Entscheidungsdatum
01.09.2020Norm
AsylG 2005 §8 Abs1Spruch
W191 2114805-2/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2016, Zahl 13-831293302-1715547, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.08.2018 und am 20.05.2020 zu Recht:
A)
I. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 06.09.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage vom 07.09.2013 ergab keine Übereinstimmung bezüglich der er-kennungsdienstlichen Daten des BF.
1.2. In seiner Erstbefragung am 07.09.2013 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari laut Niederschrift im Wesentlichen Folgendes an:
Er heiße XXXX und sei am XXXX in XXXX , Provinz Herat, Afghanistan, geboren. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe keine Schule besucht und zuletzt als Hilfsarbeiter gearbeitet.
An seinen Vater könne er sich nicht erinnern, dieser sei getötet worden, als der BF noch ein kleines Kind gewesen wäre. Seine Mutter XXXX sei letzten Winter 45-jährig an einer Krankheit verstorben. Seine Schwester XXXX hätte vor einem Jahr Selbstmord begangen. Der BF selber sei nicht verheiratet und habe auch keine Kinder.
Sein Geburtsort sei XXXX , XXXX , Provinz Herat, Afghanistan. Dort hätte er bis zu seiner Ausreise letzten Winter gewohnt.
Er wäre in den Iran gebracht worden, wo er drei Monate lang in einer Klinik stationär aufhältig gewesen wäre. Man hätte ihn in der Heimat mit einem Messer verletzt, und der Onkel mütterlicherseits hätte ihn ins Krankenhaus gebracht. Zur Klinik könne er keine Angaben machen, er habe auch keine Befunde. Nach seinem Krankenhausaufenthalt hätte ihm der Onkel einen Schlepper organisiert, der ihn in die Türkei gebracht hätte. Von dort wäre er mit einem Boot nach Europa in ein ihm unbekanntes Land gelangt. In einer Unterkunft wäre ihm gesagt worden, dass er entweder in Ungarn oder in Belgien sei. Schlussendlich sei er über weitere, ihm unbekannte Länder bis nach Österreich gelangt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sein Onkel väterlicherseits täglich Taliban mit nach Hause gebracht hätte. Dabei wären junge Burschen gezwungen worden, für diese zu tanzen. Einmal wäre auch die Schwester des BF gezwungen worden, vor den Fremden zu tanzen. Der BF hätte sich vor sie gestellt, allerdings hätte ihn der Onkel mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen und verprügelt. Das wäre vor ca. einem Jahr geschehen. An diesem Abend wäre die Schwester auch vergewaltigt worden, sie hätte sich danach selbst verbrannt. Der BF hätte dies mitansehen müssen. Der BF wäre eine Woche lang misshandelt worden, dann hätte ihn der Onkel mütterlicherseits in den Iran in eine Klinik gebracht. Aber auch dort wäre der BF vom Onkel väterlicherseits mit dem Tode bedroht worden, weshalb er beschlossen hätte, nach Europa zu fliehen.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 08.06.2015 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Außenstelle Tirol, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, korrigierte der BF seinen Namen auf XXXX , bestätigte die Richtigkeit seiner sonstigen bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen Folgendes an:
Er habe ständig Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Schmerzen in beiden Knien. Er habe am 22.06.2015 deshalb eine ausführliche Untersuchung und nehme zurzeit gelegentlich Kopfschmerztabletten. Er könne sich eine Rückkehr nach Afghanistan nicht vorstellen. Er habe dort seine Gesundheit und seine Familie verloren. Wenn er den Namen Afghanistan höre, bekomme er Angst.
Der BF gab an, sein Alter sei nicht korrekt aufgenommen worden, er sei im Jahr 1363 (umgerechnet 1984) geboren, habe aber keine Dokumente. Er stamme aus einem kleinen Dorf, dort brauche man so etwas nicht.
Der BF machte Angaben zu seiner Person und zu seinen Lebensumständen. Er habe im Haus seines Vaters gewohnt und ziemlich gut vom Erlös aus seinen Geschäften als Teppichhändler leben können. Das Haus habe seinem Vater gehört, dort habe er mit seiner Frau, seinen drei Kindern, seiner Mutter, einer Schwester und einem Bruder gelebt.
Sie hätten eine Landwirtschaft mit 13 Kühen, acht Schafen und zwei Eseln gehabt, die Landwirtschaft sei ca. drei Hektar groß gewesen.
Seine Frau und seine Kinder seien in einem Stammeskonflikt umgekommen. Er habe in XXXX in XXXX geheiratet und sei damals 14 Jahre alt gewesen. Der Mullah des Dorfes XXXX habe sie getraut. Er habe darüber keine Unterlagen.
Der BF nannte Namen und Alter seiner Frau und seiner drei Kinder und konnte relativ detaillierte geografische Angaben zu seiner Heimatregion machen.
Sein Onkel väterlicherseits lebe in seinem Herkunftsdorf XXXX , sei ein Taliban und habe ihre Landwirtschaft an sich gerissen. Er kämpfe gemeinsam mit XXXX , Neffe des XXXX , welcher den Stammeskrieg zwischen Noorzai und Barakzai begonnen habe. XXXX sei ein führender Kämpfer der Taliban gewesen, aber bereits getötet worden.
In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr außer seinem Onkel, und dieser sei sein Feind. Nach Afghanistan habe er keinen Kontakt mehr und sei auch noch nie in anderen Gegenden in Afghanistan gewesen.
Zu seinem Fluchtweg gab der BF an, es sei bei der Erstbefragung aufgenommen worden, dass er vier bis fünf Monate für die Flucht aus dem Iran nach Österreich gebraucht hätte. In Wirklichkeit habe er aber nur ein Monat gebraucht. Der BF nannte die Kosten für seinen Schlepper. Ein Nachbar habe ihm finanziell geholfen. Er habe kein Reisedokument besessen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an (Auszug aus der Niederschrift, schreibfehler teilweise korrigiert):
„A [Antwort]: Vor ca. sechs Jahren brachte ich meine kranke Mutter zu einer Behandlung nach Herat. Ich wurde damals von meiner Schwester begleitet. Mein Vater, meine Ehefrau und unsere drei gemeinsamen Kinder blieben zu Hause und nahmen an einer Hochzeit in XXXX teil. Bei der Rückreise in unser Dorf sind sie dann in einen Konflikt zwischen den Stämmen Borakzai und Noorzai geraten und zufällig umgekommen. Ich sorgte daraufhin für meine Schwester und Mutter. Mein Bruder und ich betrieben den Teppichhandel. Eines Tages war ich in Herat, und mein Bruder war mit Teppichen auf dem Weg zu mir. Unterwegs wurde er von meinem Onkel väterlicherseits angehalten und sagte, dass wir ihn bei den Taliban unterstützen sollten. Da wir Händler und daraus folgend immer unterwegs waren, könnten wir laut seinen Aussagen für ihn und die Taliban eine große Hilfe sein. Er hat uns aufgefordert, mit unserem Auto einige Sachen der Taliban nach Herat zu schmuggeln. Wir haben uns zuerst dagegen entschieden. Unser Onkel sagte aber, dass wir es uns überlegen sollten, und dass er uns ein halbes bis ein ganzes Jahr Zeit geben würde, darüber nachzudenken. Nach einiger Zeit hat er aber dann meinen Bruder völlig überraschend mitgenommen. Er hat auch einen Brief hinterlassen, in dem stand, dass ich nirgendwo in Afghanistan oder auch den angrenzenden Ländern in Sicherheit sei, und dass er mich überall finden würde. Ich habe überall versucht, meinen Onkel zu finden, hatte damit aber keinen Erfolg. Ungefähr ein Jahr später habe ich dann die Leiche meines Bruders erhalten. Ich habe meinen Bruder dann begraben. Nach der Trauerzeit von 40 Tagen sind mein Onkel und viele andere Taliban dann wieder zu mir gekommen. Er sagte, dass er meinen Bruder nicht getötet hat und auch damit nichts zu tun haben würde. Er hat unsere Familie aber weiterhin belästigt, und meine Mutter musste für die Taliban kochen und Brot backen. Eines Tages rief mich dann meine Mutter an und sagte, dass ich sofort nach Hause kommen soll. Bei uns zu Hause saßen damals viele Taliban, und ein Junge musste für sie tanzen. Ein Taliban hat mich dann aufgefordert, auch für sie zu tanzen, und er wollte, dass meine Schwester für sie tanzt. Als ich das nicht wollte, wurde ich von den Taliban niedergeschlagen. Ich war dann kurze Zeit bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, sagte der Taliban, dass er mich zwingen werde, noch diese Nacht für ihn zu tanzen. Darum kam es zu einem Streit, in welchem mich der Taliban schlug und mit einem Messer verletzte. Dann hat er versucht, meine Schwester mit Gewalt zum Tanzen zu bringen. Als ich sah, wie meine Schwester behandelt wurde, habe ich eine Kanne mit kochendem Wasser nach dem Taliban geworfen. Dann haben die Taliban gleichzeitig auf meine Schwester und auf meine Mutter geschossen. Meine Mutter und meine Schwester wurden vor meinen eigenen Augen getötet. Die Nachbarn haben sich dann versammelt, und so konnte ich mit deren Hilfe in den Iran flüchten. Ich war dann elf Monate im Iran in einem Krankenhaus, in welchem meine Verletzungen behandelt wurden.“
Das BFA stellte dem BF Nachfragen und hielt ihm mehrere Unstimmigkeiten vor, die der BF nicht gänzlich beantworten bzw. aufklären konnte. Er gab an, bei seiner Erstbefragung sei er nicht in guter Verfassung gewesen.
Abschließend legte der BF diverse ärztliche Befunde betreffend die von ihm in der Einvernahme beschriebenen Erkrankungen bzw. Verletzungen, eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses und Bestätigungen über die Verrichtung gemeinnütziger Tätigkeiten vor.
1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 19.08.2015 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 06.09.2013 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung (in Spruchpunkt III.) gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 oder 55 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei nicht asylrelevant. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
1.5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit offenbar von einer Hilfsorganisation unterstützt erstelltem Schreiben vom 10.09.2015 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), mit dem der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde.
In der Beschwerdebegründung wurde auf das Vorbringen in der Einvernahme vor dem BFA verwiesen und ausgeführt, dass die Situation in seiner Herkunftsprovinz schlecht sei und ein Unterkommen des BF in anderen Provinzen oder in Kabul mangels familiärer und sozialer Anknüpfungspunkte nicht denkbar sei.
Der Beschwerde angeschlossen war ein handschriftlich auf Dari verfasstes Schreiben des BF, welches auf amtliche Veranlassung ins Deutsche übersetzt wurde und in dem die vor dem BFA geschilderte Fluchtgeschichte in einigen Sätzen zusammengefasst wiederholt wurde.
1.6. Mit Entscheidung vom 15.01.2016, W191 2114805-1/9E, wies das BVwG in Spruchpunkt A) I. die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet ab, behob den angefochtenen Bescheid betreffend die Spruchpunkte II. und III. gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.
Das BVwG führte begründend aus, der BF habe asylrelevante Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht, wie auch nicht, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
Mit der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides) habe sich die belangte Behörde jedoch nicht hinreichend auseinandergesetzt.
Es sei neben seinen persönlichen Umständen in Prüfung seiner Lebensumstände zu klären gewesen, woher er stamme, wo sich seine Familie nun aufhalte, ob der BF daher über ein soziales Netzwerk in seinem Herkunftsland verfüge und wie die Lage in diesen Regionen aktuell sei, bzw. über seine diesbezüglichen Angaben hinreichend beweiswürdigend abzusprechen.
Es erscheine nicht nachvollziehbar, wie das BFA, ausgehend von den Feststellungen des Länderinformationsblattes (hohe Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, wobei der Heimatdistrikt des BF XXXX den volatilsten Bezirk darstelle), zum Ergebnis gelangt sei, dass der BF unter diesen Umständen sicher nach Herat zurückkehren und dort leben könnte.
Die Ausführungen des BFA entsprächen nicht der vom VfGH geforderten Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz, zumal diese von Provinz zu Provinz variiere (siehe Erkenntnisse des VfGH 21.09.2012, U 883/12-15, VfGH 11.10.2012, U 677/12-17). Dieses Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidungswesentlichen Punkt führe dazu, dass der BF im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt werde.
Das BFA werde daher genauer zu prüfen haben, ob im Falle einer Rückverbringung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens des BF aufgrund seiner individuellen Situation ausgeschlossen werden könne.
1.7. Bei seiner Einvernahme im fortgesetzten Verfahren am 27.06.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Tirol, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben.
Er beantwortete Fragen zu seinen Lebensumständen. So erklärte er etwa die Frage, warum er nur eine Schwester habe, damit, dass er selbst per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen sei, und erklärte dies nachvollziehbar näher. Seine weiteren Verwandten lebten alle in XXXX und würden ihren Lebensunterhalt mit Drogenhandel finanzieren. Vier Verwandte seien deshalb bereits im Iran hingerichtet worden. Bei diversen Familienfesten hätte er manchmal Verwandte getroffen.
1.8. Mit „Parteiengehör“ benanntem Schreiben des BFA vom 01.07.2016 wurden dem BF 81 Seiten Beilage übermittelt (offenbar Länderberichte zu seinem Herkunftsstaat, ohne – zur leichten Nachvollziehbarkeit – Anführung der Bezeichnung und des Erstellungsdatums des offenbar verwendeten Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA).
1.9. Mit von seinem Rechtsberater unterstützt erstelltem Schreiben vom 12.07.2016 nahm der BF kurz zu diesen Länderberichten Stellung und verwies darauf, dass sich die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz Herat, insbesondere im Distrikt XXXX , zunehmend verschlechtere. Zu den Aktivitäten der Taliban kämen zuletzt auch vermehrt solche des IS hinzu.
Beigelegt waren dieser Eingabe mehrere Seiten mit Auszügen aus diversen Berichten zu Herat in Schrift und Sprache Dari.
1.10. Nach Durchführung des fortgesetzten Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 20.09.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erneut ab (Spruchpunkt I.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt II. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei. Er könne sowohl in seinem Heimatort im Distrikt XXXX als auch in Kabul oder in Herat leben, wo er in seiner Zeit als Teppichhändler zur regelmäßigen Übernachtung (einmal pro Woche) ein Zimmer gemietet habe und wo Freunde des BF leben würden.
1.11. Auch gegen diesen – verfahrensgegenständlichen – Bescheid vom 20.09.2016 brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF bereits seit 2013 in Österreich aufhältig sei, Deutsch lerne, Tätigkeiten gemäß Ausländerbeschäftigungsgesetz sowie gemeinnützige Tätigkeiten leiste und seit Mai 2016 eine Beziehung zu einer in Österreich wohnenden ungarischen Staatsangehörigen führe.
Er stehe aktuell wegen gesundheitlicher Probleme in ärztlicher Behandlung, wofür ärztliche Berichte vorgelegt wurden (Notfallbericht des Landeskrankenhaus Innsbruck vom 16.02.2015 über eine Notaufnahme, Diagnose: „Thoraxschmerzen R07.4“, neurologischer Befundbericht vom 06.03.2015, Diagnose: „chronischer Spannungskopfschmerz“, und weitere ärztliche Belege bezüglich „kommunizierenden Hydrocephalus“, „klinische Zystoprostatitis und Mikrohämaturie“, „Zustand nach Morbus Scheuermann mit Hyperkyphose Th 5-8“ und „cervikogener Kopfschmerz“).
Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor.
1.12. Mit Eingabe vom 17.11.2016 übermittelte der BF weitere Belege bezüglich seiner Person (mehrere persönliche Empfehlungsschreiben, Einstellungszusage), und mit Mail vom 22.03.2018 weitere Belege betreffend seine Erwerbstätigkeiten.
1.13. Von einer Strafverfolgung des BF wegen des Vorwurfes eines Suchtmitteldeliktes ist die Staatsanwaltschaft Innsbruck laut Schreiben vom 01.02.2018 endgültig zurückgetreten.
1.14. Das BVwG führte am 27.08.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seiner zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaterin persönlich erschien. Seine Lebensgefährtin wurde als Zeugin einvernommen.
Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
„[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari. Ich habe darüber hinaus in Österreich etwas Englisch, Russisch, Hindi, Urdu und Deutsch gelernt.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Dari.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Ich leide seit mehreren Jahren an Kopfschmerzen sowie an Knie- und Rücken/Kreuzschmerzen. Ich bin deswegen in medizinischer Behandlung und nehme derzeit täglich zweimal 500 mg Mexalen.
Vorgelegt werden zwei Bestätigungen einer Allgemein-Medizinern vom 03.07. und 20.08.2018, die in Kopie zum Akt genommen werden.
[...]
Der BF hat im Verfahren bisher zahlreiche Bescheinigungsmittel zu seiner Gesundheit und zu seiner Integration vorgelegt. Heute legt er weitere Belege bezüglich seiner Gesundheit sowie eine Vielzahl von Belegen zu seiner Integration in Österreich (ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Pflegeheim, Deutschkursbestätigungen, Arbeitsvermittlungszusage sowie mehrere Empfehlungsschreiben) vor, die in Kopie zum Akt genommen werden.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja, aber ich bin im Jahr 1361 (umgerechnet 1982) geboren. Aber da ich meinen Reisepass meinem Schlepper geben und meinen Führerschein in Afghanistan zurücklassen musste, kann ich das nicht beweisen. Als ich meine Frau geheiratet habe, war ich 14 und sie 15 Jahre alt. Ich werde zum Beleg für mein Alter in den nächsten Tagen eine Nachricht meiner Verwandten nachbringen.
RI: Warum haben Sie bei der Erstbefragung angegeben, dass Sie XXXX , geboren am XXXX , heißen?
BF: Das war ein Missverständnis, ich habe meinen richtigen Namen genannt, aber der D hat es anders verstanden. Bei meiner Einvernahme beim Bundesamt habe ich auf diesen Fehler sofort hingewiesen. Zu meinem Alter hatte ich angegeben, dass ich ca. 30 Jahre alt sei.
RI: Warum haben Sie bei der Erstbefragung angegeben, dass Sie ledig sind und keine Kinder haben?
BF: Ich war gerade frisch gekommen, ich kam aus dem Wald und war durcheinander. Ich glaube, ich habe sogar angegeben, dass ich Iraner sei. Außerdem hat man mich gefragt, ob ich derzeit verheiratet oder ledig sei, und ich sagte ledig.
RI: Wie viele Kinder haben Sie gehabt?
BF: Drei.
RI: Wann sind Ihre Kinder und Frau ums Leben gekommen?
BF: Ca. sechs Monate vor meiner Ausreise.
RI: Wann sind Sie ausgereist?
BF: 2013, ganz am Anfang.
RI: Aber bei Ihrer Einvernahme in Innsbruck im Juni 2015 haben Sie auf die Frage, seit wann Sie verwitwet sind, gesagt, seit ca. 2009?
BF: Es war sechs Monate vor meiner Ausreise. Mit dem Datum kenne ich mich nicht aus.
RI: Was war das für ein Stammeskonflikt, bei dem Ihre Familie ums Leben gekommen ist?
BF: Es gab einen Stammeskonflikt wegen einer Straße zwischen den paschtunischen Stämmen Noorzai und Barokzai, in meinem Ort XXXX , einem großen Ort mit Flughafen.
RI: Leben Ihre Eltern noch?
BF: Nein, bei dem Vorfall habe ich auch meinen Vater verloren, später ist dann meine Mutter gestorben.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Tadschike, wie meine Mutter, mein Vater war Paschtune.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin sunnitischer Moslem.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin verwitwet.
RI: Sind Sie verlobt?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe nur einige Tage die Schule besucht. Meine Mutter hat Teppiche geknüpft, und mein Vater hat diese am Bazar verkauft, und ich habe begonnen, ihm dabei zu helfen.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: Eine Tante und ein paar Onkeln mütterlicherseits leben noch in Afghanistan, in Herat, aber genau weiß ich es nicht.
RI: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?
BF: Nein. Ich hatte einen Reisepass, ich habe diesen unterwegs dem Schlepper gegeben. Ich habe ihn mir in Herat ausstellen lassen.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich habe vorige Woche die A1-Prüfung gemacht. Ich lerne jetzt für die A2-Prüfung.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Einmal wurde ich wegen Schwarzfahrens bestraft, weil ich irrtürmlich in den falschen Zug gestiegen bin.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ja, mit Freunden kommuniziere ich alle paar Wochen per Whats App sowie mit meiner Tante mütterlicherseits und deren Sohn. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zehn Kindern manchmal in Herat und machmal in XXXX , je nachdem wie die Lage (Sicherheitslage, Taliban, Kriminalität) ist.
RI hält dem BF seine Aussagen in der Einvernahme vor dem BFA am 08.06.2015 vor, wonach der Vorfall „vor ca. sechs Jahren“ passiert sei.
BF: Ich bin so viel gefragt worden zu Datumsangaben, da ist es offensichtlich zu Verwechslungen und Missverständnissen gekommen. Genaue Zeitangaben habe ich gar nicht gemacht. Tatsächlich hat sich dieser Vorfall ca. sechs Monate oder etwas länger vor meiner Ausreise aus Afghanistan zugetragen.
RI: Wann haben Sie geheiratet?
BF: Ich war 14 Jahre alt, als ich geheiratet habe.
RI: Worum handelt es sich bei dem im Verwaltungsakt Seiten 623ff. einliegenden Blättern in Dari?
BF: Das sind Informationen über die Lage in Herat.
RI: Haben Sie nicht die Möglichkeit, sich Belege zu dem Krankenhausaufenthalt im Iran zu besorgen?
BF: Ich weiß nicht, wo das Krankenhaus liegt, ich war bewusstlos, als ich dort eingeliefert wurde.
RI: Leben Sie noch mit Frau XXXX zusammen?
BF: Ja, seit zwei Jahren in ihrer Wohnung.
RI: Haben Sie vor zu heiraten?
BF: Ich habe sie noch nicht gefragt. Sie ist krank, und ich kümmere mich um sie, sie hat Diabetes und Allergien und ist leicht gestresst. Ich denke, dass zuerst mein Aufenthaltsstatus gesichert sein sollte.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Sie kennen die Situation. Dort ist die Sicherheitslage sehr schlecht. Auch in Kabul gibt es keine Garantie, dass man nicht in Lebensgefahr ist. In meinem Heimatort wechseln die Machtverhältnisse regelmäßig, tagsüber herrscht die Regierung und nachts die Taliban und umgekehrt.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV [Vertreterin des BF] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV: Wie sehen Sie Ihre Zukunft hier in Österreich, wenn Sie hier bleiben dürfen?
BF: Ich bedanke mich zuerst, dass ich so lange in Österreich gut aufgenommen wurde, und wenn ich hier bleiben kann, dann werde ich auch alles zurückgeben, was für mich bis jetzt getan wurde, und ich werde in meinem Beruf als Teppichknüpfer und Teppichverkäufer tätig werden.
Die Lebensgefährtin des BF sagte als Zeugin befragt aus:
[...] RI: Seit wann sind Sie in Österreich?
Z [Zeugin] (auf Deutsch): Seit ca. 15 Jahren.
RI: Warum sind Sie in Österreich, was machen Sie hier?
Z: Ich habe in Ungarn neben der Schule in der Schneiderei meiner Mutter gearbeitet. Ich bin dann ca. 2003 mit einem Arbeitsvisum nach Österreich, nach Innsbruck gezogen. Ich habe hier gearbeitet (Gastronomie, Babysitten, Putzen, Schneiderei). 2008 habe ich eine schwere Erkrankung bekommen (Bauchspeicheldrüse). Ich habe dann wieder gearbeitet und 2013 einen schweren allergischen Schock (Ödeme) bekommen, viermal hintereinander. Den BF kenne ich seit ca. März 2016, seit August 2016 ist er in meiner Mietwohnung in der Innstraße, in der ich seit 2006 wohne, mit einer kurzen Pause von drei Monaten (wieder seit August 2017) angemeldet.
RI: Wissen Sie, warum Ihr Lebensgefährte nach Österreich gekommen ist?
Z: Ja, er hat mir erzählt, dass seine Familie gestorben ist. Er hatte dort ein schweres Leben und ist weggegangen.
RI: Glauben Sie, dass Sie beisammen bleiben?
Z: Ja, wenn es möglich ist.
RI: Haben Sie schon über das Heiraten gesprochen?
Z: Ja, aber es ist nicht aktuell, wir haben auch Probleme, die notwendigen Papiere zu erlangen, und haben auch finanzielle Probleme.
RI: Wie geht es dem BF gesundheitlich?
Z: Es geht ihm nicht immer gut, manchmal hat er extreme Schmerzen, er kann nicht aufstehen. Ich denke, er hat auch psychische Probleme, vielleicht Angststörungen. Er hat verschiedene Medikamente ausprobiert. [...]“
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.15. Mit ergänzender Eingabe seiner Vertreterin vom 30.08.2018 übermittelte der BF eine handschriftliche Aussage seiner Tante aus seinem Herkunftsstaat samt Übersetzung, wonach sein Geburtsdatum richtig 13.04.1361 (umgerechnet XXXX ) laute.
Mit ergänzenden Eingaben vom 10.10.2018 und 02.11.2018 legte der BF weitere Belege zu seinen Integrationsbemühungen vor.
1.16. Mit Abschlussbericht des Stadtpolizeikommando Innsbruck an die Staatsanwaltschaft Innsbruck wurde eine Anzeige wegen des Verdachts auf Körperverletzung erstattet.
Auszug aus „Darstellung der Tat“: „[...] XXXX erlitt durch die Tat einen blauen Fleck am Oberschenkel. Laut Ambulanzkarte entstand eine leichte Prellung auf dem linken Oberschenkel – siehe Verletzungsattest. Bei ihrer Vernehmung wusste XXXX jedoch nicht mehr, auf welcher Seiter er sie mit seinem Fuß erwischt haben soll. [...]“
1.17. Das BVwG führte am 20.05.2020 eine fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seiner zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaterin persönlich erschien. Seine Lebensgefährtin wurde erneut als Zeugin einvernommen.
Dabei gab der BF auf die Frage nach seinem Gesundheitszustand an:
„BF: Seit einem Jahr und zwei Monaten habe ich ein Problem mit meinem Magen. Ich habe eine Schwellung in meinem Magen. Ich war zwei oder drei Mal beim Arzt, es wurde jedoch nichts Akutes festgestellt. Ich habe jedoch Schmerzen und kann in der Nacht schlecht schlafen und auch schlecht sitzen. Vor ca. acht Monaten war ich bei einem Facharzt für Psychiatrie ( XXXX ), der mir Beruhigungstabletten verschrieben hat. Ich habe sie drei Mal eingenommen, aber da ich danach nicht mehr aufstehen konnte, habe ich das wieder eingestellt. Schon im Jahr 2013 war ich bei einem Arzt, der mir eine Tablette gegeben hat, nach deren Einnahme ich drei Tage geschlafen habe.
BFV [Vertreterin des BF]: Laut Auskunft der Lebensgefährtin des BF wird eine Bestätigung seitens dieses Arztes nachgebracht werden, dies konnte wegen der Probleme mit der Corona Pandemie zuletzt nicht geschehen.
Angemerkt wurde, dass der BF die auf Deutsch gestellten Fragen teilweise unmittelbar auf Deutsch beantwortete, sowie zur Integration:
„Der BF hat im Verfahren bisher zahlreiche Bescheinigungsmittel zu seiner Gesundheit und zu seiner Integration vorgelegt (ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Pflegeheim, Deutschkursteilnahmebestätigungen, Arbeitsvermittlungszusage sowie mehrere Empfehlungsschreiben).
Heute legt er weiters vor:
Deutschkursbestätigungen, Empfehlungsschreiben.“
Bezüglich der gesundheitlichen Probleme des BF (Magenbeschwerden, psychische Probleme) sagte der BF zu, Belege binnen vier Wochen nachzubringen.
Der BF gab an, er lebe nach wie vor mit seiner Lebensgefährtin in einer gemeinsamen Wohnung in Innsbruck. In Afghanistan habe er in XXXX , Herat und Kabul Verwandte. In Herat lebe seine Tante mütterlicherseits seit kurzer Zeit wegen der Sicherheitslage in XXXX . Bei ihr könne er nicht leben, sie habe einen Ehemann, acht Töchter und einen Sohn, und es sei nach islamischem Recht für einen Mann nicht erlaubt, mit ihnen gemeinsam unter einem Dach zu leben. Außerdem sei die Tante auch arm, und sie könnten sich gerade selbst und ihre Familie ernähren.
Er verrichte ehrenamtliche Tätigkeit in einem Pflegeheim, ca. zwei bis vier Stunden vier Mal in der Woche und gehe mit einem österreichischen Freund in die Berge Wandern. Er sei strafgerichtlich unbescholten.
Seine Sicherheit wäre nicht gewährleistet. Wenn man Polizist werde, bekomme man Probleme mit den Taliban und den Daesh. Wenn man sich diesen anschließe, bekomme man Probleme mit der Polizei, und wenn man sich keinem anschließe, bekomme man Probleme mit Kriminellen.
Die Lebensgefährtin gab als Zeugin befragt u.a. an [Auszug aus der Verhandlungsschrift]:
„RI: Wohnen Sie mit dem BF zusammen?
Z: Ja, ich wohne seit vier Jahren mit ihm zusammen.
RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Z: Es geht mir besser, nach neuesten Forschungsergebnissen bekomme ich seit einigen Monaten Vitamine, die mir sehr gut helfen. Ich habe auch meinen Beruf gewechselt, ich war früher im Sicherheitsdienst am Flughafen und bin jetzt im Verkauf tätig (Souvenirs).
RI: Wie geht es Ihrem Lebensgefährten?
Z: Manchmal geht es gut, manchmal geht es schlecht.
RI: Was geht schlecht?
Z: Manchmal kann er nicht schlafen, manchmal wird er sprunghaft wütend, und manchmal ist er wieder ganz ruhig. Wenn er Stress bekommt, bekommt er psychosomatische Probleme und Symptome, wie z.B. sich Übergeben, oder er kann nicht aufstehen.
RI: Warum ist der BF nicht schon viel länger zum Psychologen gegangen?
Z: Wir mussten einen guten Arzt finden, es ist schwierig. Wir hatten auch Geldprobleme. Ich probiere, ihm zu helfen. Zuerst gingen wir zur Hausärztin, und jetzt haben wir einen Arzt gefunden. Wenn er Tabletten bekommt, reagiert er recht komisch, er schläft viel und schwitzt. Er hat einige probiert und wieder aufhören müssen.“
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftstaat in das Verfahren ein. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt, es gab dazu keine Stellungnahme ab.
1.18. Mit ergänzender Eingabe vom 31.07.2020 legte der BF einen Ärztlichen Befundbericht vom 09.07.2020 vor, indem diagnostiziert wurde: „F41.0 – Panikstörung, Panikattacke, F45.4 – Somatoforme Schmerzstörung.“ Dem BF wurden Psychopharmaka empfohlen und ein nächster Termin genannt.
Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 07.09.2013 und der Einvernahmen vor dem BFA am 08.06.2015 und 27.06.2016, Belege zur Gesundheit und zur Integration des BF, den Bescheid vom 19.08.2015 sowie den gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 20.09.2016 und die Beschwerden vom 10.09.2015 sowie (gegenständlich) vom 10.10.2016
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 669 bis 715)
? Einvernahme des BF und zeugenschaftliche Einvernahme seiner Lebensgefährtin im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.08.2018 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung zusätzlich vorgelegten Belege zur Gesundheit und zur Integration des BF in Österreich (ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Pflegeheim, Deutschkursbestätigungen, Arbeitsvermittlungszusage sowie mehrere Empfehlungsschreiben)
? Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.08.2018 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Herat und zur medizinischen Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018)
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 sowie Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016 sowie
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 „Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung“ von Friederike Stahlmann
? Einvernahme des BF und zeugenschaftliche Einvernahme seiner Lebensgefährtin im Rahmen der fortgesetzten öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 20.05.2020 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung sowie im weiteren Beschwerdeverfahren zusätzlich vorgelegten Belege zur Gesundheit und zur Integration des BF (Ärztlicher Befundbericht vom 09.07.2020)
? Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 20.05.2020 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Herat und zur medizinischen Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF lebte mit seiner Familie im Dorf XXXX (Distrikt XXXX , Provinz Herat) und war als Teppichhändler erwerbstätig. Er gab an, seine Ehefrau und seine drei Kinder seien in einem Stammeskrieg ums Leben gekommen, wobei er verletzt und in den Iran in ein Krankenhaus gebracht worden sei. Er verließ aus angegebenen Gründen Afghanistan und reiste schlepperunterstützt nach Europa und schließlich bis nach Österreich.
3.1.3. Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat:
Die engere Familie des BF ist nicht mehr am Leben. In seiner Herkunftsregion leben weitschichtige Verwandte, so etwa seine Tante mütterlicherseits mit ihrer Familie (Ehemann, Sohn und acht Töchter).
3.1.4. Gesundheitliche Situation und Erwerbsfähigkeit des BF:
Der BF leidet an erheblichen gesundheitlichen Problemen (Rücken, Kopf, Nase, neurologisch, urologisch u.a.m.), steht in ärztlicher Behandlung und nimmt regelmäßig Medikamente.
Laut einer Psychotherapeutischen Stellungnahme leidet der BF an zahlreichen psychopathologischen Problemen (Flashbacks, Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung wie etwa Ein und Durchschlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit u.v.a.m.). Diagnostiziert wurde (ICD) F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, mit Angst und depressiver Reaktion gemischt.
Laut Psychotherapeutischer Empfehlung bedarf der chronifizierte Dauererregungszustand des BF besonderer Sorgfalt sowohl im Umgang als auch bei jeglicher Befragung in Bezug auf das belastende Ereignis. Eine gute medikamentöse Einstellung sowie eine kontinuierliche Psychotherapie sind unerlässlich.
Laut Ärztlichem Befundbericht vom 09.07.2020 leidet der BF an F41.0 – Panikstörung, Panikattacke, F45.4 – Somatoforme Schmerzstörung. Ihm wurden Psychopharmaka empfohlen und ein nächster Termin genannt.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Die Frage der asylrelevanten Verfolgung des BF in seinem Heimatstaat ist nach der rechtskräftigen Abweisung der Beschwerde vom 10.09.2015 im Hinblick auf Asyl nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsdistrikt in der Provinz Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
3.3.2. Der BF gehört als – nicht mehr ganz junger – Mann mit erheblichen gesundheitlichen Problemen einer besonders vulnerablen Personengruppe an. Er verfügt in Afghanistan über kein hinreichendes familiäres Netzwerk, mit dessen Unterstützung ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage – insbesondere im Hinblick auf seine gesundheitliche Situation, auf seine Lebensgeschichte, auf seinen längeren Aufenthalt in Österreich seit mehr als fünf Jahren und seine Beziehung zu seiner Lebensgefährtin in Österreich – möglich wäre.
Bei einer Rückkehr und Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsregion, insbesondere in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, kann aufgrund der dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden, dass es dem BF möglich wäre, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
3.4. Zur Integration und zu den Lebensumständen des BF in Österreich:
3.4.1. Seinen gesundheitlichen Problemen ungeachtet zeigt der BF seit Jahren zahlreiche Bemühungen, sich sprachlich und beruflich in Österreich zu integrieren und trotz seiner gesundheitlichen Probleme Erwerbstätigkeiten (wie auch gemeinnützige Tätigkeiten) auszuüben. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse.
3.4.2. Der BF lebt seit 2016 in Beziehung mit einer in Österreich seit vielen Jahren aufhältigen ungarischen Staatsangehörigen. Sie hat ebenfalls gesundheitliche Probleme und vermag es, dennoch Erwerbstätigkeiten auszuüben. Sie und der BF leisten einander gegenseitig Unterstützung und Beistand.
3.4.3. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist und strafgerichtlich unbescholten.
3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.5.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 1. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.05.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in