandlung auf ihr Aussagevermögen prüfen hätte müssen. Ihr gesundheitlicher Zustand sei auch nicht in die Beweiswürdigung miteinbezogen worden. Der verstorbene Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer habe eine Angehörige der Volksgruppe der Hazara – damit sei die Erstbeschwerdeführerin gemeint – gegen den Willen der aus erster Ehe stammenden Söhne des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweit- bis Achtbeschwerdeführer geheiratet. Dadurch habe er die Ehre seiner Familie verletzt. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der Familie“ würden die Beschwerdeführer in Afghanistan asylrelevant verfolgt.

5. Mit Schreiben vom 2. Mai 2019 legten die Beschwerdeführer ergänzend folgende Integrationsdokumente vor:

?        eine Teilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführerin von XXXX über die Bildungsveranstaltung „Videokamera kompakt“ vom 29. Juni 2017

?        eine Teilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführer für den Workshop „Demokratie in Österreich“ vom 25. April 2017

?        ein Zeugnis der Zweitbeschwerdeführerin über die Integrationsprüfung A1 vom 15. November 2018

?        eine Teilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführerin am „Werte- und Orientierungskurs“ vom 15. April 2016

?        eine Teilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführerin an der Diskussionsrunde „Interreligiöse Bildung für junge Menschen“ vom 2. Dezember 2017

?        eine Teilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführerin am Arbeitstraining „Kartonfabrik“ vom 11. April 2018

?        eine Bestätigung über die Mitarbeit der Zweitbeschwerdeführerin in der Upcyclingwerkstatt für Jugendliche vom 21. Dezember 2017

?        eine Teilnahmebestätigung des Drittbeschwerdeführers von „StartWien- das Jugendcollege“ im Zeitraum 3. Oktober 2016 bis 6. August 2018 im Ausmaß von 20 Stunden/Woche

?        eine Teilnahmebestätigung des Drittbeschwerdeführers am „Werte- und Orientierungskurs“ vom 3. Dezember 2018

?        ein Zeugnis des Drittbeschwerdeführers über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

?        eine Teilnahmebestätigung der Viertbeschwerdeführerin am „Werte- und Ortientierungkurs“ vom 3. Dezember 2018

?        ein Zeugnis der Viertbeschwerdeführerin über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

?        ein Zertifikat über die Teilnahme der Viertbeschwerdeführerin am Seminar „Deutsch und Alphabetisierung für Personen mit maximal Pflichtschulabschluss “ vom 12. April 2019

?        eine Teilnahmebestätigung der Viertbeschwerdeführerin an der Diskussionsrunde „Interreligiöse Bildung für junge Menschen“ vom 2. Dezember 2017

?        zahlreiche Fotos

6. Mit Schreiben vom 30. April 2020 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerdeführer um Vorlage (aktueller) Integrationsdokumente sowie um Beantwortung von näher bezeichneten Fragen.

7. Dazu führten die Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen würden. Die Zweitbeschwerdeführerin habe bereits in einer Kartonfabrik gearbeitet und suche derzeit nach einer Lehrstelle im Bereich Modedesign. Überdies spiele die Zweitbeschwerdeführerin als Protagonistin in einem Kurzfilm über die Situation von Flüchtlingen in Österreich mit, wo sie insbesondere über ihre „eigenen Erfahrungen als Flüchtling und als Frau“ spreche. Die Viertbeschwerdeführerin besuche derzeit die Abendschule. Die Viertbeschwerdeführerin habe einen eigenen YouTube-Kanal, in welchem sie Kochvideos veröffentliche und sich dabei einer großen Öffentlichkeit (286 Abonnenten) zeige. Sowohl die Zweit- als auch die Viertbeschwerdeführerin würden ihre Freizeit gerne mit Sport verbringen. Sie gingen gerne Fahrradfahren oder ins Fitnesscenter. Sie hätten sehr viele österreichische Freunde und Bekannte.

In Bezug auf die größten Unterschiede zwischen ihrem Leben in Afghanistan und jenem in Österreich gaben die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen an, dass sie in Österreich in Sicherheit und Freiheit leben dürften. Sie würden nun in einem demokratischen Rechtsstaat leben, in welchem Frauenrechte „nicht nur auf dem Papier“ vorhanden seien. Die Zweitbeschwerdeführerin habe in Afghanistan nicht zur Schule gehen dürfen. Überdies sei sich die Zweitbeschwerdeführerin im Klaren darüber, dass sie aufgrund des in Afghanistan erlittenen sexuellen Übergriffes im Falle des Bedarfs eine Therapie in Österreich in Anspruch nehmen könnte. Überdies könnten die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen in Österreich so kleiden, wie sie es selbst wünschten.

In Folge legten die Beschwerdeführer weitere Integrationsdokumente vor:

-        ein Zeugnis der Zweitbeschwerdeführerin über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

-        eine Bestätigung über die Mitgliedschaft des Drittbeschwerdeführers beim Verein „Kicken ohne Grenzen – Verein zur Förderung und Integration von geflüchteten Jugendlichen“ vom 13. Mai 2020

-        ein Zeugnis der Viertbeschwerdeführerin über die „Integrationsprüfung B2“ vom 7. Mai 2018

-        eine Schulbesuchsbestätigung der Viertbeschwerdeführerin über ihren Besuch des Bundesgymnasiums für Berufstätige in Wien vom 18. Februar 2020

-        einen Screenshot über den YouTube Kanal der Viertbeschwerdeführerin

-        einen Dienstvertrag des Fünftbeschwerdeführers betreffend das Jugendbeschäftigungsprojekt „PreWork“ für den Zeitraum 1. Dezember 2019 bis 31. August 2020 der Caritas

-        Empfehlungsschreiben der Lehrer der Sechst- bis Achtbeschwerdeführer

8. Infolgedessen wurde dem BFA die Möglichkeit zur Stellungnahme zum Parteiengehör der Beschwerdeführer eingeräumt.

Dazu äußerte sich das BFA nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zu den Beschwerdeführern

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige schiitischen Glaubens und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Sie tragen die im Spruch angeführten Namen, sind am (1.) XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX (4.) XXXX , (5.) XXXX , (6.) XXXX , (7.) XXXX und (8.) XXXX geboren. Die Erst- bis Siebtbeschwerdeführer hielten sich zuletzt in Herat auf. Die Erst- bis Siebtbeschwerdeführer reisten 2008 illegal Richtung Iran aus Afghanistan aus. Die Achtbeschwerdeführerin wurde im Iran geboren.

Die Beschwerdeführer stellten am 28. September 2015 die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz. Die Dritt- bis Achtbeschwerdeführer waren zum Antragszeitpunkt minderjährig und ledig.

Die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen konnten in Afghanistan keine Schuldbildung genießen und haben in Österreich nunmehr ihren Pflichtschulabschluss nachgeholt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat bereits berufliche Erfahrungen in Österreich gesammelt und ist bestrebt eine Lehre im Bereich Modedesign zu absolvieren. Überdies spielte die Zweitbeschwerdeführerin als Protagonistin in einem Kurzfilm über die Situation von Flüchtlingen in Österreich mit, wo sie insbesondere über ihre „eigenen Erfahrungen als Flüchtling und als Frau“ sprach. Die Viertbeschwerdeführerin besucht derzeit die Abendschule, um ihre Maturaprüfung nachzuholen. Weiters betreibt sie einen eigenen YouTube Kanal, in welchem sie Kochvideos demonstriert.

Im Falle einer Rückkehr besteht für die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen die Gefahr aufgrund ihres selbstbestimmten Auftretens eine unmenschliche Behandlung zu erfahren.

Die Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul.

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29. Juni 2020, S. 27 ff und 239 ff)

1.2.2. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert.

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden.

(UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, Stand: 30. August 2018, Punkt II. C. 1.und 2.)

1.2.3. Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen.

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt.

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben, der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen. Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen.

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen. Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig. So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen.

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders.

Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt, was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt.

Bildung für Mädchen

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten. Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen. Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 erhöht und somit verdreifacht. Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden.

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule – Mädchen machen dabei 60% aus, in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85%. 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen. Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird.

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen: Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt – speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen. Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden.

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien, kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen. Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab. Mittlerweile ist nicht mehr die Schließung von Schulen (wie es während der gewalttätigen Kampagne in den Jahren 2006-2008 der Fall war) Ziel der Aufständischen, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über diese. Die Kontrolle wird durch Vereinbarungen mit den jeweiligen örtlichen Regierungsstellen ausgehandelt und beinhaltet eine regelmäßige Inspektion der Schulen durch die Taliban.

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041, also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung – Kankor – ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen.

Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht. Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten, aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen – Bamyan und Kunar – sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des Weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen. Beispielsweise gibt es mittlerweile die erste (und einzige) Frau Afghanistans, die einen Doktor in Spielfilmregie und Drehbuch hat – diesen hat sie an einer Akademie in Bratislava abgeschlossen.

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten.

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht. Für das Jahr 2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an. So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen. Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv – manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden. Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden. Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert. Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet.

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie. Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern – das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten.

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen – auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert. Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor.

Frauenhäuser

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen. Fast alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Institutionen angewiesen – diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan.

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren. Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen. Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden. Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 22 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten.

In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Die 28 Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden.

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht (AA 2.9.2019). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet.

Mahr, eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet, insbesondere im ländlichen Raum und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen – das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist – selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen. Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist. Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen.

Die Praktiken des Badal und Ba‘ad/Swara, bei denen Bräute zwischen Familien getauscht werden, sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt. Badal ist gesetzlich nicht verboten und weit verbreitet. Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden.

Die Praxis des Ba‘ad bzw. Swara ist in Afghanistan gesetzlich verboten, jedoch in ländlichen Regionen – vorwiegend in paschtunischen Gebieten - weit verbreitet. Dabei übergibt eine Familie zur Streitbeilegung ein weibliches Familienmitglied als Braut oder Dienerin an eine andere Familie. Das Alter der Frau spielt keine Rolle, es kann sich dabei auch um ein Kleinkind handeln. Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen.

Reisefreiheit von Frauen

Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt.

Gemäß Aussagen der Direktorin von Afghan Women‘s Network können sich Frauen ohne Burqa und ohne männliche Begleitung im gesamten Land frei bewegen. Nach Aussage einer NGO-Vertreterin kann sie selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie lokale Kleidungsvorschriften einhält (z.B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen. In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert.

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In unzähligen Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29. Juni 2020, S. 284 ff)

Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer, wie etwa Witwen und geschiedene Frauen, sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Lebensgrundlagen, sind sie kaum in der Lage zu überleben. Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia treffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von „Verstößen gegen die Sittlichkeit“ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, und „Weglaufen von zu Hause“ (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Einem beträchtlichen Teil der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden „Verstöße gegen die Sittlichkeit“ zur Last gelegt. Es wird berichtet, dass weibliche Inhaftierte oft Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt sind. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen „Verstößen gegen die Sittlichkeit“ Anlass zu Gewalt oder Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen. Männer, die vermeintlich gegen vorherrschende Gebräuche verstoßen, können ebenfalls einem Misshandlungsrisiko ausgesetzt sein, insbesondere in Fällen von mutmaßlichem Ehebruch und außerehelichen sexuellen Beziehungen.

In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden.

(UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, Stand: 30. August 2018, Punkt III. A. 8.)

1.2.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen.

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen.

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29. Juni 2020, S. 277 ff)

1.2.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben.

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29. Juni 2020, S. 267 ff)

1.2.6. Risikogruppen

In seinen „Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender“ vom 30. August 2018 geht UNHCR u.a. von folgenden „Risikoprofilen“ aus:

?        Frauen, die vermeintlich gegen soziale Sitten verstoßen

?        Frauen mit spezifischen Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben (alleinstehende Frauen sind aufgrund „schädlicher traditioneller Bräuche“ besonders gefährdet Opfer einer Zwangsheirat zu werden)

2. Beweiswürdigung

2.1. Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern basieren auf ihren vorgelegten Unterlagen und ihren glaubwürdigen Angaben sowie den am 20. August 2020 eingeholten Strafregisterauskünften.

Dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen, eine unmenschliche Behandlung zu erfahren, ergibt sich aus den aktuellen Länderfeststellungen, wonach Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen. Frauen werden aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder Verstößen gegen die Scharia (Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, und „Weglaufen von zu Hause“) inhaftiert oder bestraft. Es wird berichtet, dass weibliche Inhaftierte oft Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt sind.

Es ist daher glaubwürdig, dass im Falle einer Rückkehr für die Zweit- und Viertbeschwerdeführerinnen die Gefahr besteht, aufgrund ihres selbstbestimmten Auftretens eine unmenschliche Behandlung zu erfahren.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den genannten (nun aktualisierten) Quellen, die schon das BFA seinen Bescheiden zugrunde legte und die im Wesentlichen inhaltsgleich blieben. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilitä

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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