Entscheidungsdatum
02.10.2020Norm
BBG §42Spruch
W207 2233626-1/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Natascha GRUBER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 16.07.2020, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer ist laut Inhalt des vom Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) vorgelegten Verwaltungsaktes aktuell Inhaber eines Behindertenpasses mit einem eingetragenen Grad der Behinderung von 50 von Hundert (v.H.). Die Ausstellung dieses Behindertenpasses erfolgte – soweit dem vorgelegten Verwaltungsakt interpretativ entnommen werden kann - offenkundig u.a. auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens einer Fachärztin für Psychiatrie vom 02.02.2020, in dem auf Grundlage der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung die Funktionseinschränkungen 1. „Depressive Störung“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 40 v.H. nach der Positionsnummer 03.06.01 der Anlage der Einschätzungsverordnung, 2. „Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 30 v.H. nach der Positionsnummer 06.06.02 der Anlage der Einschätzungsverordnung, 3. „Koronare Herzerkrankung - keine signifikante Herzkranzgefäßverengung bei klinischer Symptomatik“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 20 v.H. nach der Positionsnummer 05.05.01 der Anlage der Einschätzungsverordnung, 4. „Wirbelsäule - Funktionseinschränkungen geringen Grades“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 20 v.H. nach der Positionsnummer 02.01.01 der Anlage der Einschätzungsverordnung, 5. „Ableitende Harnwege und Nieren, Entleerungsstörung der Blase und der Harnröhre leichten bis mittleren Grades bei Vergrößerung der Prostata“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 10 v.H. nach der Positionsnummer 08.01.06 und 6. „Verlust der Großzehe rechts 1990“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 10 v.H. nach der Positionsnummer 02.05.48 der Anlage der Einschätzungsverordnung, festgestellt wurden. Der Gesamtgrad der Behinderung wurde mit 50 v.H. festgestellt, weil das Leiden 1 durch das Leiden 2 um eine Stufe erhöht werde, da eine maßgebliche wechselseitige Leidensbeeinflussung bestehe. Die weiteren Leiden würden nicht weiter erhöhen. Ein Glaukom bei ausreichender Therapie erreiche keinen Grad der Behinderung. Der Grad der Behinderung sei im Vergleich zum Vorgutachten um zwei Stufen angehoben worden, das Leiden 1 sei neu hinzugekommen. Betreffend die Frage der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde festgehalten, dass diese zumutbar sei.
Am 24.02.2020 stellte der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde den gegenständlichen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis), der entsprechend dem vom Beschwerdeführer unterfertigten Antragsformular für den - auf ihn zutreffenden - Fall, dass er nicht über einen Behindertenpass mit der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in diesem Behindertenpass verfügt, auch als Antrag auf Vornahme der genannten Zusatzeintragung in den Behindertenpass gilt. Diesem Antrag – in dem ausdrücklich u.a. auch die Gesundheitsschädigung „Glaukom“ geltend gemacht wurde - wurden ein Ärztlicher Befundbericht einer näher genannten Gruppenpraxis für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin vom 20.02.2020, eine Kopie des Behindertenpasses des Beschwerdeführers und ein Überweisungsschein betreffend das Glaukom des Beschwerdeführers beigelegt.
Mit E-Mail vom 10.04.2020 urgierte der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde eine Entscheidung.
In weiterer Folge holte die belangte Behörde eine Stellungnahme der Fachärztin für Psychiatrie, welche das Vorgutachten vom 02.02.2020 erstellt hat, vom 24.04.2020 ein. In dieser Stellungnahme führt die Gutachterin Folgendes – hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben –aus:
„Aus psychiatrisch fachärztlicher Sicht besteht die Unzumutbarkeit für die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht. Es liegt keine Klaustrophobie oder phobische Angststörung als Hauptdiagnose vor. Es besteht als Leiden 1 eine depressive Störung die keine Unzumutbarkeit bedingt.
Das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen und der sichere Transport ist gegeben, da auch keine erhebliche Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit im Sinne einer cardiopulmonalen Funktionseinschränkung besteht.
Es liegt keine COPD Grad 4 mit Langzeitsauerstofftherapie vor, ebenso keine Koronare Herzerkrankung mit hochgradigen Dekompensationszeichen.“
Mit Schreiben der belangten Behörde vom 03.06.2020 wurde der Beschwerdeführer über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt, die eingeholte Stellungnahme vom 24.04.2020 sowie das (offenkundig) im Passverfahren eingeholte medizinische Sachverständigengutachten vom 02.02.2020 wurden mit diesem Schreiben übermittelt. Dem Beschwerdeführer wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben.
Am 17.06.2020 langten weitere medizinische Unterlagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein, und zwar ein Röntgenbefund vom 04.07.2016, Ärztliche Befundberichte einer näher genannten Gruppenpraxis für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin vom 17.04.2020 und 16.06.2020, ein Augenbefund eines näher genannten Krankenhauses vom 07.05.2020, ein Arztbrief einer näher genannten Praxis für Urologie vom 09.06.2020 sowie ein Ärztliches Attest einer näher genannten Gruppenpraxis für Allgemeinmedizin vom 15.06.2020.
In weiterer Folge holte die belangte Behörde eine weitere Stellungnahme der Fachärztin für Psychiatrie, welche das Vorgutachten vom 02.02.2020 sowie die Stellungnahme vom 24.04.2020 erstellt hat, vom 15.07.2020 ein. In dieser Stellungnahme führt die Gutachterin Folgendes – hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben –aus:
„Aus psychiatrisch fachärztlicher Sicht ergibt der neu vorgelegte Befund keine Änderung der Einschätzung. Es wurde bisher keine psychiatrisch stationäre oder teilstationäre Therapie gemacht insbesondere keine stationäre Psychotherapie, insofern wurden die Behandlungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft.
Das Augenleiden ist noch nicht abgeklärt. Dies muss nach Abklärung vom Augenfacharzt eingeschätzt werden.
Auch der orthopädische Befund ergibt keine Änderung.“
Mit Bescheid vom 16.07.2020 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 24.02.2020 auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass ab. Diesem Bescheid wurden das von der belangten Behörde (offenkundig) im Passverfahren eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten vom 02.02.2020 und die im gegenständlichen Verfahren eingeholte Stellungnahme vom 15.07.2020 zugrunde gelegt und dem Beschwerdeführer als Beilage übermittelt.
Der Beschwerdeführer brachte per Fax am 23.07.2020 fristgerecht eine handschriftliche Beschwerde gegen den Bescheid vom 16.07.2020, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers vom 24.02.2020 auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass abgewiesen worden war, bei der belangten Behörde ein. Darin führt er aus, dass sich seine gesundheitliche Situation geändert habe. Es sei am 03.09.2020 eine Prostata Operation geplant, des Weiteren liege laut einem näher genannten Krankenhaus eine Glaukom Diagnose vor. Der Beschwerde wurden ein Prämedikationsblatt einer Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin vom 21.07.2020, eine Patienteninformation und ein Befundbericht betreffend das Augenleiden des Beschwerdeführers eines näher genannten Krankenhauses vom 14.07.2020 sowie der bereits vorgelegte Arztbrief einer näher genannten Praxis für Urologie vom 09.06.2020 beigelegt.
Im Verwaltungsakt der belangten Behörde findet sich folgender Aktenvermerk vom 31.07.2020:
„Da aus der Beschwerde bzw. den vorgelegten Unterlagen keine neuen Leiden bzw. keine erhebliche Leidensverschlechterung hervorgeht und ein neuer OP-Termin lt. vorgelegten Unterlagen erst am 13.10.2020 stattfinden soll, wird die Beschwerdevorentscheidung abgebrochen und das Verfahren an das BVwG übermittelt.“
Die belangte Behörde machte von der ihr eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung iSd § 14 VwGVG somit keinen Gebrauch, sondern legte den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 03.08.2020 zur Entscheidung vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu Spruchteil A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
- der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
- die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:
„§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben oder der Pass eingezogen wird.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
…
§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“
§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 in der Fassung des BGBl. II Nr. 263/2016, lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:
„§ 1 …
(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:
1. die Art der Behinderung, etwa dass der Inhaber/die Inhaberin des Passes
a)…
b)…
…
2. …
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach Abs. 4 Z 1 lit. b oder d vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(6)..."
Der Beschwerdeführer ist aktuell Inhaber eines Behindertenpasses; der Grad der Behinderung wurde zuletzt mit 50 v.H. festgestellt. Dem gegenständlichen Verfahren liegt nun ein Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragungen „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass zu Grunde.
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).
Ein solches Sachverständigengutachten muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321). Dabei ist auf die konkrete Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einzugehen, dies unter Berücksichtigung der hiebei zurückzulegenden größeren Entfernungen, der zu überwindenden Niveauunterschiede beim Aus- und Einsteigen, der Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche, bei notwendig werdender Fortbewegung im Verkehrsmittel während der Fahrt etc. (VwGH 22.10.2002, 2001/11/0242; VwGH 14.05.2009, 2007/11/0080).
Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt als mangelhaft, und zwar aus folgenden Gründen:
Der Beschwerdeführer hat bereits im Rahmen seines gegenständlichen Antrages vom 24.02.2020 auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass ausdrücklich u.a. auch die Gesundheitsschädigung „Glaukom“ geltend gemacht und einen Überweisungsschein betreffend ein „Glaukoma chron. simpl bds.“ vorgelegt, in welchem weiters beschrieben wird, dass beim Beschwerdeführer „zunehmende Gesichtsfelddefekte trotz maximaler Glaukomtropftherapie“ vorliegen würden.
In der Folge wurde von der durch die belangte Behörde beigezogenen Fachärztin für Psychiatrie in ihrer ersten Stellungnahme vom 24.04.2020 nicht auf das vom Beschwerdeführer vorgebrachte Augenleiden eingegangen, was insofern nicht überrascht, als diese keine Fachärztin für Augenheilkunde ist. In Rahmen des eingeräumten Parteiengehörs legte der Beschwerdeführer weitere Befunde zu seinem Augenleiden vor, unter anderem einen neurologischen Befundbericht vom 17.04.2020. Darin wird als Diagnose eine „Gesichtsfeldeinschränkung bds. – derzeit ohne ersichtliche neurologische Ursache“ beschrieben. Des Weiteren legte er einen Augenbefund eines näher genannten Krankenhauses vom 07.05.2020 vor.
In ihrer zweiten Stellungnahme vom 15.07.2020 führte die von der belangten Behörde beigezogene Fachärztin für Psychiatrie zum vom Beschwerdeführer vorgebrachten Augenleiden Folgendes aus: „Das Augenleiden ist noch nicht abgeklärt. Dies muss nach Abklärung vom Augenfacharzt eingeschätzt werden.“
Die belangte Behörde holte allerdings kein Sachverständigengutachten eines Augenfacharztes ein, obwohl jedenfalls zu diesem Zeitpunkt das Vorliegen eines dauerhaften Augenleidens keineswegs ausgeschlossen schien, sondern erließ den gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 16.07.2020, ohne darzulegen, aus welchen Gründen eine Auseinandersetzung mit dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Augenleiden entbehrlich sein sollte, und ist dies auch für das Bundesverwaltungsgericht nicht ersichtlich.
Im Rahmen der erhobenen Beschwerde legte der Beschwerdeführer eine Patienteninformation und einen Befundbericht betreffend sein Augenleiden eines näher genannten Krankenhauses vom 14.07.2020 vor. Aus diesen Unterlagen lässt sich schließen, dass am 13.10.2020 eine Glaukom-Operation beim Beschwerdeführer geplant ist. Dazu findet sich folgender Aktenvermerk im Verwaltungsakt der belangten Behörde: „[…] und ein neuer OP-Termin lt. vorgelegten Unterlagen erst am 13.10.2020 stattfinden soll, wird die Beschwerdevorentscheidung abgebrochen und das Verfahren an das BVwG übermittelt.“
Das befundmäßig belegte Augenleiden des Beschwerdeführers wurde von der belangten Behörde bei der Beurteilung der verfahrensgegenständlichen und entscheidungserheblichen Frage, ob dem Beschwerdeführer die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aktuell zumutbar ist, ob also beim Beschwerdeführer eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach Abs. 4 Z 1 lit. b oder d im Sinne des § 1 Abs. 4 Z 3 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen vorliegt, unberücksichtigt gelassen, dies, obwohl bereits im Rahmen der gegenständlichen Antragstellung am 24.02.2020 ein entsprechendes Vorbringen erstattet und entsprechende medizinische Unterlagen vorgelegt wurden und zudem auch durch die von der belangten Behörde beigezogene Fachärztin für Psychiatrie ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass das Augenleiden noch nicht abgeklärt ist und von einem Augenfacharzt eingeschätzt werden muss, was im Übrigen bezogen auf den gegenständlichen Fall auch die Beurteilung allfälliger Erfolgsaussichten einer solchen Glaukom-Operation im Hinblick auf die Frage der Auswirkung einer maßgeblichen Sehbehinderung auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel umfasst, da ein allenfalls bereits eingetretener Schaden an Sehnerv und Netzhaut eventuell auch durch die Operation nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, bzw. die Beurteilung des Leidenszustandes nach einer allfälligen Operation.
Die von der belangten Behörde im gegenständlichen Verfahren eingeholten medizinischen Stellungnahmen einer Fachärztin für Psychiatrie vom 24.04.2020 und vom 15.07.2020 werden somit den Anforderungen an die Schlüssigkeit und Vollständigkeit eines Sachverständigengutachtens bzw. einer gutachterlichen Stellungnahme in Bezug auf die gegenständlich entscheidungserheblichen Fragen insbesondere hinsichtlich des Vorliegens einer hochgradigen Sehbehinderung nicht gerecht und sind diese – wie dies die medizinische Sachverständige in ihrer Stellungnahme vom 15.07.2020 auch selbst dargelegt hat - ergänzungsbedürftig und daher im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, zur ausreichenden Sachverhaltsklärung beizutragen.
Die belangte Behörde machte auch von der ihr gemäß § 14 VwGVG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung (die unter anderem auch dazu dienen kann, anlässlich des Beschwerdevorbringens bei allenfalls gleichbleibendem Bescheidergebnis wesentliche Sachverhalts- oder auch Begründungselemente nachzutragen) trotz des entsprechenden Beschwerdevorbringens keinen Gebrauch und legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde mit dem Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.
Im gegenständlichen Fall ist jedenfalls davon auszugehen, dass die belangte Behörde im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den Sachverhalt – bezogen auf den konkreten Verfahrensgegenstand der Frage der (Un)Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – nur ansatzweise ermittelt hat bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in entscheidungswesentlichen Fragen an das Bundesverwaltungsgericht delegiert hat.
Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch, dass mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren ein höherer Aufwand verbunden ist.
Die belangte Behörde wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Augenleiden sachgerecht auseinanderzusetzen und ein entsprechendes augenfachärztliches Sachverständigengutachten einzuholen haben. Das Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung wird in der Folge in Bezug zu setzen sein zu den weiteren beim Beschwerdeführer vorliegenden Funktionseinschränkungen und deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes ausgeführt, dass im verwaltungsbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt in Anbetracht des oben zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz keine grundsätzliche Rechtsfrage vor.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W207.2233626.1.00Im RIS seit
18.11.2020Zuletzt aktualisiert am
18.11.2020