TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/29 Ra 2018/11/0129

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Veröffentlicht am 29.10.2020
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Index

E1E
E6J
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
59/04 EU - EWR
60/01 Arbeitsvertragsrecht

Norm

AVRAG 1993 §7g Abs2
AVRAG 1993 §7i Abs1
AVRAG 1993 §7i Abs3
AVRAG 1993 §7i Abs4
VStG §2 Abs2
VStG §27 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28 Abs1
VwGVG 2014 §38
VwGVG 2014 §50
12010E056 AEUV Art56
62018CJ0064 Maksimovic VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des O L in H, vertreten durch die Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in 3100 St. Pölten, Domgasse 2, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Salzburg vom 10. April 2018, Zl. 405-7/448/1/26-2018, betreffend Übertretungen des AVRAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Salzburg), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 21. August 2017 wurde dem Revisionswerber in 339 Fällen zur Last gelegt, dass er als gemäß § 9 VStG zur Vertretung nach außen berufenes Organ der P GmbH, mit Standort in S (Niederösterreich), zu verantworten habe, dass er der Salzburger Gebietskrankenkasse die geforderten Lohnunterlagen nicht bis zum 17. Februar 2016 übermittelt habe. Daher liege jeweils eine Übertretung von § 7g Abs. 2 zweiter Satz iVm § 7i Abs. 1 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) vor.

2        Mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis wurde die Beschwerde des Revisionswerbers unter Spruchpunkt I. mit der Maßgabe abgewiesen, dass der Spruch des bekämpften Straferkenntnisses der belangten Behörde zu lauten habe (Hervorhebung im Original):

„Herr [Revisionswerber] hat als handelsrechtlicher Geschäftsführer somit als das gemäß § 9 Verwaltungsstrafgesetzes 1991 zur Vertretung nach außen berufene Organ der P GmbH mit Standort in S[...], welche Arbeitgeberin der nachfolgend angeführten beschäftigten Arbeitnehmerinnen (aktive und ehemalige, bezeichnen mit 1. - 339.) ist/war, zu verantworten, dass Lohnkonten für alle Dienstnehmer, die seit 01.10.2014 beschäftigt gewesen sind oder noch laufend in Beschäftigung stehen trotz nachweislich zugestellter Aufforderung durch die Salzburger Gebietskrankenkasse vom 15.1.2016, nicht bis zum 1.2.2016 dem zuständigen Krankenversicherungsträger, Salzburger Gebietskrankenkasse, [...], übermittelt und damit gesandt wurden, obwohl Arbeitgeberinnen auf Verlangen die erforderlichen Unterlagen oder Ablichtungen an den zuständigen Träger der Krankenversicherung (hier Salzburger Gebietskrankenkasse) zu übermitteln haben, wobei die Unterlagen oder Ablichtungen bis zum Ablauf des der Aufforderung zweitfolgenden Werktags abzusenden sind.“

Unter Spruchpunkt II. wurde ausgesprochen, dass der Revisionswerber einen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens in der Höhe von € 16.950 zu leisten habe. Mit Spruchpunkt III. wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig sei.

3        Begründend stellte das Verwaltungsgericht zusammengefasst fest, der Revisionswerber sei seit 26. November 2014 als selbstständig vertretender Geschäftsführer der P GmbH ins Firmenbuch eingetragen gewesen. Für den Zeitraum von 13. Mai 2015 bis 18. März 2017 sei daneben eine zweite Geschäftsführerin als ebenfalls selbstständig vertretende Geschäftsführerin eingetragen gewesen. Die P GmbH habe seit April 2015 ihren Sitz in S (Niederösterreich).

Die Salzburger Gebietskrankenkasse habe die P GmbH mit Schreiben vom 28. Oktober 2015 um Übermittlung von Dienstzetteln bzw. Dienstverträgen, Arbeitszeitaufzeichnungen, Lohnkonten und Reisekostenabrechnungen für alle Dienstnehmer, die seit 1. Oktober 2014 beschäftig gewesen seien bzw. noch laufend in Beschäftigung stünden, bis zum 12. November 2015 ersucht. Bei einem Außendienstbesuch der Prüfer der Salzburger Gebietskrankenkasse im Büro der P GmbH in S am 4. Dezember 2015 habe die Prüferin sämtliche angeforderten und dort vorhandenen Unterlagen kopiert. Betreffend Lohnunterlagen und Zeitzettel sowie Reisekostenabrechnungen sei die Prüferin an das Büro in Niederösterreich verwiesen worden. Mit E-Mail vom 14. Dezember 2015 habe die Prüferin der Geschäftsführerin der P GmbH mitgeteilt, dass sie noch Unterlagen für Einsätze von Mitarbeitern bei näher bezeichneten Betrieben sowie für zwei bestimmte Arbeitnehmer benötige. In einem Telefonat am 7. Jänner 2016 habe die Geschäftsführerin versprochen, diese Unterlagen bis zum 11. Jänner 2016 zu übermitteln. Mit Schreiben vom 15. Jänner 2016 an den Unternehmenssitz sei ersucht worden, bis 1. Februar 2016 Lohnkonten für alle Dienstnehmer, die seit 1. Oktober 2014 beschäftigt worden seien bzw. noch in Beschäftigung stünden, sowie Unterlagen für zwei näher angeführte Arbeitnehmer zu übermitteln.

4        Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, dass der Bürgermeister der Landeshauptstadt Salzburg zur Erlassung des gegenständlichen Straferkenntnisses zuständig sei, da durch die Verwendung des Begriffes „übermitteln“ in § 7g Abs. 2 und 7i Abs. 1 AVRAG klargestellt werde, dass - ähnlich wie in den Fällen einer Auskunftspflicht nach § 103 Abs. 2 KFG 1967 - Erfüllungsort dieser öffentlich-rechtlichen Verpflichtung jener Ort sei, an dem die geschuldete Leistung zu erbringen sei. Das sei der Sitz der die Übermittlung dieser Unterlagen verlangenden Einrichtung, der auch Tatort bezüglich der Unterlassung der Übermittlung dieser Unterlagen sei. Da im gegenständlichen Fall das Auskunftsverlangen von der Salzburger Gebietskrankenkasse gestellt worden sei, sei der Bürgermeister der Landeshauptstadt Salzburg örtlich zuständige Strafbehörde. Das Schreiben der Salzburger Gebietskrankenkasse vom 15. Jänner 2016 sei eine Aufforderung im Sinne des § 7g Abs. 2 AVRAG. Da dieser nicht bis zum 1. Februar 2016 entsprochen worden sei, liege jeweils eine Verwaltungsübertretung im Sinne des §7i Abs. 1 zweiter Satz AVRAG vor.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

6        Zur Zulässigkeit der Revision wird unter anderem vorgebracht, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht von einer wirksamen Aufforderung gemäß § 7g Abs. 2 AVRAG ausgegangen sei. Weiters sei die belangte Behörde unzuständig gewesen. Die Zuständigkeit zur Führung des Verwaltungsstrafverfahrens richte sich entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht nach dem Sitz der Behörde, die die Übermittlung gefordert habe, sondern nach dem Sitz des Unternehmens, von dem Unterlagen gefordert worden seien.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8        Die Revision ist aus den in ihr genannten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

9        In den Revisionsgründen bringt der Revisionswerber zusammengefasst vor, dass die belangte Behörde unzuständig gewesen sei, da sich der Tatort nicht nach dem Sitz der Behörde richte, sondern dass es auf die Versendung der Unterlagen ankomme. Weiters habe ein wirksames Kontrollsystem zur Vermeidung der Übertretung bestanden. Auch läge keine gültige Aufforderung zur Übermittlung der Unterlagen im Sinne des § 7g Abs. 2 AVRAG vor, da nicht auf diese Bestimmung, sondern bloß auf Rechtsfolgen nach dem ASVG verwiesen worden sei.

10       Die, im Hinblick auf den Tatzeitpunkt maßgeblichen Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (AVRAG) idF BGBl. I Nr. 152/2015 lauten auszugsweise:

Feststellung von Übertretungen durch den Träger der Krankenversicherung

§ 7g. (1) Stellt der zuständige Träger der Krankenversicherung im Rahmen seiner Tätigkeit fest, dass der/die Arbeitgeber/in

1.   dem/der dem ASVG unterliegenden Arbeitnehmer/in oder

2.   dem/der Arbeitnehmer/in, der/die seinen/ihren gewöhnlichen Arbeitsort in Österreich hat ohne dem ASVG zu unterliegen,

nicht zumindest das ihm/ihr nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag in Österreich unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien zustehende Entgelt im Sinne des § 7i Abs. 5 leistet, gilt § 7e Abs. 3 bis 5 mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Kompetenzzentrums LSDB der zuständige Träger der Krankenversicherung tritt.

(2) Der zuständige Träger der Krankenversicherung ist berechtigt, in die für die Tätigkeit nach Abs. 1 erforderlichen Unterlagen Einsicht zu nehmen und Abschriften dieser Unterlagen anzufertigen. Auf Verlangen haben Arbeitgeber/innen die erforderlichen Unterlagen oder Ablichtungen zu übermitteln, wobei die Unterlagen oder Ablichtungen bis zum Ablauf des der Aufforderung zweitfolgenden Werktags abzusenden sind. Für die Übermittlung gebührt kein Ersatz der Aufwendungen.

...

Strafbestimmungen

§ 7i. (1) Wer die erforderlichen Unterlagen entgegen § 7d Abs. 1 oder § 7f Abs. 1 Z 3 nicht übermittelt, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jede/n Arbeitnehmer/in mit Geldstrafe von 500 Euro bis 5 000 Euro, im Wiederholungsfall von 1 000 Euro bis 10 000 Euro zu bestrafen. Ebenso ist zu bestrafen, wer entgegen § 7g Abs. 2 oder § 7h Abs. 2 die Unterlagen nicht übermittelt.

...“

11       Aus § 7g Abs. 2 zweiter Satz AVRAG ergibt sich die Berechtigung des zuständigen Krankenversicherungsträgers, vom Arbeitgeber die Übermittlung der erforderlichen Unterlagen (oder Ablichtungen) zu verlangen, wobei diese bis zum Ablauf des der Aufforderung zweitfolgenden Werktags „abzusenden“ sind. Die damit zum Ausdruck kommende Verpflichtung des Arbeitgebers ist durch § 7i Abs. 1 zweiter Satz AVRAG sanktioniert (vgl. VwGH 26.4.2018, Ro 2017/11/0016).

12       Gemäß § 27 Abs. 1 VStG ist jene Behörde örtlich zuständig, in deren Sprengel die Verwaltungsübertretung begangen worden ist (Tatort), auch wenn der zum Tatbestand gehörende Erfolg in einem anderen Sprengel eingetreten ist. Zur Auslegung des Begriffes des Ortes der Begehung iSd § 27 Abs. 1 VStG muss § 2 Abs. 2 VStG herangezogen werden. Eine Verwaltungsübertretung ist regelmäßig als dort begangen anzusehen, wo der Täter gehandelt hat oder (bei Unterlassungsdelikten) hätte handeln sollen, wobei es nach § 27 Abs. 1 VStG gleichgültig ist, wo der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist. (VwGH 16.7.2020, Ra 2020/02/0095, mwN).

13       Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts kann die hg. Judikatur zu § 103 Abs. 2 KFG 1967 nicht auf Fälle wie den vorliegenden angewendet werden, da diese Bestimmung des KFG 1967 keine bestimmte Form für die Erfüllung der Auskunftspflicht vorsieht (vgl. das Erkenntnis eines verstärkten Senates VwGH 31.1.1996, 93/03/0156). Da es im Revisionsfall aber auf die „Übersendung“ ankommt (arg. „abzusenden“ in § 7g Abs. 2 zweiter Satz AVRAG), ist zur Ermittlung des Tatorts zu prüfen, wo diese stattfinden hätte sollen. Dieser Ort wird, wenn eine solche Unterlassung im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Unternehmens erfolgt, im Zweifel mit dem Sitz des Unternehmens, genauer: dem Sitz der Unternehmensleitung, zusammen fallen (vgl. VwGH 10.6.2015, Ra 2015/11/0005, 0006, mwN).

14       Für den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes:

Das Verwaltungsgericht führte in seinen Feststellungen aus, dass die P GmbH ihren Sitz seit April 2015 in S (Niederösterreich) habe. Aufgrund dieser (unbestrittenen) Feststellung und den obigen Ausführungen ist davon auszugehen, dass der Tatort der Sitz der P GmbH in S (Niederösterreich) war. Die belangte Behörde war somit unzuständig.

15       Hat eine unzuständige Behörde entschieden, so hat das mit Beschwerde angerufene Verwaltungsgericht diese Unzuständigkeit wahrzunehmen und diese Entscheidung zu beheben. Eine stattdessen erfolgte Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Sache belastet diese mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes (vgl. nochmals VwGH 10.6.2015, Ra 2015/11/0005, 0006). Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

16       Im fortzusetzenden Verfahren werden gegebenenfalls auch die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. September 2019, Rs. C-64/18, Maksimovic, und vom 19. Dezember 2019, Rs. C-645/18, NE, zu beachten sein. Wie der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 15. Oktober 2019, Ra 2019/11/0033 und 0034, bereits ausgesprochen hat, zieht eine Verletzung der Bereitstellungspflicht hinsichtlich mehrerer Arbeitnehmer nur mehr eine einzige Strafe nach sich, da dies zwingende Rechtsfolge des Erfordernisses ist, die Unionsrechtskonformität bei möglichst weitgehender Erhaltung des nationalen Rechts herzustellen.

17       Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. Oktober 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62018CJ0064 Maksimovic VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018110129.L00

Im RIS seit

30.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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