TE Vfgh Erkenntnis 1995/11/27 B1586/95, B1587/95, B1588/95

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Veröffentlicht am 27.11.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §5

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen mangels gesicherten Lebensunterhalts; Unterlassen der gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern, zuhanden ihres Rechtsvertreters, die mit je 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Die Beschwerdeführer (ein seit 1977 in Österreich lebender, unter einer paranoiden Psychose leidender türkischer Staatsangehöriger und seine beiden Kinder im Alter von vier und fünf Jahren, die insgesamt von den seit 26 Jahren in Österreich lebenden Eltern des erstgenannten Beschwerdeführers betreut und erhalten werden) beantragten am 25. April 1994 die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligungen. Dieser Antrag wurde mit den im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §5 Abs1 AufG mit der Begründung abgewiesen, das Einkommen der Eltern des erstgenannten Beschwerdeführers von monatlich 10.600 S netto und zusätzlich 2.000 S brutto monatlich reiche zur Sicherung des Lebensunterhalts von fünf Personen nicht aus.

2. Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.

Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1.a) Die angefochtenen Bescheide, greifen in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführer, die sich seit mehreren Jahren rechtmäßig in Österreich aufhalten, ein.

b) Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis v. 16.3.1995, B2259/94, mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der in §5 Abs1 AufG besonders hervorgehobenen Versagungstatbestände der für die Dauer der Bewilligung nicht gesicherten ortsüblichen Unterkunft oder des nicht gesicherten Lebensunterhaltes in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, verhalten, die Notwendigkeit der Versagung der Bewilligung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

d) Die belangte Behörde ist im angefochtenen Bescheid auf die familiäre Situation der Beschwerdeführer, die sich bereits seit mehreren Jahren in Österreich aufhalten (der erstgenannte Beschwerdeführer seit 1977), nicht eingegangen, sie hat damit die im Sinne des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung in Wahrheit nicht vorgenommen. Der Bescheid war aus diesem Grund aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von jeweils 3.000 S enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B1586.1995

Dokumentnummer

JFT_10048873_95B01586_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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