TE OGH 2020/9/23 1Ob167/20w

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Veröffentlicht am 23.09.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei C***** G*****, vertreten durch die Dr. Philipp Pelz Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Wien, gegen die beklagten Parteien 1. C***** P***** und 2. V***** P*****, vertreten durch Dr. Heimo Jilek und Dr. Martin Sommer, Rechtsanwälte in Leoben, wegen 5.220 EUR sA und Räumung, über den Rekurs der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 13. Juli 2020, GZ 19 R 13/20b-23, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 6. Februar 2020, GZ 28 C 233/19y-10, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die klagende Vermieterin begehrte von den beklagten Mietern 5.220 EUR sA an Mietzins und die Räumung einer bestimmten Wohnung.

Nach dem Akteninhalt wurde die Klage samt Ladung für die vorbereitende Tagsatzung beiden Beklagten jeweils an der Adresse dieser Wohnung zugestellt; dies durch Hinterlegung (am 22. 10. 2019) mit Beginn der Abholfrist am 23. 10. 2019. Die Schriftstücke wurden von den Beklagten nicht behoben.

Die Beklagten waren bis zum 23. 10. 2019 noch an der Zustelladresse wohnhaft. An diesem Tag übersiedelten sie in eine Wohnung an einem anderen Ort.

Zur vorbereitenden Tagsatzung am 19. 11. 2019 erschienen die Beklagten nicht, weshalb über Antrag der Klägerin ein klagestattgebendes Versäumungsurteil erging. Dieses wurde nach den Rückscheinen beiden Beklagten jeweils am 26. 11. 2019 durch Hinterlegung an der Adresse der Wohnung zugestellt. Die Versäumungsurteile wurden von ihnen nicht behoben. Am 7. 1. 2020 bestätigte das Erstgericht die Vollstreckbarkeit des Versäumungsurteils.

Am 28. 1. 2020 beantragten die Beklagten die Aufhebung der Vollstreckbarkeitsbestätigung des Versäumungsurteils gemäß § 7 Abs 3 EO wegen Rechtswidrigkeit des Zustellvorgangs. Sie hätten ursprünglich das Objekt bewohnt, sich aber dort nie melden können, weil es eine Widmung als Bürogebäude habe. Sie hätten dort auch nie Post erhalten. Folglich hätten sie auch keine Verständigung von der Klage und von der Tagsatzung, weiters auch nie ein Versäumungsurteil erhalten. Auch einen „gelben Zettel“ hätten sie nie bekommen. Vom Verfahren hätten sie erst durch die „Exekution“, die an ihre nunmehrige Adresse in einem anderen Ort gesendet worden sei, Kenntnis erlangt. Sie seien bereits am 23. 10. 2019 aus der (zu räumenden) Wohnung ausgezogen und hätten sich an ihrer nunmehrigen Zustelladresse als Hauptwohnsitz gemeldet.

Die Klägerin trat dem Antrag entgegen. Die Beklagten hätten nach ihren eigenen Angaben die Wohnung bis zum 23. 10. 2019 bewohnt, sodass im Zeitpunkt der Zustellung eine Abgabestelle vorgelegen habe. Die Zustellung des Versäumungsurteils sei im Hinblick auf § 8 ZustG nicht zu beanstanden.

Das Erstgericht hob die Vollstreckbarkeitsbestätigung des Versäumungsurteils gemäß § 7 Abs 3 EO auf. Es nahm den von den Beklagten geschilderten Sachverhalt hinsichtlich der Übersiedlung als erwiesen an. Da die Zustellung des Versäumungsurteils nicht an die Abgabestelle der Beklagten vorgenommen worden sei, handle es sich um einen rechtswidrigen und nicht wirksamen Zustellvorgang.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Klägerin Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Rechtlich führte es aus, dass in Fällen, in denen die Partei während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis habe, die Abgabestelle ändere, ohne dies dem Gericht unverzüglich mitzuteilen, und in denen dies dem Gericht auch nicht auf andere Weise bekannt werde, weiterhin an die bisherige Abgabestelle zugestellt werden könne. Eine Hinterlegung nach § 17 ZustG wirke daher als Zustellung und zwar unabhängig davon, wo sich die Partei befinde und welche Abgabestelle für sie sonst in Betracht gekommen wäre (RIS-Justiz RS0115725). Es sei davon auszugehen, dass den Beklagten die Zustellung der Klage nicht tatsächlich zur Kenntnis gelangt sei, weil sie die hinterlegten Sendungen nicht behoben hätten. Das Rekursgericht schließe sich der herrschenden Lehre an (Stumvoll in Fasching/Konecny3 § 8 ZustG Rz 3 ff; Gitschthaler in Rechberger5 § 8 ZustG Rz 7/1), wonach die rechtswirksame Zustellung der Klage für die Anwendung des § 8 ZustG ausreiche; dies selbst dann, wenn die Sendung nicht behoben worden sei, weil es die Partei sonst in der Hand hätte, durch Nichtbeheben von behördlichen Schriftstücken die Rechtswirkungen dieser Bestimmung zu unterlaufen. Für diese Ansicht spreche auch die Entscheidung zu 9 Ob 296/00w, zumal dort davon ausgegangen werde, dass der verfahrenseinleitende Schriftsatz „rechtswirksam zugestellt“ worden sein müsse. Somit komme es darauf an, ob die Zustellung der Klage ordnungsgemäß erfolgt sei. Bejahendenfalls stehe die darauf erfolgte Änderung der Abgabestelle der Wirksamkeit der Zustellung des Versäumungsurteils an dieser Adresse nicht entgegen. Am 23. 10. 2019, dem Beginn der Abholfrist der Zustellung der Klage und der Ladung zur vorbereitenden Tagsatzung, seien die Beklagten noch an der Zustelladresse wohnhaft gewesen. Die Zustellung sei daher an einer Abgabestelle erfolgt. Allerdings hätten sie auch behauptet, nie eine Verständigung von der Hinterlegung erhalten zu haben, was impliziere, dass diese nicht ordnungsgemäß hinterlassen worden sei. Zu diesem Thema fehlten Feststellungen, die das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren nachzutragen habe.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Rekurs gemäß § 527 Abs 2 ZPO zulässig sei, weil Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob für die Anwendung des § 8 ZustG jede rechtswirksame Zustellung ausreiche oder ob der Umstand, dass das verfahrenseinleitende Schriftstück nach Hinterlegung nicht behoben worden sei, der Anwendung dieser Bestimmung entgegenstehe.

Der dagegen erhobene Rekurs der Beklagten, der von der Klägerin beantwortet wurde, ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Beklagten brachten zwar entgegen § 520 Abs 1 ZPO den Rekurs nicht beim Erstgericht ein, sondern beim Rekursgericht. Der Rekurs wurde jedoch umgehend vom Rechtsmittelgericht weitergeleitet und langte innerhalb der 14-tägigen Frist nach § 521 Abs 1 ZPO, die entsprechend § 222 Abs 1 ZPO verlängert wurde, beim Erstgericht ein. Der Rekurs ist daher rechtzeitig erhoben.

2. Eine Partei, die während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, ihre bisherige Abgabestelle ändert, hat dies der Behörde unverzüglich mitzuteilen (§ 8 Abs 1 ZustG). Wird diese Mitteilung unterlassen, so ist, soweit die Verfahrensvorschriften nichts anderes vorsehen, die Zustellung durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch vorzunehmen, falls eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann (§ 8 Abs 2 ZustG).

3.1. Ändert eine Partei während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, die Abgabestelle, ohne dies dem Gericht unverzüglich mitzuteilen (§ 8 Abs 1 ZustG), und wird die Aufgabe der bisherigen Abgabestelle dem Gericht auch nicht auf andere Weise bekannt, so kann weiterhin an die bisherige Abgabestelle zugestellt werden. Eine Hinterlegung nach § 17 ZustG wirkt daher als Zustellung, und zwar unabhängig davon, wo sich die Partei befindet und welche Abgabestelle für sie sonst in Betracht gekommen wäre (RS0115725). Die Partei trägt mit der Unterlassung der ihr obliegenden Mitteilung der Änderung der Abgabestelle die Gefahr, dass an der früheren Abgabestelle zugestellt wird und das Gericht die Änderung nicht ohne Schwierigkeiten erkennen kann. Dem Gericht ist in diesem Fall die Feststellung der nunmehrigen Abgabestelle schon deshalb nicht „ohne Schwierigkeiten“ im Sinn des § 8 Abs 2 ZustG möglich, weil es gar keinen Grund gehabt hat, Nachforschungen anzustellen (RS0115726; 4 Ob 174/01v; 2 Ob 207/13z = EvBl 2015/12 [zustimmend Stumvoll]; zuletzt 3 Ob 77/16v, dazu Haas, Änderung der Abgabestelle: OGH bleibt streng, Zak 2016/696, 367).

3.2. Sollten, was im fortzusetzenden Verfahren noch zu klären ist, im Hinblick auf die ordnungsgemäße Zustellung der Klage und der Ladung zur vorbereitenden Tagsatzung die Voraussetzungen des § 8 Abs 1 ZustG vorgelegen sein, könnte das Versäumungsurteil nach § 17 ZustG an sie rechtswirksam zugestellt worden sein.

Entgegen ihrer Ansicht sind sie durch die Meldung ihres neuen Wohnsitzes am 23. 10. 2019 „beim Meldeamt“ ihrer Verpflichtung zur Meldung gegenüber dem Erstgericht nicht nachgekommen. Sie bestreiten nicht, dass sie bis einschließlich 23. 10. 2019, dem Tag an dem die hinterlegten Dokumente erstmals zur Abholung bereitgehalten wurden (§ 17 Abs 3 ZustG), an der Zustelladresse gewohnt haben. Damit bestand aber dort bis zu diesem Zeitpunkt eine Abgabestelle im Sinn des § 2 Z 4 ZustG, fällt doch darunter jede Wohnung oder sonstige Unterkunft. Die von ihnen mit der Rekursbeantwortung im zweitinstanzlichen Verfahren vorgelegte Vereinbarung vom (richtig) 28. 5. 2019 verstößt gegen das Neuerungsverbot und ist schon aus diesem Grund unbeachtlich (RS0042091; vgl RS0108589). Haben sie die Zustelladresse – wie nunmehr zugestanden – regelmäßig benutzt, ist nicht verständlich, dass keine Abgabestelle vorliegen soll, „weil sie auch anderweitig nie Postsendungen unter dieser Adresse entgegengenommen haben“. Eine Wohnung oder sonstige Unterkunft ist auch dann eine Abgabestelle im Sinn des Zustellgesetzes, wenn bislang dort von ihnen noch keine Postsendungen entgegengenommen wurden.

4.1. Für die rechtswirksame Zustellung (hier des Versäumungsurteils) durch Hinterlegung gemäß § 17 ZustG an einer – wie sich nachträglich herausstellt – nicht bestehenden Abgabestelle ist Voraussetzung, dass der Tatbestand des § 8 ZustG erfüllt ist. Die von dieser Bestimmung erfassten Personen haben dann eine Mitteilung von der Änderung ihrer Abgabestelle zu machen, wenn sie von einem bestimmten Verfahren Kenntnis haben, das heißt es muss entweder das Verfahren auf ihren Antrag hin eingeleitet oder ihnen jedenfalls der verfahrenseinleitende Schriftsatz rechtswirksam zugestellt worden sein (9 Ob 296/00w mwN; Gitschthaler in Rechberger/Klicka5 § 8 ZustG Rz 6; Stumvoll in Fasching/Konecny3 II/2 § 8 ZustG Rz 3). Ob die Zustellung der Klage und der Ladung zur vorbereitenden Tagsatzung durch Hinterlegung nach § 17 ZustG ordnungsgemäß war, steht noch nicht fest, weil der Sachverhalt zur behaupteten unterlassenen Verständigung von der Hinterlegung noch nicht geklärt ist.

Unterschiedlich beurteilt wird in Literatur und Rechtsprechung, ob auch die positive Kenntnis der Partei für die Anwendung des § 8 ZustG erforderlich ist oder nicht.

4.2. Nach Fasching (Lehrbuch2 Rz 1182) trifft den Beklagten von der Klagszustellung an die Verpflichtung zur Bekanntgabe jeder Wohnungsänderung (Änderung der „Abgabestelle“: § 8 ZustG) während des Verfahrens.

Stumvoll (aaO § 8 ZustG Rz 3 bis Rz 3/2) geht davon aus, die Verpflichtung gemäß § 8 ZustG bestehe unabhängig von der Zustellart, die zur wirksamen Zustellung führe (Hinterlegung, Zurücklassen, elektronische Zustellung etc); insoweit sei der Begriff der „Kenntnis“ zu reduzieren. Die Ansicht, die Verfahrenseinleitung müsse – über die wirksame Zustellung hinaus – von der Partei (subjektiv) noch bewusst „zur Kenntnis genommen worden sein“ überzeuge nicht. Der Gesetzgeber habe für § 8 ZustG auch § 111 ZPO aF zum Vorbild genommen, wie die ErläutRV (162 BlgNR 15. GP 10) erkennen ließen. Die hiezu herrschende und einzige Ansicht von Fasching (Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen II 605 f) sei die wirksame Klagszustellung an den Beklagten gewesen. Für eine Änderungsabsicht durch den Gesetzgeber des Zustellgesetzes fehle jeder Anhaltspunkt. Die Neuformulierung des § 8 Abs 1 ZustG mit der Aufnahme des Wortes „Kenntnis“ könne nicht Grundlage für die Annahme einer (vom Gesetzgeber erkennbar gar nicht beabsichtigten) neuen Rechtslage dienen. Zielführend sei vielmehr eine Auslegung im Rahmen der „Gesamtstrukturen des Verfahrensrechts“. Alle vergleichbar sanktionierten prozessualen Verpflichtungen der Parteien (etwa die Pflicht zur Äußerung oder zum Erscheinen, Rechtsmittelfristen, Einlassungsfristen etc) hingen schon im Interesse der Rechtssicherheit nie von derartigen subjektiven Elementen ab; maßgebend sei immer das Anknüpfen an objektive Tatbestände. Das Nichtbeheben (ja schon das Nichtlesen) einer Klage durch den Beklagten, verbunden mit anschließend provoziertem Wechsel seiner Abgabestelle, würde beim Erfordernis der subjektiven Kenntnis die Unwirksamkeit der Hinterlegung des Versäumungsurteils im Sinn des § 8 ZustG zur Folge haben. Die Wirksamkeit einer (sonst wirksamen) Zustellung hänge schon mangels sinnvoller Prüfbarkeit des subjektiven Bereichs nie davon ab, ob ihr Inhalt dem Empfänger tatsächlich zugekommen, zur Kenntnis genommen oder verstanden worden sei.

Auch Gitschthaler (aaO § 8 ZustG Rz 7/1) lehnt im Anwendungsbereich des § 8 ZustG die Notwendigkeit positiver Kenntnis der Partei im Sinn von subjektiver Kenntnis von dem gegen sie anhängig gemachten Verfahren ab. Die Verpflichtung des § 8 ZustG bestehe unabhängig von der Zustellart (Hinterlegung, Zurücklassen usw), hätte es doch sonst die Partei in der Hand, durch das Nichtbeheben von behördlichen Schriftstücken die Rechtswirkungen des § 8 ZustG zu unterlaufen. Gitschthaler folgend hält 9 Ob 296/00w fest, dass der Empfänger dann bereits von einem bestimmten Verfahren Kenntnis hat, wenn es über seinen Antrag eingeleitet wurde oder ihm der verfahrenseinleitende Schriftsatz rechtswirksam zugestellt wurde.

Nach Rassi (in Deixler-Hübner, EO § 64 Rz 11, 11a) sei für die Kenntnis in § 8 ZustG auf die Wirksamkeit der Zustellung abzustellen. Die Wirksamkeit der Zustellung werde auch nicht von der aktiven Kenntnis des zugestellten Schriftstücks abhängig gemacht (vgl Ersatzzustellung, Hinterlegung). Zutreffend spreche man von „fiktiver Zustellung“, wenn das Schriftstück (nur) als wirksam zugestellt gelte, obwohl der Empfänger dieses nicht selbst (sofort) erhalte. Da aber das Nichtreagieren auf eine Zustellung an eine anwesende Partei in der Regel (zumindest) die gleichen Folgen auslöse wie die Verletzung der Mitteilungspflicht einer abwesenden Person nach § 8 ZustG, sei nicht einzusehen, warum der Begriff „Kenntnis“ enger als jener der Zustellung auszulegen sei. Da die Zustellung im Sinn des ZustG auch den Begriff einer fiktiven Zustellung umfasse, spreche wenig dagegen, unter den Begriff „Kenntnis“ auch die fiktive Kenntnis zu subsumieren. Werde ein verfahrenseinleitender Schriftsatz einer Partei durch Hinterlegung oder Ersatzzustellung zugestellt, sei zwar die Zustellung nur fiktiv, dennoch wirksam. Die Wirksamkeit der Zustellung habe zur Folge, dass die Kenntnis des Verfahrens fingiert werde, was wiederum Säumnis- und Präklusionsfolgen rechtfertige. Schließlich sei die fiktive Kenntnis nicht so fiktiv, wie es den Anschein habe. Durch die Hinterlegungsanzeige habe der Empfänger indirekt Kenntnis von einem – ihn betreffenden – anhängigen Verfahren.

4.3. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (90/11/0042), der speziell die verwaltungsrechtliche Literatur folgt (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht11 [2019] 121; Bumberger/Schmid, Praxiskommentar zum Zustellgesetz § 8 E. 31; Raschauer/Riesz in Frauenberger-Pfeiler/Raschauer/Sander/Wessely, Kommentar zum Zustellrecht2 § 8 ZustG Rz 4), sei die Kenntnis der Partei von einem anhängigen Verfahren im Sinn des § 8 Abs 1 ZustG durch eine rechtswirksame Zustellung eines Ladungsbescheids nicht gegeben, wenn die Partei vom Inhalt des zugestellten Verwaltungsakts nicht tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Die Kenntnis von einem anhängigen Verfahren setze bei einem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren voraus, dass der betreffenden Person eine behördliche Erledigung zur Kenntnis gekommen sei, aus der sich für sie mit hinlänglicher Deutlichkeit ergebe, dass ein Verfahren, das sie als Partei betreffe, anhängig sei. Sei ein Ladungsbescheid zwar rechtswirksam durch Hinterlegung zugestellt worden, habe aber der Beschwerdeführer mangels dessen Behebung nicht tatsächlich Kenntnis vom Inhalt des Ladungsbescheids erlangt, könnte nicht von der tatsächlichen Kenntnis ausgegangen werden.

In der Entscheidung zu 42 R 544/03s (= WR 969 = EFSlg 106.516) geht das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien davon aus, dass zum Unterschied von der alten Regelung des § 111 ZPO aF der Gesetzgeber in § 8 ZustG die Verständigungspflicht davon abhängig mache, dass die Partei von dem Verfahren Kenntnis habe. Der Gesetzestext des § 8 ZustG gehe über die Fiktion der Zustellung als Voraussetzung für die Mitteilungspflicht von der Änderung der Abgabestelle hinaus und spreche gegen eine Verpflichtung zur Bekanntgabe der neuen Adresse aufgrund aktenkundiger Zustellversuche. Für diese Kenntnis reiche die Fiktion der Zustellung nicht aus.

4.4. Eine von den dargelegten Positionen etwas abweichende Lösung formuliert das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien zu 39 R 389/10k (= MietSlg 63.795). Die in § 8 Abs 1 ZustG geforderte „Kenntnis vom Verfahren“ sei nicht schon bei einer formal wirksamen Zustellung gegeben, sondern erfordere die positive Kenntnis im Sinn eines tatsächlichen Wissens von einem konkreten Verfahren. Von einer solchen positiven Kenntnis könne nicht erst bei einer eigenhändigen Übernahme der Sendung ausgegangen werden, sondern diese sei schon dann anzunehmen, wenn durch Hinterlegung gemäß § 17 Abs 1 ZustG zugestellt und die Sendung nicht an das Gericht retourniert worden sei. Dann sei nämlich davon auszugehen, dass die Partei die Sendungen behoben habe. Seien aber Sendungen des Gerichts unbehoben retourniert worden, könne eine positive Kenntnis der Partei nicht angenommen werden.

4.5. Dazu hat der Senat erwogen:

Bis zur Aufhebung durch das Zustellrechtsanpassungsgesetz, BGBl 1982/201, war die Mitteilung einer Wohnungsänderung während des Prozesses in § 111 ZPO aF geregelt. Danach hatte eine Partei, die während des Prozesses ihre Wohnung ändert, dies dem Gericht mitzuteilen. Dazu vertrat Fasching (Kommentar aaO § 111 ZPO Anm 7, S 606) die Ansicht, dass der Beklagte von der ordnungsgemäß erfolgten Zustellung der Klage an (wenn auch im Wege der Hinterlegung oder Zurücklassung) bis zur Rechtskraft der Entscheidung zur Bekanntgabe der Wohnungsänderung verpflichtet sei.

In den Materialien zu § 8 ZustG (ErläutRV 162 BlgNR 15. GP 10) wird auf § 111 ZPO aF Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, dass die Parteien dazu verhalten sind, Änderungen ihrer Abgabestelle der Behörde mitzuteilen, wenn die Partei überhaupt Kenntnis von einem sie betreffenden Verfahren hat. Aus den Gesetzesmaterialien ist nicht klar ersichtlich, ob der Gesetzgeber mit dem Ausdruck in § 8 Abs 1 ZustG „während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat,“ eine Änderung gegenüber der bisherigen Rechtslage vornehmen oder diese, wenn auch mit einer anderen Ausdrucksweise, beibehalten wollte.

Verwiesen wird aber in den Materialien auf die Bedeutung, die der Zustellung im Verfahren und hinsichtlich der Rechtswirksamkeit eines behördlichen Akts zukommt, aber auch auf den Umstand, dass von der Zustellung Fristen für die Parteien eines Verfahrens abhängen, die es erforderlich machen, die Parteien zur Mitteilung der Änderung ihrer Abgabestelle der Behörde gegenüber zu verhalten. Die Verpflichtung nach § 8 ZustG trifft nur jenen, der bereits von einem bestimmten Verfahren Kenntnis hat, sei es, dass es über seinen Antrag eingeleitet wurde oder ihm der verfahrenseinleitende Schriftsatz rechtswirksam zugestellt wurde (9 Ob 296/00w). Mit der rechtswirksamen Zustellung hat ein Beklagter in aller Regel jedenfalls die Möglichkeit, sich Kenntnis vom Verfahren zu verschaffen. Für die Anwendung des § 8 ZustG darf es keinen Unterschied machen, ob der Beklagte die Klage abholt und sie aufmerksam liest, er sie abholt und ungelesen wegwirft, er sie nach Hause bringt, nicht ansieht und schließlich vergisst oder ob er die Klage nicht abholt. In all diesen Fällen ist von einer wirksamen Zustellung und auch von der Kenntnis vom Verfahren auszugehen, hat doch der Beklagte jederzeit die Möglichkeit gehabt, vom Inhalt Kenntnis zu erlangen. Wird demgegenüber nur auf die tatsächliche Kenntnis einer Partei vom Inhalt eines zugestellten Dokuments abgestellt, hätte es die Partei in der Hand, durch Nichtbeheben von behördlichen Schriftstücken die Rechtswirkungen des § 8 ZustG zu unterlaufen (Gitschthaler aaO § 8 ZustG Rz 7/1; Stumvoll aaO § 8 ZustG Rz 3/2). Zudem hätte auch das unterlassene Lesen einer Klage zur Folge, dass ein Beklagter trotz rechtswirksamer Zustellung keine Kenntnis vom Verfahren hätte, was dem Gesetzeszweck sicherlich nicht entspricht. Der Ausdruck „von dem sie Kenntnis hat“ in § 8 Abs 1 ZustG ist daher dahin zu reduzieren, dass die Verpflichtung zur Bekanntgabe der Änderung der Abgabestelle unabhängig von der Zustellart, die zur rechtswirksamen Zustellung führte (Hinterlegung, Zurücklassung, elektronische Zustellung etc), besteht. Dadurch besteht jedenfalls die Möglichkeit zur Kenntnisnahme vom Inhalt, die nach dieser Bestimmung ausreicht. Zutreffend ist daher das Rekursgericht davon ausgegangen, dass die rechtswirksame Zustellung der Klage an die Beklagten für die Anwendung des § 8 ZustG ausreicht.

Ob die Zustellung durch Hinterlegung entsprechend § 17 ZustG ordnungsgemäß erfolgte, die Beklagten bestreiten die Hinterlassung einer Verständigung über die Hinterlegung, ist vom Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren zu klären.

5. Dem Rekurs ist daher ein Erfolg zu versagen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Textnummer

E129692

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00167.20W.0923.000

Im RIS seit

18.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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