Entscheidungsdatum
28.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W139 2132191-1/59E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX (ehemals: XXXX ), StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.07.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste als Minderjähriger in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 26.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 29.05.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, es habe in seiner Wohngegend viele Taliban gegeben, die Jugendliche in seinem Alter anwarben. Er habe mit den Taliban mitgehen sollen, um von ihnen ausgebildet zu werden und in späterer Folge Selbstmordattentate auszuüben. Da das Leben des Beschwerdeführers in Afghanistan aufgrund dessen in Gefahr gewesen sei, habe sein Vater seine Ausreise organisiert. Der Beschwerdeführer legte bei der Erstbefragung seine Tazkira vor.
3. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 31.05.2016 wiederholte der Beschwerdeführer die im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte ergänzend im Wesentlichen aus, er sei auf seinem Schulweg von den Taliban angehalten, mitgenommen und ca. sieben Tage eingesperrt worden wo sie ihn geschlagen, misshandelt und dabei gefilmt hätten. Das Video hätten sie dem Vater des Beschwerdeführers gezeigt und ihn erpresst. Der Vater solle den Taliban Geld und Waffen geben, anderenfalls würde sie den Beschwerdeführer umbringen. Er gab an, die Taliban hätten von ihm gefordert, mit ihnen zu kooperieren und sich als Selbstmordattentäter bereit zu stellen. Der Beschwerdeführer habe schließlich eine Kooperation vorgetäuscht, sei ca. zwei Tage lang ausgebildet worden, bis es ihm eines nachts gelungen sei, vor den Taliban zu fliehen. Er sei dann zu seiner Familie zurückgekehrt, die ihm gemeinsam mit ihrem Nachbarn geholfen habe, nach XXXX zu fliehen.
Er legte ein Unterstützungsschreiben sowie eine Bestätigung über seine Mitgliedschaft in einem Fußballverein, eine Bestätigung über seine ehrenamtliche Tätigkeit, eine Bestätigung an der Teilnahme an einem Sprachcafé, diverse Deutschkursbestätigungen sowie eine Kursbesuchsbestätigung der Basisbildung einer XXXX vor.
4. Am 13.06.2016 brachte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter eine Stellungnahme zu seinem Fluchtvorbringen und der Lage in Afghanistan, sowie einen Antrag auf Richtigstellung des Geburtsdatums des Beschwerdeführers ein.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 13.07.2016, der dem Beschwerdeführer am 19.07.2016 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer begründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war bzw. er einer solchen dort gegenwärtig ausgesetzt wäre, da die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer im Verfahren gemachten Angaben betreffend seine Fluchtgründe als nicht glaubhaft erachtete.
6. Am 04.08.2016 brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – Beschwerde gegen den genannten Bescheid ein. Er beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in eventu die Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, in eventu die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, sowie in eventu die Feststellung, dass die Abschiebung unzulässig ist, sowie die Feststellung dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Er stellte außerdem einen Antrag auf Einholung eines länderkundigen Sachverständigengutachtens in Bezug auf die Echtheit der vom Beschwerdeführer vorgelegten Tazkira.
7. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 21.02.2017 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 19.12.2016.
8. Am 28.03.2017 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Beilage A zum Verhandlungsprotokoll): diverse Deutschkurs-Teilnahmebestätigungen, Bestätigungen über die Teilnahme an XXXX , sowie an diversen Veranstaltungen, Kursbestätigungen XXXX , eine Kursbestätigung des Vorbereitungslehrgangs zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses, Bestätigungen über die ehrenamtliche Mitarbeit des Beschwerdeführers, sowie eine Bestätigung über das gut bestandene ÖSD A1 Sprach Zertifikat.
Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinem Alter befragt. Der Beschwerdeführer erklärte sich damit einverstanden, sich einer Altersfeststellungsdiagnose zu unterziehen.
9. Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 02.03.2017; eine ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Logar Sicherheitslage, Aktivitäten der Taliban, sowie fünf Gutachten zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und Kabul von Dr. Rasuly, und den Country Report on Human Rights Practices 2016, des US Department of State.
10. Mit Beschluss vom 21.04.2017 wurde XXXX zum nichtamtlichen Sachverständigen für die Durchführung einer multifaktoriellen Untersuchung zur Altersdiagnose des Beschwerdeführers bestellt.
11. Am 19.05.2017 langte das in Auftrag gegebene Gutachten zur Alterseinschätzung ein, welches eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Asylantragstellung in Österreich vermuten lässt. Das Gutachten wurde den Verfahrensparteien mit Schreiben vom 19.06.2017, zur Kenntnis gebracht.
12. Mit Schreiben vom 07.07.2017 brachte das erkennende Gericht eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 22.03.2017 mit aktueller Kurzinformation vom 27.06.2017.
13. Am 24.07.2017 langte eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers zu den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen ein.
14. Am 23.08.2017 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer einvernommen wurde. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ist zur Verhandlung nicht erschienen. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung ebenso fern. Der Beschwerdeführer legte eine Bestätigung über seine ehrenamtliche Tätigkeit als Dolmetsch, und seine ehrenamtliche Tätigkeit in einer Werkstatt, ein Zeugnis über die sehr gut bestandene Prüfung eines Prüfungsgebiets der Pflichtschul Abschlussprüfung, sowie ein gut bestandenes ÖSD A2 Zertifikat vor.
15. Mit am 01.09.2017 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer ein Zeugnis über eine Pflichtschul Abschlussprüfung vor.
16. Mit am 05.10.2017 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben, betreffend seine Mitgliedschaft in einem Fußballverein, seiner ehrenamtlichen Mitarbeit in verschiedenen Projekten des XXXX , eine Kursbestätigung, sowie ein Zertifikat über die Teilnahme an einer Basis-Schulung für Dolmetscher vor.
17. Mit Schreiben vom 28.11.2017 brachte das erkennende Gericht eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 22.03.2017 mit aktueller Kurzinformation vom 25.09.2017.
18. Am 05.12.2017 langte eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers zu den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen und bezüglich des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers ein.
19. Mit am 15.12.2017 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Dolmetscher, ein Zeugnis über die bestandene Prüfung eines Prüfungsgebiets der Pflichtschulabschlussprüfung, sowie Zertifikate über die Absolvierung diverser Dolmetscher-Schulungen vor.
20. Mit Schreiben vom 29.12.2017 brachte das erkennende Gericht eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 02.03.2017 mit aktueller Kurzinformation vom 21.12.2017.
21. Mit Schreiben vom 05.02.2018 brachte das erkennende Gericht eine weitere Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 02.03.2017 mit aktueller Kurzinformation vom 30.01.2018.
22. Mit am 08.02.2018 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung seiner ehrenamtlichen Tätigkeit vor.
23. Am 09.02.2018 langte eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers zu den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen ein.
24. Mit am 22.02.2018 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung über seine Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs sowie ein Zeugnis über die bestandene Prüfung eines Prüfungsgebiets der Pflichtschulabschlussprüfung vor.
25. Mit am 19.09.2018 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Schulbesuchsbestätigung der XXXX vor.
26. Am 28.05.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Beilage A zum Verhandlungsprotokoll): ein Semesterzeugnis des Beschwerdeführers für das Schuljahr 2018/19 der XXXX , ein Unterstützungsschreiben, zwei Einstellungszusagen, sowie eine Schulbesuchsbestätigung.
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte (in der Beilage B zum Verhandlungsprotokoll) eine Stellungnahme zu den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen sowie zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers vor.
27. Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: den Country Guidance Bericht des European Asylum Support Office: Afghanistan vom Juni 2018, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 und den Landinfo Report Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne.
28. Mit am 07.06.2019 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben vor.
29. Mit am 22.05.2020 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer einen Psychologisch-psychotherapeutischen Bericht vor.
30. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 27.05.2020 eine weitere Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, mit aktueller Kurzinformation vom 18.05.2020.
31. Am 16.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer einvernommen wurde. Sein Rechtsvertreter und die belangte Behörde blieben der Verhandlung unentschuldigt fern.
32. Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: eine ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018. Weiters wurde ergänzend auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des Deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016, als weitere Erkenntnisquelle verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:
Aufgrund des Asylantrags vom 26.05.2015, der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 29.05.2015, durch die Einvernahme der belangte Behörde am 31.05.2016, der Beschwerde vom 04.08.2016 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 13.07.2016, der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, aufgrund des gerichtsmedizinischen Gutachtens zur Altersfeststellung vom 19.05.2017, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Stellungnahmen sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlungen werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, er kann neben Paschtu auch in den Sprachen Dari und Deutsch lesen und schreiben. Er ist nicht verheiratet, und hat keine Kinder.
Im Verfahren vor der belangten Behörde wurde als Geburtsdatum der XXXX geführt. Als sein fiktives Geburtsdatum wurde nach einer gutachterlichen Altersfeststellung im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der XXXX festgestellt. Der Beschwerdeführer reiste somit als Minderjähriger im Alter von XXXX Jahren in das Bundesgebiet ein und ist im Zeitpunkt dieser Entscheidung XXXX Jahre alt.
Er ist in XXXX geboren und aufgewachsen, wo er mit seiner Familie, seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester, gelebt hat. Der Vater des Beschwerdeführers war Bauer und versorgte die Familie. Die Familie des Beschwerdeführers hatte einen Obstgarten, zwei Grundstücke sowie ein eigenes Haus. Der Beschwerdeführer arbeitete nicht, er half jedoch ab und zu seinem Vater.
Der Beschwerdeführer besuchte seit dem Alter von ca. sechs Jahren für ca. acht Jahre lang die Schule und übersprang zwei Klassen, sodass er insgesamt die zehnte Schulklasse beendete.
Der Beschwerdeführer hat seit seiner Ausreise aus Afghanistan keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan und weiß nicht, wo sich diese momentan aufhalten.
Der Beschwerdeführer leidet unter intrusiven und konstriktiven Traumasymptomen wie ua. Flashbacks, Schlafstörung und psychosomatischen Beschwerden. Er ist in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung. Im Übrigen ist der Beschwerdeführer körperlich gesund.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich gut integriert, er hat eine Freundin, spielt in einem Fußballverein, arbeitet ehrenamtlich, begann eine Ausbildung zum XXXX und hat viele Freunde und Bekannte in Österreich. Er spricht sehr gut Deutsch.
Der Beschwerdeführer ist persönlich glaubwürdig.
1.1.1. Zur Bedrohung und Entführung durch die Taliban
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2015 auf seinem Schulweg von XXXX bewaffneten Taliban angehalten und in einem Auto mitgenommen.
Sie hielten ihn in einem Zimmer fest, wo sie ihn jeden Tag misshandelten und schlugen. Währenddessen filmten sie den Beschwerdeführer.
Diese Videoaufnahmen zeigten sie dem Vater des Beschwerdeführers um diesen zu erpressen und forderten Geld und Waffen von ihm, widrigenfalls drohten sie den Beschwerdeführer umzubringen.
Die Taliban schlugen und misshandelten den Beschwerdeführer solange bis dieser nach einigen Tagen eine Zusammenarbeit vortäuschte und einwilligte, sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung zu stellen.
Von diesem Tag an wurde der Beschwerdeführer nicht mehr geschlagen und erhielt eine Anweisung bezüglich des Umgangs mit einer Sprengstoffweste und weiteren Unterricht über den Islam und den Dschihad. Nach insgesamt ca. einer Woche gelang dem Beschwerdeführer die Flucht aus der Gefangenschaft.
Er kehrte zu seinem Elternhaus zurück und versteckte sich anschließend bei seinem Nachbarn, der ihm noch am selben Tag dazu verhalf XXXX nach XXXX zu fliehen.
Die Taliban verfolgten den Beschwerdeführer bis zu seinem Elternhaus und drohten seinem Vater, den Beschwerdeführer zu finden und ihn zu ermorden. Die Taliban kennen den Namen des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer flüchtete aus Afghanistan und stelle am 26.05.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Es widerspricht der politischen Gesinnung des Beschwerdeführers, sich den Taliban anzuschließen oder mit ihnen zu kooperieren.
1.1.2. Bedrohung bei einer Rückkehr
Der Beschwerdeführer befürchtet im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund der Drohungen der Taliban gegen ihn und seiner Flucht vor ihnen, sowie aufgrund der Präsenz der Taliban in ganz Afghanistan, verfolgt zu werden.
Es muss davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner zunächst vorgetäuschten Zusammenarbeit mit den Taliban und späteren Flucht aus der gefangenschaft der Taliban, eine politische bzw. religiöse Gesinnung gegen die Ideologie und Zielsetzungen der Taliban zugeschrieben wird, zumal er den Aufforderungen der Taliban, mit ihnen zu kooperieren und sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung zu stellen, nicht nachgekommen ist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt zu sein. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in seinem Heimatland hinreichend vor diesen Bedrohungen durch die Taliban zu schützen.
Die Bedrohung des Beschwerdeführers ist aktuell. Vom Beschwerdeführer existieren Videoaufnahmen, die sich in der Hand der Taliban befinden. Die Taliban wissen außerdem den Namen des Beschwerdeführers. Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.
Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, liegen im Verfahren nicht vor.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
? Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, mit aktueller Kurzinformation vom 18.05.2020.
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018
? ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018
? Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“, vom 23.08.2017
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz XXXX Sicherheitslage, Aktivitäten der Taliban vom 28.08.2014
a. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 aktuelle Kurzinformation vom 18.05.2020:
1. Sicherheitslage
„Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannt