TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/21 Ra 2020/18/0172

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/18/0173

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. A Y, und 2. Y Y, beide vertreten durch Mag. Theresia Kölly, Rechtsanwältin in 7350 Oberpullendorf, Rosengasse 55, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2020, L524 2223885-1/4E, L524 2223888-1/4E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers; beide sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit.

2        Die Erstrevisionswerberin beantragte am 29. März 2019 für sich und den Zweitrevisionswerber internationalen Schutz. Sie brachte zusammengefasst vor, sie habe gegen den Willen ihrer Familie einen Mann (den Vater des Zweitrevisionswerbers) geheiratet, der in weiterer Folge ihr gegenüber gewalttätig geworden sei und von der Erstrevisionswerberin mittlerweile die Scheidung verlange. Die Familie der Erstrevisionswerberin sei nicht bereit, die Erstrevisionswerberin und den Zweitrevisionswerber, den sie als „Bastard“ bezeichne, wieder aufzunehmen. Im Gegenteil werde die Erstrevisionswerberin wegen Verletzung der Familienehre mit dem Tode bedroht, wogegen ihr die türkischen Sicherheitsbehörden keinen effektiven Schutz gewähren würden.

3        Mit Bescheiden jeweils vom 23. August 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebung der revisionswerbenden Parteien in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4        Die dagegen erhobene gemeinsame Beschwerde der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5        Begründend führte das BVwG zunächst aus, die Erstrevisionswerberin habe die Bedrohung durch ihre Brüder nicht glaubhaft machen können. Im Übrigen könne nicht erkannt werden, dass die von Privatpersonen (Ehegatte, Familienangehörige des Ehegatten und Familienangehörige der Erstrevisionswerberin) verfolgten revisionswerbenden Parteien von den türkischen Behörden aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründen keinen Schutz erhalten würden. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden nicht schutzfähig wären. Dass der Vater der Erstrevisionswerberin diese und den Zweitrevisionswerber nicht länger „durchfüttern“ wolle, sei keinem Asylgrund zuzuordnen; das Vorbringen der Erstrevisionswerberin, sie könne als alleinstehende geschiedene Frau in der Türkei nicht überleben, sei ebenfalls nicht asylrelevant. Subsidiärer Schutz sei den revisionswerbenden Parteien nicht zu gewähren, weil es ihnen nicht gelungen sei, eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung glaubhaft zu machen bzw. sei eine solche nicht vorgebracht worden. Sie gehörten auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergebe, „der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte“. Es könne auch nicht erkannt werden, dass den revisionswerbenden Parteien bei Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre.

6        Das BVwG argumentierte weiters, die Erstrevisionswerberin habe in der Beschwerde die Einvernahme einer namentlich genannten Zeugin zum Beweis ihrer telefonischen Bedrohung durch den Ehegatten und ihren Vater beantragt. Diese Einvernahme könne unterbleiben, weil das Vorbringen der Erstrevisionswerberin ohnehin nicht asylrelevant sei. Auch von der beantragten mündlichen Verhandlung könne abgesehen werden, weil das BFA ein umfassendes Ermittlungsverfahren durchgeführt und die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt habe. Das BVwG teile die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung. In der Beschwerde sei kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden.

7        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG folge dem Beweisantrag der Erstrevisionswerberin in der Beschwerde zu Unrecht nicht und vermeine, das Fluchtvorbringen weise keine Asylrelevanz auf. Die Bedrohung der Erstrevisionswerberin durch innerfamiliäre Nachstellungen bis hin zum „Ehrenmord“ wegen des Vorwurfs, durch den Verstoß gegen soziokulturelle Normen die „Familienehre“ verletzt zu haben, sei entgegen der Rechtsansicht des BVwG aber asylrelevant, wenn dagegen - wie hier - im Herkunftsstaat kein effektiver Schutz gewährt werde und keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative bestehe. Die Versagung von subsidiärem Schutz begründe das BVwG damit, dass die revisionswerbenden Parteien keiner speziellen Risikogruppe angehören würden. Die von der Erstrevisionswerberin geltend gemachte Betroffenheit von häuslicher Gewalt und vom Risiko eines „Ehrenmordes“ werfe aber unter den in der Türkei gegebenen Rahmenbedingungen erhebliche Bedenken bezüglich des Bestehens eines „real risk“ von Verletzungen der durch Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte auf. Das BVwG sei außerdem von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil der Beweiswürdigung des BFA in der Beschwerde argumentativ und mit entsprechenden Beweisanboten entgegen getreten worden sei.

8        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig und begründet.

11       Die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses ist in mehrfacher Weise mangelhaft und widersprüchlich. Schon deshalb lässt sie eine nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht zu.

12       So lässt sich der angefochtenen Entscheidung nicht widerspruchsfreientnehmen, ob das BVwG dem Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin zu den Bedrohungen durch den Ehemann, durch dessen Familie und durch eigene Familienangehörige Glauben schenkte oder nicht.

13       Das BVwG bezeichnete zwar die Bedrohung der Erstrevisionswerberin durch ihre Brüder als nicht glaubhaft (was, wie im Folgenden noch darzulegen sein wird, der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedurft hätte), nahm gleich darauf aber Überlegungen zur Schutzfähigkeit und -willigkeit der türkischen Sicherheitsbehörden vor, bei denen es offensichtlich vom Zutreffen einer behaupteten Verfolgung durch den Ehegatten, dessen Familie und eigene Familienangehörige der Erstrevisionswerberin ausging.

14       Auch die Erwägungen des BVwG, eine weitere Zeugeneinvernahme (zur Bedrohung der Erstrevisionswerberin) würde sich erübrigen, weil das Vorbringen ohnehin nicht asylrelevant sei, deuten darauf hin, dass das BVwG keine abschließende Beurteilung vornehmen wollte, ob dem Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin Glauben geschenkt werde oder nicht. Sollte dies gemeint gewesen sein und das Vorbringen der Erstrevisionswerberin als wahr unterstellt werden, lässt sich allerdings nicht nachvollziehen, weshalb das BVwG auch davon sprach, dass die Erstrevisionswerberin keine individuelle Bedrohung vorgebracht habe und schon deshalb zu keiner Risikogruppe gehöre, die bei Rückkehr Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden zu erwarten habe.

15       Wenn das BVwG auf die Schutzfähigkeit und -willigkeit der türkischen Sicherheitsbehörden hinweist, steht diese Einschätzung in einem nicht aufgeklärten Spannungsverhältnis zu den eigenen Länderfeststellungen, wonach in der Türkei „in Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen ... große Defizite“ bestünden und es immer noch zu sogenannten „Ehrenmorden“ im Familienkreis komme.

16       Dass das BVwG bei seinen Erwägungen möglicherweise auch einigen Rechtsirrtümern unterlegen ist (was sich aufgrund der widersprüchlichen Begründungsteile des Erkenntnisses nicht mit Sicherheit erkennen lässt), sei nur kurz angesprochen: So ist auf die gefestigte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach bei drohenden körperlichen Übergriffen bis hin zum „Ehrenmord“ durch die eigene Familie Asylrelevanz nicht ohne Weiteres verneint werden kann (vgl. etwa VwGH 9.9.2010, 2007/20/1091; VwGH 25.03.2015, Ra 2014/18/0153). Ungeachtet des (möglichen) Konventionsgrundes käme aber bei mangelnder Schutzfähigkeit des Staates jedenfalls subsidiärer Schutz gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Betracht, der - entgegen der Argumentation des BVwG - nicht bloß zu Abschiebeschutz führt, sondern einen eigenen internationalen Schutzstatus begründet.

17       Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass bei Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens der Erstrevisionswerberin internationaler Schutz gewährt werden könnte, zumal auch die Schutzfähigkeit und -willigkeit der türkischen Sicherheitsbehörden nicht hinreichend nachvollziehbar begründet worden ist.

18       Dementsprechend kam dem Beweisantrag der revisionswerbenden Parteien auf Einvernahme einer namentlich genannten Zeugin zum Nachweis der Bedrohung im Herkunftsstaat und ihrem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung - anders als das BVwG vermeint - durchaus Bedeutung zu. Zu Recht macht die Revision geltend, dass in der Beschwerde den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA substantiiert entgegen getreten worden ist und entsprechende Beweise angeboten wurden. Auch die Frage der Schutzfähigkeit und -willigkeit türkischer Sicherheitsbehörden wurde im Rechtsmittel umfangreich in Frage gestellt. Von einem „geklärten Sachverhalt“, der im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG eine Verhandlung vor dem BVwG erübrigt hätte (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014,
Ra 2014/20/0017 bis 0018), konnte somit nicht ausgegangen werden.

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

20       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

21       Wien, am 21. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180172.L01

Im RIS seit

04.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.12.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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