Entscheidungsdatum
01.10.2020Norm
BBG §40Spruch
W261 2227299-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER sowie den fachkundigen Laienrichter Robert ARTHOFER als Beisitzerin und als Beisitzer über die Beschwerde von Dr. XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 30.12.2019, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 14.11.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses und eines Parkausweises nach § 29b StVO beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (auch Sozialministeriumservice, in der Folge belangte Behörde) und legte ein Konvolut an medizinische Befunden bei.
Die belangte Behörde holte zur Überprüfung des Antrages ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 03.12.2019 erstatteten Gutachten vom 12.12.2019 stellte der medizinische Sachverständige beim Beschwerdeführer die Funktionseinschränkung Plexusparese, und einen Gesamtgrad der Behinderung in Höhe von 30 von Hundert (in der Folge v.H.) fest.
Die belangte Behörde übermittelte dem Beschwerdeführer dieses Sachverständigengutachten mit Schreiben vom 16.12.2019 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte diesem eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein. Der Beschwerdeführer führte in seiner Stellungnahme vom 24.12.2019 aus, dass sich der medizinische Sachverständige nicht hinreichend mit den von ihm vorgelegten medizinischen Befunden auseinandergesetzt habe. Es bestehe bei ihm eine obere Plexusarese rechts, welche laut der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 70 v.H. einzuschätzen gewesen wäre. Es liege zudem bei ihm eine deutliche Einschränkung der Schultermuskulatur vor, auch sei eine Funktionseinschränkung im Ellenbogenbereich nicht hinreichend berücksichtig worden. Bei richtiger Einschätzung würde der Gesamtgrad seiner Behinderung zumindest 70 v.H. betragen. Er führte – nicht verfahrensgegenständlich – weiters aus, weswegen er der Ansicht sei, dass ihm die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Der Beschwerdeführer legte weitere medizinische Befunde vor.
Die belangte Behörde holte aus Anlass dieser Stellungnahme eine ergänzende Stellungnahme des befassten medizinischen Sachverständigen ein. In dessen Stellungnahme vom 30.12.2019 führte der medizinische Sachverständige, ein Facharzt für Orthopädie aus, dass der Beschwerdeführer selbst Arzt sei, und Operationen durchführe. Die Handfunktion sei ungestört, die Beweglichkeit der Schultern und Ellenbogen sei gering eingeschränkt. Die Einschätzungsverordnung berücksichtige unter Plexusparese eine komplette Plexusparese, welche einem kompletten Verlust der Funktion einer oberen Extremität entspreche.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.12.2019 wies die belangte Behörde den Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) ab und stellte einen Grad der Behinderung in Höhe von 30 v.H. fest. Die belangte Behörde legte dem Bescheid das eingeholte Sachverständigengutachten samt ergänzender Stellungnahme in Kopie bei.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und brachte zusammengefasst vor, dass die Einschätzung seiner Funktionseinschränkungen nicht entsprechend den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung erfolgt sei. Der Beschwerdeführer legte der Beschwerde keine ärztlichen Befunde bei.
Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 09.01.2020 vor, wo dieser am selben Tag in der Gerichtsabteilung W260 einlangte.
Der Beschwerdeführer reichte bei der belangten Behörde weitere medizinische Befunde nach, welche die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 28.01.2020 übermittelte.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W260 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugeteilt, wo dieses am 12.02.2020 einlangte.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.02.2020 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach der Beschwerdeführer österreichischer Staatsbürger ist, und seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.
Mit Eingabe vom 02.04.2020 erkundigte sich der Beschwerdeführer nach dem Verfahrensstand. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.04.2020 wurde ihm mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ein neues medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen, wobei bedingt durch die COVID-19 Pandemie eine Untersuchung erst im Juni 2020 durchgeführt werden könne.
Zur Überprüfung des Beschwerdegegenstandes holte das Bundesverwaltungsgericht ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin ein.
Mit Eingabe vom 13.05.2020 teilte der Beschwerdeführer mit, dass er als Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohren tätig sei, und im Rahmen seiner Tätigkeit kleinere Operationen durchführe. Er sei durch seine durch die Plexusparese bedingten Funktionseinschränkungen sowohl in der Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit als auch im Alltag eingeschränkt. Die Diagnose sei richtig erfolgt, jedoch sei die Einstufung nach der Einschätzungsverordnung unrichtig, weil der medizinische Sachverständige hinsichtlich seiner Funktionseinschränkungen die falschen Positionsnummern der Einschätzungsverordnung für die Bestimmung des Grades der Behinderung herangezogen habe. Er habe ein Burn Out Syndrom überstanden und sei nun wieder als Arzt tätig.
Das aufgrund einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 05.06.2020 erstattete Gutachten vom 20.06.2020, eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 08.07.2020, kam zum Ergebnis, dass sich keine Änderung des Grades der Behinderung ergebe.
Das Bundesverwaltungsgericht brachte den Parteien des Verfahrens das Ergebnis der Beweisaufnahme mit Schreiben vom 09.07.2020 zur Kenntnis und räumte ihnen eine Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme ein.
Der Beschwerdeführer führte in seiner Stellungnahme vom 22.07.2020 im Wesentlichen aus, dass die Einschätzung des Grades der Behinderung nicht entsprechend der Einschätzungsverordnung vorgenommen worden sei. Die dieser Einschätzung zugrundeliegende Diagnose sei falsch, der Beschwerdeführer leide an massiver Kraftminderung und Einschränkungen der Beweglichkeit in Arm, Schulter, Schultergelenk und Ellbogen. Er könne seinen rechten Arm aus Eigenkraft nur sehr schwer anheben, und es sei ihm nur für kurze Zeit möglich, die Anhebung seines Arms über Schulterniveau sei besonders schwierig. Er beschrieb weitere Funktionseinschränkungen, unter welchen er aufgrund der Plexusparese zu leiden habe. Er habe im Rahmen der Begutachtung Befunde über seine psychischen Leiden vorgelegt, welche nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Es sei ihm nicht zumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen. Er beantrage die Beiziehung von Ärzten aus relevanten Fachgebieten, insbesondere aus dem Fachbereich der Neurologie und Psychiatrie. Schließlich stelle er den Antrag, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen, um sich einen persönlichen Eindruck von seinen tatsächlichen leiden und hinsichtlich seines Zustandes machen zu können. Der Beschwerdeführer legte seiner Stellungnahme erstmals medizinische Befunde hinsichtlich seiner psychischen Erkrankung bei.
Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.
Das Bundesverwaltungsgericht führte dem Antrag des Beschwerdeführers entsprechend am 25.09.2020 eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und die medizinische Sachverständige für Unfallchirurgie und Allgemeinmedizin teilnahmen. Die belangte Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil. Im Zuge dieser Verhandlung erfolgte eine Gutachtenserörterung, wobei die Diagnose des Leidens „obere Plexusparese rechts“ außer Streit gestellt werden konnte, lediglich die Frage der Einschätzung dieser dadurch bedingten Funktionseinschränkung nach der Einschätzungsverordnung blieb strittig.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses langte am 14.11.2019 bei der belangten Behörde ein.
Der Beschwerdeführer erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Der Beschwerdeführer hat seinen Wohnsitz im Inland.
Ausmaß der Funktionseinschränkungen:
Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut.
Größe 182 cm, Gewicht 85 kg, Alter: 33 Jahre.
Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen.
Thorax: symmetrisch, elastisch. Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA HAT rein, rhythmisch. Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz. Integument: unauffällig.
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:
Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, Muskelverhältnisse: Bandmaß Oberarm rechts 31,5 cm, links 33 cm, Unterarm rechts 27,5 cm, links 29 cm. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird am rechten Oberarm lateral als gestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.
Schulter rechts: geringgradig verkürzt, geringgradig im Seitenvergleich geschwächte Bemuskelung des Deltoideus, Schulterkopf zentriert, keine Krepitation, keine Impingement-Symptomatik.
Ellbogengelenke rechts, Handgelenk rechts und Finger: unauffällig. Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit:
Schultern F rechts 0/90, links 0/160
S rechts 0/100, links 0/180
IR/AR rechts 80/0/1 5, links 80/0/40,
Ellbogen rechts 0/20/140, links 0/0/140
Unterarmdrehung rechts 70/0/90, links 90/0/90
Die Beweglichkeit der rechten Schulter ist in der Frontalebene bis 90 Grad möglich, in der Sagittalebene, dh in der Bewegung nach vorne, aktiv bis 100 Grad. Die Innenrotation ist nicht eingeschränkt, die Außenrotation ist geringgradig eingeschränkt, und zwar rechts 15 Grad links 40 Grad, dh die Bewegung nach innen ist dem Beschwerdeführer seitengleich möglich und die Außenrotation ist eingeschränkt. Der rechte Ellenbogen kann nicht ganz gestreckt werden und weist ein Streckdefizit von 20 Grad auf. Die Unterarmdrehung rechts ist in der Supination geringgradig eingeschränkt.
Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind rechts endlagig eingeschränkt, links uneingeschränkt durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten:
Freies Stehen sicher möglich, Zehenballengang und Fersengang beidseits ohne Anhalten und ohne Einsinken durchführbar. Der Einbeinstand ist ohne Anhaften möglich. Die tiefe Hocke ist möglich. Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhältnisse. Beinlänge ident.
Die Durchblutung ist ungestört keine Ödeme, keine Varizen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwietung ist in etwa seitengleich. Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Hüften, Knie, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich. Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60 0 bei KG 5 möglich.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhältnisse, Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, geringgradig im Nackenbereich Hartspann, kein Klopfschmerz über der Wirbelsäule.
Aktive Beweglichkeit:
HWS: in allen Ebenen frei beweglich.
BWS/LWS: FBA: 0 cm, in allen Ebenen frei beweglich.
Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar.
Gesamtmobilität — Gangbild:
Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen, das Gangbild hinkfrei und unauffällig. Das Aus- und Ankleiden wird selbständig im Sitzen durchgeführt.
Status psychicus:
Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig; Stimmungslage ausgeglichen.
Beim Beschwerdeführer besteht folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern wird:
- Obere Plexusparese rechts
Der Gesamtgrad der Behinderung beträgt 30 v. H.
Der Beschwerdeführer legte erstmals nach Einlangen der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgerichtes am 09.01.2020 mit Eingabe vom 13.05.2020 medizinische Befunde hinsichtlich seiner psychischen Leiden vor.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen hinsichtlich der Antragsstellung basieren auf dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zum Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Inland basieren auf dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.
Der Gesamtgrad der Behinderung gründet sich auf das seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholte Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.06.2020, basierend auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 05.06.2020 und der Gutachtenserörterung anlässlich der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 25.09.2020.
Darin wird auf die Art der Leiden des Beschwerdeführers und das dadurch bedingte Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen des Beschwerdeführers vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei eingegangen. Die medizinische Gutachterin setzt sich auch umfassend und nachvollziehbar mit den vorgelegten Befunden sowie mit der Frage der wechselseitigen Leidensbeeinflussungen und dem Zusammenwirken der zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen auseinander. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf den im Rahmen einer persönlichen Untersuchung erhobenen Befunden, entsprechen auch den festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen.
Es steht zweifelsfrei und durch medizinische Befunde belegt und unbestritten fest, dass der Beschwerdeführer seit seiner Geburt an einer oberen Plexusparese rechts mit den festgestellten Funktionseinschränkungen leidet. Diese ist in Form einer Schwäche (Parese) nd nicht in Form einer Lähmung (Plegie) ausgebildet. Strittig ist im gegenständlichen Beschwerdeverfahren nicht die Diagnose per se, sondern die Einschätzung nach der Einschätzungsverordnung, diesbezüglich wird auf die rechtliche Beurteilung verwiesen.
Seitens des Bundesverwaltungsgericht bestehen folglich keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Schlüssigkeit des vorliegenden Sachverständigengutachtens vom 20.06.2020 Es wird daher in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer erstmals mit seiner Eingabe vom 13.05.2020, somit nach Einlangen der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht am 09.01.2020, Befunde hinsichtlich eines psychiatrischen Leidens vorlegte, beruht auf dem Akteninhalt (siehe OZ 8).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Zur Entscheidung in der Sache
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
„§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
…
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.
(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.
…
§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
…
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
§ 46 Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung beträgt 12 Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.“
Die maßgebenden Bestimmungen der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung, BGBl. II. Nr. 261/2010 idgF BGBl II. Nr. 251/2012) lauten auszugsweise wie folgt:
"Behinderung
§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
Grad der Behinderung
§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.
(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.
(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.
Gesamtgrad der Behinderung
§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 v.H. sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.
(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn
- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,
- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.
(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.
Grundlage der Einschätzung
§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.
(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.
...“
Zunächst ist rechtlich festzuhalten, dass der Grad der Behinderung im Beschwerdefall - wie dies auch die belangte Behörde zu Recht annahm - nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen war, was im Verfahren auch unbestritten geblieben ist.
Beim Leiden 1 des Beschwerdeführers handelt es sich um eine geburtsbedingte obere Plexusparese rechts.
Die Einschätzungsverordnung sieht unter Position 04.05. Grundlagen für die Einschätzung von Lähmungen der peripheren Nerven vor. Dabei drückt nach der allgemeinen Einführung zu diesen Positionen der untere Wert jeweils die Schwäche aus und der obere Wert die Lähmung.
Beim Beschwerdeführer liegt eine Parese, dh eine Schwäche vor.
Unter 04.05.01 wird unter „Plexus brachialis“ ausdrücklich eine untere bzw. obere Plexuslähmung angeführt, nicht jedoch eine „Plexusparese“, dh eine Schwäche.
Der Beschwerdeführer moniert, dass diese Bestimmung in der Einschätzungsverordnung, wonach vor allem bei der allgemeinen Einführung zu den Positionen 04.05. zwischen Schwäche und Lähmung unterschieden wird, klar formuliert ist, und aus seiner Sicht der obere bzw. untere Wert der jeweiligen Einzelposition, hier der Position 04.05.01 mit einem GdB zwischen 70% (unterer Wert) und 80% (oberer Wert) heranzuziehen wäre.
Dem ist entgegen zu halten, dass bei der Einschätzung des Grades der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung eindeutig auf das Ausmaß der durch das Leiden bedingten Funktionseinschränkungen abzustellen ist, und nicht auf einen – durchaus widersprüchlichen – Text in der Anlage der Einschätzungsverordnung.
Die durch die obere Plexusparese rechts bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen des Beschwerdeführers liegen nicht in einem Umfang vor, welche, im Vergleich zu anderen Behinderungen im Sinne der Einschätzungsverordnung einen Grad der Behinderung von 70 % rechtfertigen würden. Wohl wissend, dass es sich hierbei um kein neurologische Leiden handelt, ist im Vergleich dazu unter Position 02.06.22 der Einschätzungsverordnung der Verlust eines Armes im Unterarmbereich mit einem GdB von 50 % einzuschätzen, und der Verlust eines Armes im Oberarmbereich oder im Ellenbogengelenk nach Position 02.06.43 der Einschätzungsverordnung mit einem GdB von 70 %.
Der Beschwerdeführer hat durch die bei ihm bestehende obere Plexusparese rechts die festgestellten Funktionseinschränkungen, er ist jedoch nach wie vor in der Lage, den rechten Arm zu nutzen, er gibt sogar an Rechtshänder zu sein.
Nachdem in Position 04.05.01 von einer Lähmung (Plegie) des Plexus brachialis und nicht von einer Parese dieses Nervengeflechtes gesprochen wird, ist davon auszugehen, dass es für diese Behinderung des Beschwerdeführers, welche eine Parese (Schwäche) des Plexus brachialis ist, keine eigene Position in der Anlage der Einschätzungsverordnung gibt.
In diesen Fällen sieht § 2 Abs. 2 der Einschätzungsverordnung vor, dass der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen ist.
Demgemäß stufte die medizinische Sachverständige die obere Plexusparese rechts des Beschwerdeführers richtig gleichzuhaltend einem Zustand einer Lähmung des Nervus axillaris nach Position 04.05.02 der Einschätzungsverordnung im oberen Rahmensatz dieser Position mit einem Grad der Behinderung von 30 % ein. Der Nervus axillaris ist einer der Nerven des Oberarms, die dem Plexus brachialis entspringen.
Die vom Beschwerdeführer im Rahmen der Beschwerde und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgebrachten Beschwerdegründe waren nicht geeignet, die durch die medizinischen Sachverständige getroffenen Beurteilungen zu widerlegen.
Der Berücksichtigung der mit Eingabe vom 13.05.2020 erstmals bekanntgegebenen psychischen Leiden des Beschwerdeführers im Rahmen des Beschwerdeverfahrens steht die im § 46 BBG normierte Neuerungsbeschränkung entgegen.
Mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 30 v.H. sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 v.H. ein Behindertenpass auszustellen ist, aktuell nicht erfüllt.
Im Übrigen ist aber auch darauf hinzuweisen, dass bei einer späteren Verschlechterung des Leidenszustandes die neuerliche Einschätzung des Grades der Behinderung nach Maßgabe des § 41 Abs. 2 BBG in Betracht kommt.
Die Beschwerde war daher spruchgemäß abzuweisen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behindertenpass Grad der Behinderung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W261.2227299.1.00Im RIS seit
18.11.2020Zuletzt aktualisiert am
18.11.2020