RS Vfgh 2020/10/1 V428/2020 (V428/2020-10)

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Veröffentlicht am 01.10.2020
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
COVID-19-MaßnahmenG §1, §2, §20, §32
EpidemieG 1950 §15
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 §6, §10
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung einer COVID-19-Lockerungsverordnung betreffend das Verbot von Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 mangels ausreichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Rechtssatz

Gesetzwidrigkeit des §10 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl II 197/2020, (Individualantrag von Diskotheken- und Barbetreibern). Ablehnung der Behandlung des gegen §6 COVID-19-LV idF BGBl II 197/2020 gerichteten Individualantrags wegen entschädigungslosen Betretungsverbotes vor dem Hintergrund von E v 14.07.2020, G202/2020.

Vor dem Hintergrund des, wie §10 Abs2 COVID-19-LV zeigt, weiten Veranstaltungsbegriffes des §10 COVID-19-LV sind die antragstellenden Parteien als Verantwortliche von Veranstaltungen, die sie im Zusammenhang mit ihren Bar- und Diskothekenbetrieben organisieren, von den in §10 COVID-19-LV geregelten Beschränkungen unmittelbar betroffen. Dass §10 COVID-19-LV in der im Zeitpunkt der Antragstellung - richtigerweise - angefochtenen Fassung BGBl II 197/2020 in der Folge durch BGBl II 207/2020 mit Geltung vom 15.05.2020 bis 28.05.2020 abgeändert wurde, schadet mit Blick auf die mit E v 14.07.2020, V411/2020, beginnende Rsp des VfGH nicht. Es steht kein anderer zumutbarer Weg, angesichts der Verwaltungsstrafdrohung des §3 Abs2 COVID-19-MaßnahmenG idF BGBl I 12/2020 zur Verfügung, die Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bestimmung an den VfGH heranzutragen. Die antragstellenden Parteien sind durch das Verbot des §10 Abs1 COVID-19-LV unmittelbar betroffen. §10 Abs2 COVID-19-LV, der definiert, was als Veranstaltung vom Verbot des Absatz 1 erfasst ist, steht mit diesem Absatz 1 ebenso in einem untrennbaren Zusammenhang wie die weiteren Absätze 3 bis 5 dieser Bestimmung, die alle unmittelbar am Verbot des Absatz 1 und dessen Ausgestaltung durch Absatz 2 anknüpfen.

Der BMSGPK kann gemäß §2 Z1 COVID-19-MaßnahmenG idF BGBl I 23/2020 durch Verordnung "das Betreten von bestimmten Orten" untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, auf welche Zeiten das Betretungsverbot beschränkt ist und darüber hinaus, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.

§15 EpidemieG 1950 sieht zum Antragszeitpunkt idF BGBl I 114/2006 vor, dass die Bezirksverwaltungsbehörden Veranstaltungen, die ein Zusammenströmen größerer Menschenmengen mit sich bringen, untersagen können, sofern und solange dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist. Ergänzend regelt §43 Abs4a EpidemieG 1950 idF BGBl I 23/2020, dass, soweit eine Zuständigkeit zur Erlassung von Verordnungen durch die Bezirksverwaltungsbehörde vorgesehen ist, Verordnungen, deren Anwendungsbereich sich auf mehrere politische Bezirke oder das gesamte Landesgebiet erstreckt, vom Landeshauptmann zu erlassen sind.

Das in §10 Abs1 COVID-19-LV idF BGBl II 197/2020 festgelegte Veranstaltungsverbot (in Geltung vom 01.05.2020 bis 30.06.2020; mit BGBl II 231/2020 mit Ablauf des 28.05.2020 neu gefasst) betrifft Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen. §10 Abs2 COVID-19-LV definiert als Veranstaltung insbesondere geplante Zusammenkünfte und Unternehmungen zur Unterhaltung, Belustigung, körperlichen und geistigen Ertüchtigung und Erbauung. Dazu zählen jedenfalls kulturelle Veranstaltungen, Sportveranstaltungen, Hochzeiten, Filmvorführungen, Ausstellungen und Kongresse. Vom Verbot nach Absatz 1 sieht §10 Abs3 COVID-19-LV eine Ausnahme für bestimmte Begräbnisse vor und §10 Abs4 COVID-19-LV legt Auflagen für das Betreten eines Veranstaltungsortes gemäß Absatz 1 fest. Schließlich nimmt §10 Abs5 COVID-19-LV Veranstaltungen im privaten Wohnbereich, Versammlungen nach dem VersammlungsG 1953, Zusammenkünfte zu beruflichen Zwecken, wenn diese zur Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit unbedingt erforderlich sind, und Betretungen nach §5 COVID-19-LV vom Verbot nach Absatz 1 aus.

Verstoß des §10 COVID-19-LV gegen §15 EpidemieG 1950:

Die Verordnungsermächtigung des §15 EpidemieG 1950 idF BGBl I 114/2006 determiniert die verordnungserlassende Behörde in mehrfacher Hinsicht:

Wie der VfGH bereits in seinen E jeweils vom 14.07.2020, V363/2020 und V411/2020, dargelegt hat, kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber nach Art18 Abs2 B-VG Abwägungs- und Prognosespielräume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungsermächtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen. Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt. In diesem Zusammenhang hat der VfGH auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbehördlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist. Dabei hat der VfGH auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche - unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene - Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt.

Wie schon die Überschrift zu dieser Bestimmung deutlich macht, hat §15 EpidemieG 1950 in der hier maßgeblichen Fassung die Untersagung von Veranstaltungen vor Augen, um das "Zusammenströmen größerer Menschenmengen" zur Verhinderung der Ausbreitung ansteckender, nach dem Epidemiegesetz meldepflichtiger Krankheiten - wozu nach der Verordnung des BMSGPK betreffend anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten 2020, BGBl II 15/2020, auch COVID-19 zählt - vor Augen. Die Untersagung von Veranstaltungen ist nach §15 EpidemieG 1950 nämlich nur zulässig, "sofern und solange dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist."

Damit gibt das Gesetz nicht nur den Zweck von Veranstaltungsuntersagungen, nämlich ein Zusammenströmen größerer Menschenmengen zu verhindern, vor, sondern enthält auch Vorgaben, die die Ermächtigung dahingehend begrenzen, dass Veranstaltungen nicht schlechthin verboten werden dürfen, sondern nur, sofern und solange dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer entsprechenden Krankheit zur Verhinderung ihrer Verbreitung unbedingt erforderlich ist.

Nach §15 EpidemieG 1950 bedarf es jedenfalls einer Abwägung der Interessen derer, die Veranstaltungen durchführen, bzw insbesondere derjenigen, die daran teilnehmen wollen, mit einer gravierenden Bedrohung durch Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung, wenn nach dieser Bestimmung Veranstaltungen untersagt werden sollen.

Die Überlegungen des VfGH in seinen E jeweils vom 14.07.2020, V363/2020 und V411/2020 zu §1 COVID-19-MaßnahmenG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG lassen sich auf §15 EpidemieG 1950 übertragen. Auch wenn diese Bestimmung einen gegenüber §1 COVID-19-MaßnahmenG sachlich eingeschränkten Anwendungsbereich aufweist, ermächtigt erstere den Verordnungsgeber doch wie letztere unter Vorgabe einer konkreten Zielsetzung und unter Bindung an ein Verhältnismäßigkeitsgebot zu weitreichenden Grundrechtseingriffen, wenn Zusammenkünfte und Unternehmungen zum Zwecke der körperlichen und geistigen Ertüchtigung und Erbauung, zur Unterhaltung oder auch bloß zur Belustigung und somit Ereignisse wie kulturelle Veranstaltungen, Hochzeiten oder Sportveranstaltungen untersagt werden dürfen. Auch Begräbnisse sind, wie §10 Abs3 COVID-19-LV zeigt, vom Verbot des §10 Abs1 COVID-19-LV erfasst.

Im Akt finden sich Entwürfe der Verordnung vom 28.04.2020 und vom 30.04.2020 sowie die kundgemachte Verordnung und der Hinweis in der Rubrik "Sachverhalt", dass mit dem Entwurf die ab 01.05.2020 geltenden Maßnahmen in Betriebstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc geregelt sind. Darüber hinaus liegen diesem Verordnungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die angeführten gesetzlichen Grundlagen der Verordnung relevante Ausführungen oder Unterlagen ein.

Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der Regelung des §10 COVID-19-LV betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus dem vorgelegten Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände den Verordnungsgeber im Hinblick auf §10 der Verordnung geleitet haben; dabei wiegt die Tatsache, dass diese Regelung intensiv in die Grundrechtssphäre sowohl der Veranstalter als auch der Besucher eingreift, schwer. Der Verordnungsgeber hat es gänzlich unterlassen, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Bestimmung getroffenen Maßnahmen für unbedingt erforderlich gehalten hat.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), VfGH / Individualantrag, Verordnungserlassung, Legalitätsprinzip, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Weg zumutbarer

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:V428.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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