TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/17 I421 2233532-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.08.2020
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Entscheidungsdatum

17.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I421 2233532-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Martin Steinlechner als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Marokko, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alserstraße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West vom 15.07.2020, Zl. 1265362209/200533125 zu Recht erkannt:

A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste illegal über Italien ins Bundesgebiet ein. Bei seiner Einreise verfügte er weder über ein gültiges Reisedokument, noch über einen gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitel. Am 15.06.2020 wurde der BF von Beamten der Polizeiinspektion XXXX aufgegriffen.

2.       Mit Mandatsbescheid vom 16.06.2020 wurde über den BF Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Zudem wurde er darüber verständigt, dass beabsichtigt werde, eine Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot zu erlassen.

3.        Am selben Tag wurde er von der Landespolizeidirektion XXXX einvernommen. Zu seinen Einreisemotiven gab er an, in Österreich arbeiten zu wollen. Mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegebenenfalls in Verbindung mit einem Einreiseverbot habe er keine Probleme, er wolle jetzt wieder nach Italien zurück. Allfällige Bindungen in Österreich verneinte er.

4.       Mit Bescheid vom 23.06.2020, Zl. 1265362209/200493484, erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) dem BF keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Marokko zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde ein auf die Daure von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt (Spruchpunkt V.) und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.). Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

5.       Am 25.06.2020 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu wurde er am 26.06.2020 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab der BF an, sechs Monate in Spanien gearbeitet zu haben, anschließend über Frankreich nach Italien weitergereist zu sein, wo er etwa 2,5 Monate bei einem Freund aufhältig gewesen sei, bevor er schließlich nach Österreich kam. Befragt, welches und warum er ein bestimmtes Land habe erreichen wollen, führte er an: „Österreich, ich möchte hier leben und arbeiten.“ Hinsichtlich seiner Fluchtgründe gab er an, er habe Familienprobleme, keine Arbeit und keine Zukunft. Bei einer Rückkehr in seine Heimat habe er Angst um sein Leben und befürchte Arbeitslosigkeit.

6.       Aufgrund des nunmehr anhängigen Asylverfahrens wurde der Beschwerde des BF hinsichtlich des Bescheides vom 23.06.2020, Zl. 1265362209/200493484, mit Erkenntnis vom 05.08.2020 des Bundesverwaltungsgerichtes stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben mit der Begründung, dass eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich nicht vor der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ergehen darf, auch wenn dieser zeitlich später gestellt wird.

7.       Am 14.07.2020 fand die niederschriftliche Einvernahme des BF vor der belangten Behörde statt. Dabei führte der BF im Wesentlichen aus, er habe zu wenig Geld im Heimatland gehabt. Die familiären Probleme hätten sich derart gestaltet, dass der Vater des BF gestorben sei und die Mutter einen anderen Mann geheiratet habe. Der BF habe mit seiner Schwester bei der Familie seines Onkels gelebt. Im Jahr 2017 habe der BF ein Mädchen aus seinem Dorf kennengelernt und sei im Jahr 2018 von ihren Brüdern auf dem Dach erwischt worden. Diese hätten den BF geschlagen und mit einem Messer verletzt, woraufhin der BF in die Stadt XXXX geflüchtet sei. Das Mädchen habe behauptet, der BF habe sie vergewaltigt. Auch im Jahr 2019 hätten die Brüder nach ihm gesucht.

8.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 15.07.2020, Zl. 1265362209/200533125, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Marokko abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).

9.       Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht durch die Rechtsvertretung des BF erhobene Beschwerde vom 10.08.2020, bei der belangten Behörde per Fax eingelangt am selben Tag, mit welcher der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde, wobei Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden. Der BF habe Marokko aufgrund der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wegen außerehelicher Beziehung verlassen. Schutz seitens des Staates könne der BF keine erwarten, da außereheliche Beziehungen in Marokko sowohl nach dem Strafgesetz als auch gemäß der Scharia verboten seien. Die belangte Behörde habe es unterlassen, sich mit dem gesamten individuellen Vorbringen sachgerecht auseinanderzusetzen und entsprechende Ermittlungsschritte durchzuführen. Beantragt werde daher, den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz Folge gegeben und dem BF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die erste Instanz zurückzuverweisen und in eventu dem BF den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Weiters beantragt werde eine öffentliche, mündliche Verhandlung sowie der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

10.      Mit Schriftsatz vom 11.08.2020, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 12.08.2020, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige BF ist ledig, kinderlos, muslimischen Glaubens und marokkanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Araber an. Seine Identität steht nicht fest.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Von Marokko aus reiste der BF nach Spanien und verblieb dort sechs Monate, bevor er nach Italien weiterreiste und von dort aus nach etwa 2,5 Monaten nach Österreich kam. Seit (mindestens) 15.06.2020 ist der BF im Bundesgebiet aufhältig und befindet sich seit 13.08.2020 im Flüchtlingsquartier XXXX . Zuvor befand sich der BF im Zeitraum vom 30.07.2020 bis zum 13.08.2020 im Anhaltezentrum XXXX .

In Marokko war der BF in einem Fischrestaurant in der Küche beschäftigt. Aufgrund seiner Arbeitserfahrung in Marokko hat er eine Chance auch hinkünftig im marokkanischen Arbeitsmarkt unterzukommen.

Familiäre Anknüpfungspunkte in Marokko bestehen dahingehend, dass die Mutter sowie die Schwester des BF noch in Marokko leben. In Österreich verfügt der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgeblichen privaten Beziehungen, es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten des BF in Österreich.

Der BF weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.

Der BF ist im Bundesgebiet unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:

Entgegen seinem Fluchtvorbringen war der BF in Marokko keiner persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt.

Vor seiner Ausreise aus Marokko war der BF auch keiner individuellen Gefährdung durch Dritte ausgesetzt.

Er wird im Fall seiner Rückkehr nach Marokko mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Marokko:

Marokko gilt als sicherer Herkunftsstaat.

Die aktuelle Situation in Marokko (Gesamtaktualisierung am 8.11.2019, letzte Information eingefügt am 9.7.2020) des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

1.3.1 Politische Lage

Marokko ist ein zentralistisch geprägter Staat. Das Land ist eine Monarchie mit dem König als weltlichem und geistigem Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und "Anführer der Gläubigen" (AA 6.5.2019a; vgl. USDOS 11.3.2020). Laut der Verfassung vom 1.7.2011 ist Marokko eine konstitutionelle, demokratische und soziale Erbmonarchie, mit direkter männlicher Erbfolge und dem Islam als Staatsreligion. Abweichend vom demokratischen Grundprinzip der Gewaltenteilung kontrolliert der König in letzter Instanz die Exekutive, die Judikative und teilweise die Legislative (GIZ 5.2020a; vgl. ÖB 5.2019). Im Zusammenhang mit den Protestbewegungen in Nordafrika im Frühjahr 2011 leitete der König im Jahr 2011 eine Verfassungsreform und vorgezogene Neuwahlen ein. Proteste im Norden des Landes sind vor allem Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Umsetzung sozioökonomischer Reformen, die schleppend verläuft (AA 6.5.2019a). Die Verfassung vom 1.7.2011 brachte im Grundrechtsbereich einen deutlichen Fortschritt für das Land; in Bezug auf die Königsmacht jedoch nur eine Abschwächung der absolutistischen Stellung. Das Parlament wurde als Gesetzgebungsorgan durch die neue Verfassung aufgewertet und es ist eine spürbare Verlagerung des politischen Diskurses in die Volksvertretung hinein erkennbar. Die Judikative wird als unabhängige Staatsgewalt gleichberechtigt neben Legislative und Exekutive gestellt. Das System der checks und balances als Ergänzung zur Gewaltenteilung ist jedoch in der Verfassung vergleichsweise wenig ausgebildet (ÖB 5.2019).

Vier Schlüsselministerien sind in Marokko der Kontrolle des Parlamentes und des Premierministers entzogen: Inneres, Äußeres, Verteidigung, Religiöse Angelegenheiten und Stiftungen. Soziale Reformen während der Regentschaft Mohamed VI sollten mehr Wohlstand für alle bringen - doch faktisch nahm die ohnehin starke Kontrolle der Königsfamilie und ihrer Entourage über die Reichtümer und Ressourcen des Landes weiter zu (GIZ 5.2020a). Hauptakteure der Exekutive sind die Minister, der Regierungschef und der König, der über einen Kreis hochrangiger Fachberater verfügt. Der König ist Vorsitzender des Ministerrates, hat Richtlinienkompetenz und ernennt nach Art. 47 der Verfassung von 2011 den Regierungschef aus der Partei, die bei den Wahlen als Sieger hervorgeht. Marokko verfügt seit der Unabhängigkeit über ein Mehrparteiensystem. Das Wahlrecht macht es schwierig für eine Partei, eine absolute Mehrheit zu erringen; Mehrparteienkoalitionen sind deshalb die Regel (AA 6.5.2019a).

Das marokkanische Parlament besteht aus zwei Kammern, dem Unterhaus (Chambre des Représentants, Madschliss an-Nuwwab) und dem Oberhaus (Chambre des conseillers, Madschliss al-Mustascharin). Die Abgeordneten des Unterhauses werden alle fünf Jahre in direkten allgemeinen Wahlen neu gewählt. Das Unterhaus besteht aus 395 Abgeordneten. Entsprechend einer gesetzlich festgelegten Quote sind mindestens 12% der Abgeordneten Frauen. Das Oberhaus (Chambre des Conseillers) besteht aus mindestens 90 und maximal 120 Abgeordneten, die in indirekten Wahlen für einen Zeitraum von sechs Jahren bestimmt werden (GIZ 5.2020a).

In Marokko haben am 7.10.2016 Wahlen zum Unterhaus stattgefunden. Als stärkste Kraft ging die seit 2011 an der Spitze der Regierung stehende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung („Parti de la Justice et du Développement“) hervor. Am 5.4.2017 ernannte König Mohammed VI Saad-Eddine El Othmani zum Premierminister. Größte Oppositionspartei ist die Partei für Authentizität und Modernität (PAM) (AA 6.5.2019a). Sie rangiert an zweiter Stelle mit 102 Sitzen und konnte ihre Stimmengewinne mehr als verdoppeln und gilt daher als heimliche Siegerin. Dahinter gereiht ist mit 46 Sitzen die traditionsreiche Unabhängigkeitspartei (PI – Parti de l'Istiqlal), dahinter andere Parteien (GIZ 5.2020a).

Seit Anfang 2017 ist Marokko wieder offiziell Mitglied der Afrikanischen Union (GIZ 5.2020a).

1.3.2 Sicherheitslage

Marokko kann grundsätzlich als stabiles Land betrachtet werden (EDA 9.7.2020). Das französische Außenministerium rät bis auf einige Regionen zu normaler Aufmerksamkeit im Land, dem einzigen in Nordafrika, das auf diese Weise bewertet wird (FD 9.7.2020). In den Grenzregionen zu Algerien wird zu erhöhter Aufmerksamkeit geraten (FD 9.7.2020), bzw. wird von Reisen abgeraten (AA 9.7.2020).

Die Westsahara darf nur nach Genehmigung durch die marokkanischen Behörden und nur auf genehmigten Strecken bereist werden (FD 9.7.2020). Zusätzlich besteht für die Grenzregionen zu Mauretanien in der Westsahara eine Reisewarnung (AA 9.7.2020; vgl. FD 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020).

Im Jahr 2019 konnte Marokko sein Terrorismusrisiko weitgehend eindämmen und die Zahl der Verhaftungen im Vergleich zu 2018 verdoppelt. Das Land sah sich jedoch weiterhin sporadischen Bedrohungen ausgesetzt, die hauptsächlich von kleinen, unabhängigen Terrorzellen ausgingen, von denen die meisten angeben, sie seien vom Islamischen Staat (IS) inspiriert oder mit ihm verbunden. Im März 2019 repatriierte Marokko acht Kämpfer aus Syrien. Im Jahr 2019 wurden in Marokko keine terroristischen Vorfälle gemeldet (USDOS 25.6.2020).

Demonstrationen und Protestaktionen sind jederzeit im ganzen Land möglich (EDA 9.7.2020; vgl. IT-MAE 9.7.2020). Auch nicht genehmigte Demonstrationen verlaufen meist friedlich, es kommt jedoch vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Proteste entzünden sich meist an wirtschaftlichen und sozialen Missständen (IT-MAE 9.7.2020; vgl. AA 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020, EDA 9.7.2020). In der Region Rif kann es zu Übergriffen durch Kriminelle kommen, die in Drogenproduktion und -handel involviert sind (FD 9.7.2020; vgl. EDA 9.7.2020).

In großen Teilen der Sahara sind bewaffnete Banden und islamistische Terroristen aktiv, die vom Schmuggel und von Entführungen leben. Das Entführungsrisiko ist in einigen Gebieten der Sahara und der Sahelzone hoch und nimmt noch zu. Die Grenze zu Algerien ist geschlossen (AA 9.7.2020; vgl. EDA 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020).

Das völkerrechtlich umstrittene Gebiet der Westsahara erstreckt sich südlich der marokkanischen Stadt Tarfaya bis zur mauretanischen Grenze. Es wird sowohl von Marokko als auch von der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario beansprucht. Die United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara MINURSO überwacht den Waffenstillstand zwischen den beiden Parteien. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie (Sandwall) sind diverse Minenfelder vorhanden (EDA 9.7.2020).

1.3.2.1 Westsahara

Der Konflikt in und um die Westsahara schwelt seit Jahrzehnten. Als sich nach dem Tod des Diktators Franco 1975 Spanien aus der damaligen Kolonie zurückzogen, marschierte Marokko im Rahmen des sogenannten Grünen Marsches in das Nachbarland ein. Seitdem hält Marokko große Teile des Territoriums besetzt und betrachtet das Gebiet seit der Annexion 1976 als Bestandteil seines Landes. Dagegen wehrt sich die Bewegung Frente Polisario, welche die Unabhängigkeit der Westsahara anstrebt. Ein rund 2.500 Kilometer langer Sandwall, dessen Baubeginn 1981 war, und der von der mauretanisch-marokkanischen Grenze durch die Sahara bis zum marokkanisch-algerisch-sahrauischen Dreiländereck verläuft, spaltet heute die Westsahara (GIZ 5.2020a). Auf der einen Seite liegt der von Marokko kontrollierte, größere Teil; er umfasst rund 75% des Territoriums. Die UNO erkennt Marokko jedoch nicht als Verwaltungsmacht für die Westsahara an. Seit 1991 überwacht sie den Waffenstillstand zwischen Marokko und der Frente Polisario und seit Dezember 2018 wurden die Verhandlungen über den Status des Territoriums wieder aufgenommen (CIA 10.6.2020). 1991 endeten die Kampfhandlungen zwischen der Frente Polisario und Marokko. Die UNO installierte an mehreren Orten in der Westsahara zur Friedenssicherung die MINURSO (CIA 8.6.2020; vgl. GIZ 5.2020a, AA 6.5.2019b), und verlängerte zuletzt im Oktober 2019 das Mandat um ein Jahr (AI 18.2.2020). Die Frente Polisario hatte im Februar 1976 eine Exilregierung in Algerien, in der Nähe von Tindouf, gebildet, die bis zum Tod von Präsident Mohamed Abdelaziz im Mai 2016 geführt wurde. Sein Nachfolger Brahim Ghali wurde im Juli 2016 gewählt (GIZ 5.2020a). Für Marokko ist die Sicherung der Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko Staatsräson und zentrales Anliegen der marokkanischen Politik (AA 6.5.2019b).

Seit dem Ende der Kampfhandlungen im Jahr 1991 gelang es nicht, ein Referendum bzgl. des Status der Westsahara durchzuführen bzw. scheiterten Anläufe für neue Gespräche zwischen Marokko und der Polisario immer wieder. Seit November 2010 gab es mehrere Anläufe für neue Gespräche zwischen Marokko und der Polisario, doch eine Lösung des Konfliktes ist zurzeit nicht in Sicht. Die Zahl der Staaten, die die sahrauische Exilregierung anerkennen, ist von 80 auf gut die Hälfte gesunken (GIZ 5.2020a).

Als 1982 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) als offizielles Mitglied in die Organisation der Afrikanischen Union aufgenommen wurde, verließ Marokko diese als Reaktion darauf im Jahr 1984. Aufgrund des Westsahara-Konfliktes war Marokkos politische Position jedoch über Jahrzehnte schwach. In der Afrikanischen Union war Marokko mehr als 30 Jahre nicht Mitglied. In den vergangenen Jahren hat Marokko seine Beziehungen und Aktivitäten in Afrika jedoch intensiviert. In Westafrika gewinnt Marokko wirtschaftlich an Einfluss. Seit Anfang 2017 ist Marokko wieder offiziell Mitglied der Afrikanischen Union (GIZ 5.2020a).

1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen

Die Justiz ist laut Verfassung unabhängig (USDOS 11.3.2020). In der Praxis wird diese Unabhängigkeit jedoch durch Korruption (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB 5.2019, AA 14.2.2018) und außergerichtliche Einflüsse unterlaufen. Behörden setzen manchmal gerichtliche Anordnungen nicht zeitnah durch (USDOS 11.3.2020). Das Gerichtssystem ist nicht unabhängig vom Monarchen, der dem Obersten Justizrat vorsitzt (FH 4.3.2020). Rechtsstaatlichkeit ist vorhanden, aber noch nicht ausreichend entwickelt. Unabhängigkeit der Justiz, Verfassungsgerichtsbarkeit, Transparenz durch Digitalisierung, Modernisierung der Justizverwaltung befinden sich noch im Entwicklungsprozess, der, teils von der Verfassung gefordert, teils von der Justizverwaltung angestoßen wurde. Mit dem in der Verfassung vorgesehenen und im April 2017 eingesetzten Conseil supérieur du pouvoir judiciaire (Oberster Rat der Rechtssprechenden Gewalt) wurden Richter- und Staatsanwaltschaft aus dem Verantwortungsbereich des Justizministeriums herausgelöst und verwalten sich nun selbst. Der Rat agiert als unabhängige Behörde. Mit der Herauslösung der Staatsanwaltschaft wurde formal die Unabhängigkeit der Ermittlungsbehörden von der Politik gestärkt. Es gibt jedoch Stimmen, die eine direkte Einflussnahme des Palastes befürchten, da sich Richterschaft und Staatsanwaltschaft nunmehr jeder demokratisch legitimierten Kontrolle entziehen (AA 14.2.2018). In der Praxis werden die Gerichte regelmäßig dazu benutzt, vermeintliche Gegner der Regierung zu bestrafen, darunter andersdenkende Islamisten, Menschenrechts- und Antikorruptionsaktivisten sowie Kritiker der marokkanischen Herrschaft in der Westsahara (FH 4.3.2020).

Formal besteht Gleichheit vor dem Gesetz. Das extreme Gefälle in Bildung und Einkommen, die materielle Unterentwicklung ländlicher Gebiete und der allgegenwärtige gesellschaftliche Klientelismus behindern allerdings die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes (AA 14.2.2018). Gesetzlich gilt die Unschuldsvermutung. Der Rechtsweg ist formal sichergestellt. Angeklagte haben das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, auf rechtzeitigen Zugang zu ihrem Anwalt und das Recht, Berufung einzulegen. Das marokkanische Recht sieht Pflichtverteidiger für mittellose Angeklagte vor. Der Zugang zu juristischem Beistand ist in der Praxis noch immer unzulänglich (AA 14.2.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). NGOs kritisieren, dass die Beschuldigten zu Geständnissen gedrängt werden (FH 4.3.2020; vgl. AA 14.2.2018). Das Strafprozessrecht erlaubt der Polizei, einen Verdächtigen bis zu 48 Stunden in Gewahrsam („garde à vue“) zu nehmen. Der Staatsanwalt kann diese Frist zweimal verlängern. Der Entwurf für ein neues Strafprozessgesetz sieht verbesserten Zugang zu Anwälten bereits im Gewahrsam vor. Das Gesetz ist noch nicht verabschiedet (AA 14.2.2018). Berichten zufolge werden Untersuchungshäftlinge in der Praxis länger als ein Jahr festgehalten, und das Gesetz enthält keine Bestimmungen, die es Untersuchungshäftlingen erlauben, ihre Inhaftierung vor Gericht anzufechten. Einige Verdächtige, insbesondere diejenigen, die des Terrorismus beschuldigt werden, werden tage- oder wochenlang in geheimer Haft gehalten, bevor eine formelle Anklage erhoben wird. Zudem wird Angeklagten nach ihrer Verhaftung der sofortige Zugang zu Anwälten verwehrt und Verteidigern stoßen beim Zugang bei der Vorlage von Prozessbeweisen zu Hindernissen (FH 4.3.2020).

Im Bereich der Strafzumessung wird häufig kritisiert, dass bestehende Möglichkeiten zur Vermeidung von Haft bei minder schweren Delikten (z.B. Geldstrafen, Sozialstunden) nicht genutzt werden. Auch die Möglichkeit der Entlassung auf Bewährung (libération conditionnelle) wird kaum genutzt (AA 14.2.2018).

Seit Juli 2015 ist die Militärgerichtsbarkeit in Verfahren gegen Zivilisten nicht mehr zuständig. Im Juli 2016 wurden durch das Revisionsgericht die Urteile eines Militärgerichts gegen 23 sahrauische Aktivisten im Zusammenhang mit dem Tod von Sicherheitskräften bei der Räumung des Protestlagers Gdim Izik aufgehoben. Von der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurden die Angeklagten 2017 zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und lebenslänglich verurteilt (AA 14.2.2018).

1.3.4 Sicherheitsbehörden

Der Sicherheitsapparat verfügt über einige Polizei- und paramilitärische Organisationen, deren Zuständigkeitsbereiche sich teilweise überlappen. Die DGSN „Direction Générale de la Sûreté Nationale“ (Nationalpolizei) ist für die Umsetzung der Gesetze zuständig und untersteht dem Innenministerium. Bei den „Forces auxiliaires“ handelt es sich um paramilitärische Hilfskräfte, die dem Innenministerium unterstellt sind und die Arbeit der regulären Sicherheitskräfte unterstützen. Die Gendarmerie Royale ist zuständig für die Sicherheit in ländlichen Gegenden und patrouilliert auf Nationalstraßen. Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 14.2.2018). Es gibt zwei Nachrichtendienste: den Auslandsdienst DGED („Direction Générale des Etudes et de Documentation“) und den Inlandsdienst DGST („Direction Générale de la Surveillance du Territoire“) (AA 14.2.2018; vgl. ÖB 5.2019). Im April 2015 wurde zusätzlich das „Bureau central d'investigations judiciaires“ (BCIJ) geschaffen. Es untersteht dem Inlandsdienst DGST. Von der Funktion entspricht es etwa dem deutschen Bundeskriminalamt mit originären Zuständigkeiten und Ermittlungskompetenzen im Bereich von Staatsschutzdelikten sowie Rauschgift- und Finanzdelikten im Rahmen von Verfahren der Organisierten Kriminalität (AA 14.2.2018).

Die zivile Kontrolle über die Sicherheitskräfte ist gemäß USDOS wirksam (USDOS 11.3.2020), gemäß auswärtigem Amt hingegen sind die Sicherheitskräfte weitgehend der zivilen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit entzogen (AA 14.2.2018).

1.3.5 Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassung gewährleistet die Grundrechte und verbietet Folter und unmenschliche Behandlung oder Bestrafung. Die Sicherheitsbehörden unterliegen der effektiven Kontrolle der zivilen Behörden und die Regierung bestreitet, dass sie die Anwendung von Folter erlaubt (USDOS 11.3.2020).

Folter ist gemäß Verfassung unter Strafe gestellt (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 14.2.2018). Marokko ist Vertragsstaat der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen und hat auch das Zusatzprotokoll unterzeichnet (AA 14.2.2018; vgl. ÖB 5.2019). Der CNDH (Conseil National des Droits de l'Homme / Nationaler Menschenrechtsrat) ist für den Nationalen Präventionsmechanismus gegen Folter zuständig (CDNH o.D.; vgl. AA 14.2.2018, AI 26.2.2019). Die marokkanische Regierung lehnt den Einsatz von Folter ab und bemüht sich um aktive Prävention. Der Einsatz von systematischer, staatlich angeordneter Folter wird auch von NGOs nicht bestätigt. Gleichwohl berichten NGOs über Fälle von nicht gesetzeskonformer Gewaltanwendung gegenüber Inhaftierten durch Sicherheitskräfte. Die marokkanische Menschenrechtsorganisation OMDH („Organisation Marocaine des Droits de l’Homme“) geht vom Fehlverhalten einzelner Personen aus (AA 14.2.2018). Es kommt weiterhin zu Fällen übermäßiger Gewalt durch die Polizei und Folter in Gewahrsam. Einige der in den letzten Jahren inhaftierten Demonstranten gaben an, während der Festnahme geschlagen und verletzt worden zu sein, und einige wurden bis zur Verhandlung länger in Einzelhaft gehalten. Gefängnisse leiden häufig unter Überfüllung. Die Verurteilungen der Hirak-Rif-Demonstranten im April 2019 basierten auf durch Folter erlangten Geständnissen, die die Angeklagten während des Prozesses alle widerriefen (FH 4.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020, AI 18.2.2020).

Es gibt Berichte, dass Folter oder exzessive Polizeigewalt vorkommen (FH 4.3.2020). Der Staatsminister für Menschenrechte räumt ein, dass Folter in Einzelfällen auftritt, aber es sich nicht mehr um eine systematische Praxis handeln würde. Es besteht kein systematischer Mechanismus, Menschenrechtsverletzungen und Korruption wirksam zu untersuchen und zu bestrafen, was Straffreiheit bei Vergehen durch die Sicherheitskräfte begünstigt (USDOS 11.3.2020). Die Behörden haben es versäumt, den Vorwürfen von Folter und anderen Misshandlungen angemessen nachzugehen, was zu unfairen Gerichtsverfahren führte. In mehreren Fällen wurde eine längere Einzelhaft von Gefangenen verzeichnet, die auf Folter oder andere Misshandlungen hinausläuft (AI 18.2.2020). Inhaftierte Islamisten werfen dem Sicherheitsapparat, insbesondere dem Inlandsgeheimdienst DGST, vor, Methoden anzuwenden, die rechtsstaatlichen Maßstäben nicht immer genügen (z.B. lange U-Haft unter schlechten Bedingungen, kein Anwaltszugang). Die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien dokumentieren diese Vorwürfe nur bruchstückhaft (AA 14.2.2018).

1.3.6 Allgemeine Menschenrechtslage

Der Grundrechtskatalog (Kapitel I und II) der Verfassung ist substantiell; wenn man noch die durch internationale Verpflichtungen übernommenen Grundrechte hinzuzählt, kann man von einem recht umfassenden Grundrechtsrechtsbestand ausgehen. Als eines der Kerngrundrechte fehlt die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Verfassung selbst stellt allerdings den Rechtsbestand unter den Vorbehalt der traditionellen „roten Linien“ - Monarchie, islamischer Charakter von Staat und Gesellschaft, territoriale Integrität (i.e. Annexion der Westsahara) - quasi als „Baugesetze“ des Rechtsgebäudes. Der vorhandene Rechtsbestand, der mit der neuen Verfassungslage, v.a. in Bereichen wie Familien- und Erbrecht, Medienrecht und Strafrecht, teilweise nicht mehr konform ist, gilt weiterhin (ÖB 5.2019).

In den unter Titel II aufgeführten Artikeln 19 bis 35 garantiert die Verfassung die universellen Menschenrechte (AA 14.2.2018).

Staatliche Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sind nicht festzustellen. Gewichtige Ausnahme: wer die Vorrangstellung der Religion des Islam in Frage stellt, die Person des Königs antastet oder die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anzweifelt. Obwohl Kritik an den Staatsdoktrinen strafrechtlich sanktioniert wird, werden entsprechende Verurteilungen in den vergangen Jahren eher selten bekannt. Marokkanische NGOs sind der Auffassung, dass administrative Schikanen eingesetzt und Strafverfahren zu anderen Tatbeständen (z. B. Ehebruch oder Steuervergehen) angestoßen oder auch konstruiert werden, um politisch Andersdenkende sowie kritische Journalisten einzuschüchtern oder zu verfolgen (AA 14.2.2018).

Im Mai 2017 stellte sich Marokko dem Universellen Staatenüberprüfungsverfahren (UPR) des UN-Menschenrechtsrats. Marokko akzeptierte 191 der 244 Empfehlungen (AA 14.2.2018).

Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit garantiert, einige Gesetze schränken jedoch die Meinungsfreiheit im Bereich der Presse und den sozialen Medien ein (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 14.2.2018). Es kommt vereinzelt zur Strafverfolgung von Journalisten. Staatliche Zensur existiert nicht, sie wird durch die Selbstzensur der Medien im Bereich der drei Tabuthemen ersetzt. Ausländische Satellitensender und das Internet sind frei zugänglich (AA 14.2.2018).

Gesetzlich unter Strafe gestellt und aktiv verfolgt sind und werden kritische Äußerungen betreffend den Islam, die Institution der Monarchie und die offizielle Position der Regierung zur territorialen Integrität und den Anspruch auf das Gebiet der Westsahara (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020, AA 14.2.2018, FH 4.3.2020), sowie Kritik an Staatsinstitutionen oder das Gutheißen von Terrorismus. Für Kritik in diesen Bereich können weiterhin Haftstrafen verhängt werden. Für kritische Äußerungen in anderen Bereichen wurden Haftstrafen im Rahmen einer Änderung des Pressegesetzes im Juli 2016 abgeschafft und durch Geldstrafen ersetzt (HRW 14.1.2020).

Verfolgung wegen politischer Überzeugungen erfolgt zwar nicht systematisch flächendeckend, bleibt aber ein reelles Risiko für politisch aktive Personen außerhalb des politischen Establishments und Freigeister. Parameter des „Wohlverhaltens“ sind die „roten Linien“ (Monarchie, Islam, territoriale Integrität) sowie der Kampf gegen den Terrorismus. Wer sich dagegen kritisch äußert oder dagegen politisch aktiv wird, muss mit Repression rechnen. Durch Fokussierung auf Einzelfälle, deren Publizierung gar nicht behindert wird, entsteht eine generalpräventive Grundstimmung: die Marokkaner wissen sehr gut abzuschätzen, wann sie mit Äußerungen in tiefes Wasser geraten könnten. Dies hindert aber nicht, dass Jugend, Menschenrechtsaktivisten, Interessensvertreter dennoch laufend ihre Stimme erheben, wobei nicht jede kritische oder freiherzige Äußerung unbedingt Konsequenzen haben muss; insbesondere Medien und Persönlichkeiten mit großer Visibilität wird ein gewisser Freiraum zugestanden. Gegenüber Regierung, Ministern und Parlament etwa kann ganz freimütig Kritik geübt werden. Die „kritische Masse“ für das Eingreifen der Obrigkeit scheint erst beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren zustande zu kommen: Etwa Infragestellen des Autoritätsgefüges (Königshaus, Sicherheitskräfte) oder Kritik am Günstlingsumfeld des Hofes („Makhzen“) verbunden mit publizitärer Reichweite des Autors (ÖB 5.2019).

Die – auch im öffentlichen Raum kaum kaschierten – Überwachungsmaßnahmen erstrecken sich auch auf die Überwachung des Internets und elektronischer Kommunikation, wobei Aktivisten, die für eine unabhängige Westsahara eintreten – vor allem im Gebiet der Westsahara selbst – besonders exponiert sind (ÖB 5.2019).

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind in der Verfassung von 2011 verfassungsrechtlich geschützt, werden aber durch die „roten Linien“ Glaube, König, Heimatland eingeschränkt (AA 14.2.2018). Versammlungen von mehr als drei Personen sind genehmigungspflichtig (USDOS 11.3.2020). Die Behörden gehen meist nicht gegen öffentliche Ansammlungen und die häufigen politischen Demonstrationen vor, selbst wenn diese nicht angemeldet sind (AA 14.2.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). In Einzelfällen kommt es jedoch zur gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen (AA 14.2.2018; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020).

2017 gab es eine Vielzahl von Protesten gegen staatliches Versagen, Korruption und Machtwillkür in der Rif-Region, die unter dem Schlagwort „Hirak“ zusammengefasst werden. Berichtet wurde von zunehmend hartem Durchgreifen der Sicherheitskräfte, Videos von Polizeieinsätzen wurden durch Aktivisten in Facebook hochgeladen (AA 14.2.2018).

Obwohl verfassungsmäßig Vereinigungsfreiheit gewährleistet ist, schränkt die Regierung dieses Recht manchmal ein (USDOS 11.3.2020). Organisationen wird die offizielle Registrierung verweigert (HRW 14.1.2020). Politischen Oppositionsgruppen und Organisationen, die den Islam als Staatsreligion, die Monarchie, oder die territoriale Integrität Marokkos infrage stellen, wird kein NGO-Status zuerkannt (USDOS 11.3.2020).

1.3.7 Todesstrafe

Marokko verhängt weiterhin die Todesstrafe. Seit 1993 gilt jedoch ein de-facto-Moratorium, Todesurteile werden nicht mehr vollstreckt (AA 14.2.2018; vgl. AI 4.2020; BAMF 3.6.2019).

Die Regierungspartei PJD sowie konservative gesellschaftliche Kräfte lehnen mit Verweis auf den Koran und islamisches Recht eine vollständige Abschaffung der Todesstrafe ab. Eine breite zivilgesellschaftliche Koalition, der die wichtigsten marokkanischen NGOs und viele Abgeordnete beider Kammern des Parlaments angehören, engagiert sich für die Abschaffung der Todesstrafe. Beobachter halten eine Wiederaufnahme der Vollstreckung von Todesurteilen für unwahrscheinlich (AA 14.2.2018). Im Wege von Begnadigungen durch König Mohammed VI. werden immer wieder Todesstrafen in Haftstrafen umgewandelt (AA 14.2.2018). 2019 wurden mehr als 7 Todesurteile ausgesprochen, zum Zeitpunkt der Erhebung allerdings noch nicht vollstreckt (AI 4.2020).

In Auslieferungsverfahren besteht die Möglichkeit, eine Bestätigung zu erhalten, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine derartige Zusage von marokkanischer Seite nicht eingehalten wird. Die marokkanischen Behörden gewähren der deutschen Botschaft den Zugang zu ausgelieferten marokkanischen Inhaftierten (AA 14.2.2018).

Ein Berufungsgericht hat 2019 die Todesurteile gegen die drei Hauptangeklagten für die Morde an den skandinavischen Rucksacktouristinnen bestätigt. Im Falle des vierten Angeklagten hat ein anderes Berufungsgericht die lebenslange Haftstrafe ebenfalls in eine Todesstrafe umgewandelt (BAMF 11.11.2019; vgl. NZZ 31.10.2019).

1.3.8 Frauen [Auszug]

Die Lage der Frauen in Marokko ist gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Status und der Lebenswirklichkeit. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge aufgrund traditioneller Einstellung fort. Zwar garantiert die Verfassung von 2011 in Art. 19, dass „Männer und Frauen gleichberechtigt die Rechte und Freiheiten ziviler, politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Natur“ genießen, schränkt diese Rechte durch Bezugnahme auf den Islam als Staatsreligion aber wieder ein. In internationalen Abkommen hat sich Marokko zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen verpflichtet, aber auch hier den Vorrang des Islams geltend gemacht (AA 14.2.2018). So sehen sich Frauen auf gesellschaftlicher Ebene nach wie vor mit erheblicher Diskriminierung konfrontiert und sind in der Erwerbsbevölkerung unterrepräsentiert (FH 4.3.2020; vgl. AI 18.2.2020).

Obwohl die Änderung des Familienrechts zugunsten der Frauen vom 6.2.2004 („Moudawana“) mit den Grundsätzen

?        Abschaffung der Gehorsamspflicht der Ehefrau“ (AA 14.2.2018; vgl. GIZ 5.2020b),

?        Anhebung des grundsätzlichen Ehefähigkeitsalters der Frau auf 18 Jahre (AA 14.2.2018; vgl. HRW 14.1.2020). Allerdings erlaubt das Gesetz Richtern, auf Antrag der Familie "Ausnahmen" für die Eheschließung minderjähriger Mädchen im Alter von 15 bis 18 Jahren zu gewähren. Im Jahr 2018 wurden 40.000 solcher Ausnahmen gewährt, was fast 20 % der im Laufe des Jahres registrierten Eheschließungen entspricht, was Justizminister Mohamed Aujjar als "einen alarmierenden Anstieg" bezeichnete (HRW 14.1.2020).

?        Abschaffung der Hinzuziehung eines Vormunds zur Eheschließung für volljährige Frauen (AA 14.2.2018; vgl. GIZ 5.2020b),

?        Einführung der gerichtlichen Ehescheidung (GIZ 5.2020b),

?        Abschaffung der einseitigen Verstoßung für den Ehemann, Einführung des Zerrüttungsprinzips, relativ weitgehende Gleichstellung von Männern und Frauen im Scheidungsrecht (GIZ 5.2020b),

?        Polygamie nur noch in genehmigten Ausnahmefällen (AA 14.2.2018),

und mit der Einrichtung von Familiengerichten eine deutliche Verbesserung der Rolle der Frau geschaffen hat, gibt es weiter Defizite in der Gleichberechtigung, wie z. B. die ungleiche Behandlung im Erb- und Familienrecht. Der Menschenrechtsrat CNDH kritisiert Gesetzentwurf das Fehlen von Definitionen von Gleichstellung und Diskriminierung und fordert Reformen (AA 14.2.2018).

Von einer wirklichen rechtlichen und sozialen Gleichstellung sind Frauen und Männer in Marokko noch weit entfernt. In der marokkanischen Gesellschaft dominieren weiterhin patriarchale Einstellungen und diskriminierende Verhaltensweisen. Viele der ehrgeizigen Gesetzesreformen werden bislang nur partiell umgesetzt (GIZ 5.2020b).

[…]

Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist illegal und strafbar (FH 4.3.2020; vgl. AA 14.2.2019) und hält Vergewaltigungsopfer davon ab Anzeige zu erstatten (FH 4.3.2020). Alle ledigen Mütter sind damit von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. Tatsächlich wird außerehelicher Geschlechtsverkehr nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt. Meist geschieht dies auf Anzeige von Familienangehörigen und nur in Ausnahmefällen auch direkt durch den Staat (AA 14.2.2018).

1.3.9 Bewegungsfreiheit

Gesetzlich sind innerhalb des Landes Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung gewährleistet. Die Behörden respektieren diese Rechte üblicherweise (USDOS 11.3.2020).

Sahrawis/Sahraouis genießen innerhalb Marokkos uneingeschränkte Bewegungsfreiheit (AA 14.2.2018). Die Regierung stellte Sahrawis weiterhin Reisedokumente zur Verfügung, und es wurden keine Fälle von Behörden gemeldet, die Sahrawis daran hinderten, das Land zu verlassen (USDOS 11.3.2020).

Wer nicht per Haftbefehl gesucht wird, kann unter Beachtung der jeweiligen Visavorschriften in der Regel problemlos das Land verlassen. Dies gilt auch für bekannte Oppositionelle oder Menschenrechtsaktivisten (AA 14.2.2018).

1.3.10 Grundversorgung

Die Grundversorgung der Bevölkerung ist gewährleistet, Brot, Zucker und Gas werden subventioniert. Staatliche soziale Unterstützung ist kaum vorhanden, vielfach sind religiös-karitative Organisationen tätig. Die entscheidende Rolle bei der Betreuung Bedürftiger spielt nach wie vor die Familie. Staatliche und sonstige Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer gibt es nicht (AA 14.2.2018).

König Mohammed VI. und die bisherige Regierung streben eine durchgreifende Modernisierung und Diversifizierung des Landes an, das seine Chancen neben dem Hauptpartner EU verstärkt in Afrika sucht. Gebergemeinschaft, OECD und IWF unterstützen diesen Modernisierungskurs (AA 6.5.2019c). Formal ist Marokko eine freie Marktwirtschaft. Bedingt durch die starke Stellung der Königsfamilie und alteingesessener Eliten ist der Wettbewerb jedoch verzerrt. Seit dem Machtantritt von König Mohammed VI. hat die Vormachtstellung der Königsfamilie in Schlüsselsektoren wie Landwirtschaft, Bergbau, Einzelhandel, Transport, Telekommunikation und erneuerbaren Energien weiter zugenommen. Gleichzeitig sind immer mehr Marokkaner auf Überweisungen aus dem Ausland angewiesen, um zu überleben (GIZ 5.2020c).

Ein gravierendes Problem bildet nach wie vor die Arbeitslosigkeit 2018 (laut IMF bei 9,8%, Dunkelziffer liegt wesentlich höher), vor allem unter der Jugend (ÖB 5.2019). Der Bevölkerungszuwachs in den aktiven Altersgruppen liegt deutlich höher als die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die reale Arbeitslosenquote, insbesondere bei Jugendlichen, liegt deutlich über den offiziell angegebenen ca. 10% (AA 6.5.2019c).

Laut Informationen der Weltbank steht Marokko in der MENA-Region bei der Höhe der Auslandsüberweisungen von Migranten (Remittances) an zweiter Stelle. Zur Sicherung des sozialen und politischen Friedens verteilt der Staat Subventionen: Diese wurden in den letzten Jahren allerdings gekürzt, von 5 Mrd. Euro auf voraussichtlich umgerechnet 1,2 Mrd. Euro in 2018. Für das Jahr 2019 wurde eine Erhöhung um 30% auf 1,6 Mrd. Euro angekündigt. Trotz Subventionskürzungen und Privatisierungen hat die Staatsverschuldung in den vergangenen Jahren zugenommen (GIZ 5.2020c).

Der informelle Bereich der Wirtschaft wird statistisch nicht erfasst, entfaltet aber erhebliche Absorptionskraft für den Arbeitsmarkt. Fremdsprachenkenntnisse - wie sie z.B. Heimkehrer aufweisen - sind insbesondere in der Tourismusbranche und deren Umfeld nützlich. Arbeitssuchenden steht die Internet-Plattform des nationalen Arbeitsmarktservices ANAPEC zur Verfügung (www.anapec.org), die neben aktueller Beschäftigungssuche auch Zugang zu Fortbildungsmöglichkeiten vermittelt. Unter 30-Jährige, die bestimmte Bildungsebenen erreicht haben, können mit Hilfe des OFPPT (www.ofppt.ma/) eine weiterführende Berufsausbildung einschlagen. Die marokkanische Regierung führt Programme der Armutsbekämpfung (INDH) und des sozialen Wohnbaus. Eine staatlich garantierte Grundversorgung/arbeitsloses Basiseinkommen existiert allerdings nicht. Der Mindestlohn (SMIG) liegt bei 2.570 Dirham (ca. EUR 234). Ein Monatslohn von etwa dem Doppelten dieses Betrags gilt als durchaus bürgerliches Einkommen. Statistisch beträgt der durchschnittliche Monatslohn eines Gehaltsempfängers 4.711 Dirham, wobei allerdings die Hälfte der - zur Sozialversicherung angemeldeten - Lohnempfänger nur den Mindestlohn empfängt. Ein ungelernter Hilfsarbeiter erhält für einen Arbeitstag (10 Std.) ca. 100 Dirham, Illegale aus der Subsahara erhalten weniger (ÖB 5.2019).

1.3.11 Medizinische Versorgung

Politisch verantwortlich für die medizinische Versorgung ist das Gesundheitsministerium. Die meisten Marokkaner müssen für ihre Gesundheit allein vorsorgen. Wer einen formellen Arbeitsvertrag hat, ist zwar offiziell krankenversichert, aber viele Leistungen müssen trotzdem aus eigener Tasche bezahlt werden. Patienten mit geringem Einkommen haben seit 2002 die Möglichkeit, sich im Rahmen der öffentlichen Assurance Maladies Obligatoire (AMO) oder des Gesundheitssystems Régime d'Assistance Médicale (RAMED) behandeln zu lassen (GIZ 5.2020b).

Die medizinische Versorgung im Lande ist mit Europa nicht ganz zu vergleichen. In Rabat und Casablanca finden sich allerdings ausgezeichnete Privatkliniken von hohem Standard. Auf dem Lande hingegen kann die medizinische Versorgung bezüglich der apparativen Ausstattung bzw. Hygiene problematisch sein (AA 6.7.2020).

Die medizinische Grundversorgung ist vor allem im städtischen Raum weitgehend gesichert. Medizinische Dienste sind kostenpflichtig und werden bei bestehender gesetzlicher Krankenversicherung von dieser erstattet. Es gibt einen großen qualitativen Unterschied zwischen öffentlicher und (teurer) privater Krankenversorgung. Selbst modern gut ausgestattete medizinische Einrichtungen garantieren keine europäischen Standards. Insbesondere das Hilfspersonal ist oft unzureichend ausgebildet, Krankenwagen sind in der Regel ungenügend ausgestattet. Die Notfallversorgung ist wegen Überlastung der Notaufnahmen in den Städten nicht immer gewährleistet, auf dem Land ist sie insbesondere in den abgelegenen Bergregionen unzureichend (AA 14.2.2018).

Rund 30.000 Menschen in Marokko sollen mit HIV infiziert sein. Knapp 50% der Infizierten sind weiblich. Schätzungsweise 2% der Prostituierten sind HIV-positiv. Damit hat Marokko in der MENA-Region eine Spitzenposition inne (GIZ 10.2019b). Chronische und psychiatrische Krankheiten oder auch AIDS-Dauerbehandlungen lassen sich in Marokko vorzugsweise in privaten Krankenhäusern behandeln. Bei teuren Spezialmedikamenten soll es in der öffentlichen Gesundheitsversorgung bisweilen zu Engpässen kommen. Bei entsprechender Finanzkraft ist allerdings fast jedes lokal produzierte oder importierte Medikament erhältlich (AA 14.2.2018).

Im Bereich der Basis-Gesundheitsversorgung wurde 2012 das Programm RAMED eingeführt und erstreckt sich auf 8,5 Mio. Einwohner der untersten Einkommensschichten bzw. vulnerable Personen, die bisher keinen Krankenversicherungsschutz genossen. Im Oktober 2012 waren bereits 1,2 Mio. Personen im RAMED erfasst (knapp 3% der Haushalte). RAMED wird vom Sozialversicherungsträger ANAM administriert, der auch die Pflichtkrankenversicherung AMO der unselbständig Beschäftigten verwaltet. Zugang haben Haushaltsvorstände und deren Haushaltsangehörige, die keiner anderen Pflicht-Krankenversicherung unterliegen. Die Teilnahme an RAMED ist gratis („Carte RAMED“), lediglich vulnerable Personen zahlen einen geringen Beitrag (11 € pro Jahr pro Person). Ansprechbar sind die Leistungen im staatlichen Gesundheitssystem (Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung und Vorsorge sowie Krankenhäuser) im Bereich der Allgemein- und Fachmedizin, stationärer Behandlung, Röntgendiagnostik etc. Die Dichte und Bestückung der medizinischen Versorgung ist auf einer Website des Gesundheitsministeriums einsehbar (ÖB 5.2019). Mittellose Personen können auf Antrag bei der Präfektur eine „Carte RAMED“ erhalten. Bei Vorlage dieser Karte sind Behandlungen kostenfrei (AA 14.2.2018).

Auf 1.775 Einwohner entfällt ein Arzt. 141 öffentliche Krankenhäuser führen etwas mehr als 27.000 Betten (ein Spitalsbett auf ca. 1.200 Einwohner); daneben bestehen 2.689 Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung. Inhaber der Carte RAMED können bei diesen Einrichtungen medizinische Leistungen kostenfrei ansprechen. Freilich ist anzumerken, dass dieser öffentliche Gesundheitssektor in seiner Ausstattung und Qualität und Hygiene überwiegend nicht mit europäischen Standards zu vergleichen ist. Lange Wartezeiten und Mangel an medizinischen Versorgungsgütern und Arzneien sind zu beobachten. Wer weder unter das RAMED-System fällt, noch aus einem Anstellungsverhältnis pflichtversichert ist, muss für medizinische Leistungen aus eigenem aufkommen (ÖB 5.2019).

1.3.12 Rückkehr

Das Stellen eines Asylantrags im Ausland ist nicht strafbar und wird nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts von den Behörden nicht als Ausdruck oppositioneller Gesinnung gewertet. Aus den letzten Jahren sind keine Fälle bekannt, in denen es zu einem Gerichtsurteil wegen der Stellung eines Asylantrags oder wegen des in einem Asylantrag enthaltenen Vorbringens gekommen wäre (AA 14.2.2018).

Auf institutioneller Basis wird Rückkehrhilfe von IOM organisiert, sofern der abschiebende Staat mit IOM eine diesbezügliche Vereinbarung (mit Kostenkomponente) eingeht; Österreich hat keine solche Abmachung getroffen. Rückkehrer ohne eigene finanzielle Mittel dürften primär den Beistand ihrer Familie ansprechen; gelegentlich bieten auch NGOs Unterstützung. Der Verband der Familie und Großfamilie ist primärer sozialer Ankerpunkt der Marokkaner. Dies gilt mehr noch für den ländlichen Raum, in welchem über 40% der Bevölkerung angesiedelt und beschäftigt sind. Rückkehrer würden in aller Regel im eigenen Familienverband Zuflucht suchen. Der Wohnungsmarkt ist über lokale Printmedien und das Internet in mit Europa vergleichbarer Weise zugänglich, jedenfalls für den städtischen Bereich (ÖB 5.2019).

2. Beweiswürdigung:

Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Verfahrensgang

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser, vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie vor den Organen der Landespolizeidirektion XXXX , in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Marokko (Stand Gesamtaktualisierung am 8.11.2019, letzte Information eingefügt am 9.7.2020). Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

2.3. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen hinsichtlich der Lebensumstände des BF, seiner Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit sowie seiner Staatsangehörigkeit ergeben sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF im Rahmen der niederschriftlichen Angaben vor der Landespolizeidirektion XXXX (Protokoll vom 16.06.2020, S 1), vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Protokoll vom 26.06.2020, S 1) und vor der belangten Behörde (Protokoll vom 14.07.2020, S 2). Da der BF den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen konnte, steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.

Betreffend seinen Gesundheitszustand gab der BF wiederholt zu Protokoll, an keinen Krankheiten bzw. Beschwerden zu leiden (Protokoll vom 16.06.2020, S 1; Protokoll vom 26.06.2020, S 4) und ergeben sich auch aus dem unstrittigen Verwaltungsakt keine gegenteiligen Hinweise. Daraus und aufgrund des erwerbsfähigen Alters des BF lässt sich auf dessen Arbeitsfähigkeit schließen. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der Landespolizeidirektion XXXX führte der BF überdies an, er wolle in Österreich arbeiten (Protokoll vom 16.06.2020, S 2), was er auch im Rahmen seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes wiederholte (Protokoll vom 26.06.2020, S 5).

Zwar ergibt sich, dass der BF von Marokko aus nach Spanien ausgereist ist, jedoch konnte der genaue Ausreiseort aufgrund der unterschiedlichen Angaben des BF nicht eindeutig festgestellt werden. Entsprechend der Erstbefragung reiste dieser nämlich aus XXXX aus (Protokoll vom 26.06.2020, S 4), wohingegen er im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde anführte, aus XXXX ausgereist zu sein (Protokoll vom 14.07.2020, S 3). Der weitere Reiseverlauf bis hin zur Ankunft in Österreich ergibt sich aus den Angaben des BF im Rahmen seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Protokoll vom 26.06.2020, S 4). Dass der BF seit mindestens 15.06.2020 in Österreich aufhältig ist, ergibt sich einerseits aus dem Anhalteprotokoll I der Polizeiinspektion XXXX vom 15.06.2020, andererseits auch aus den Angaben des BF im Zuge seiner Erstbefragung (Protokoll vom 26.06.2020, S 2). Der Aufenthalt des BF im Flüchtlingsquartier XXXX und im Anhaltezentrum XXXX lässt sich dem aktuellen Auszug aus dem Zentralen Melderegister entnehmen.

Hinsichtlich der Beschäftigung des BF in einem Fischrestaurant in Marokko gilt es, auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des BF im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde zu verweisen (Protokoll vom 14.07.2020, S 4).

Der Umstand, dass der BF in Marokko familiäre Anknüpfungspunkte in der Person seiner Mutter und seiner Schwester aufweist, ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF im Rahmen seiner Erstbefragung (Protokoll vom 26.06.2020, S 3) und jenen der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 14.07.2020, S 4). Hinsichtlich etwaiger Verwandten oder Familienangehörigen in Österreich führte der BF durchwegs an, solche nicht aufzuweisen (Protokoll vom 16.06.2020, S 3; Protokoll vom 26.06.2020, S 3, Protokoll vom 14.07.2020, S 3). Dass der BF über keinen persönlichen oder familiären Beziehungen im Bundesgebiet verfügt, ergibt sich überdies aus dem Umstand seines erst kurzen Aufenthaltes in Österreich, dem auch die Feststellung hinsichtlich des Nichtvorliegens maßgeblicher Integrationsmerkmale geschuldet ist.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

2.4. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde bzw. das Gericht muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

Generell ist zur Glaubwürdigkeit eines Vorbringens auszuführen, dass eine Aussage grundsätzlich dann als glaubhaft zu qualifizieren ist, wenn das Vorbringen hinreichend substantiiert ist; der BF sohin in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über von ihm relevierte Umstände bzw. Erlebnisse zu machen. Weiters muss das Vorbringen plausibel sein, d.h. mit überprüfbaren Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung entspringenden Erkenntnissen übereinstimmen. Hingegen scheinen erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage angezeigt, wenn der BF den seiner Meinung nach, seinen Antrag stützenden Sachverhalt bloß vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt. Weiteres Erfordernis für den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist, dass die Angaben in sich schlüssig sind; so darf sich der BF nicht in wesentlichen Passagen seiner Aussage widersprechen.

Es ist anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines BF und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – z.B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z.B. VwGH 25.1.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z.B. VwGH 22.2.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.

Der BF brachte sowohl bei seiner Einvernahme vor der Landespolizeidirektion XXXX als auch im Zuge seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes vor, er wolle in Österreich arbeiten (Protokoll vom 16.06.2020, S 2; Protokoll vom 26.06.2020, S 5). Er führte im Rahmen seiner Erstbefragung weiters aus, er habe neben Familienproblemen keine Arbeit und keine Zukunft in Marokko und fürchte bei seiner Rückkehr um sein Leben und habe Angst vor Arbeitslosigkeit. Auf die Frage betreffend konkrete Hinweise hinsichtlich unmenschlicher Behandlung, unmenschlicher Strafe oder Todesstrafe bzw. etwaigen Sanktionen in der Heimat antwortete der BF mit „nein“.

Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 14.07.2020 gab der BF an, seine familiären Probleme resultierten daraus, dass der Vater des BF gestorben sei und die Mutter einen anderen Mann geheiratet habe. Der BF habe mit seiner Schwester bei der Familie seines Onkels gelebt, welcher ihm gesagt habe, er müsse arbeiten gehen. Befragt nach seiner finanziellen Situation führte der BF aus, dass er in Marokko zu wenig Geld gehabt habe. Im Zuge dieser niederschriftlichen Einvernahme gab der BF erstmalig an, im Jahr 2017 ein Mädchen in seinem Dorf kennengelernt zu haben, dessen Brüder ihn im Jahr 2018 auf dem Dach erwischt, den BF geschlagen und mit einem Messer verletzt hätten, weswegen der BF in die Stadt XXXX geflüchtet sei. Auch noch im Jahr 2019 hätten die Brüder nach ihm gesucht, was er von Hafenarbeitern erfahren habe.

Hinsichtlich dem Vorbringen des BF im Rahmen der Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde ergeben sich bereits hinsichtlich der Ausreise aus Marokko Widersprüche. Während der BF im Zuge seiner Erstbefragung noch anführte, er sei im März 2019 aus XXXX ausgereist (Protokoll vom 26.06.2020, S 4), so gab er vor der belangten Behörde zu Protokoll, er sei im September 2019 aus XXXX ausgereist (Protokoll vom 14.07.2020, S 3 f). Während seiner Befragung zu seinem Fluchtgrund machte der BF nur sehr vage Angaben, wobei er Details nur unter Nachfrage in kurzen und knappen Sätzen preisgab. Daraus schließt der entscheidende Richter, entsprechend dem Ergebnis der Beurteilung der belangten Behörde, dass es sich um einen konstruierten Fluchtgrund handelt und der Aufenthalt in Österreich ausschließlich in wirtschaftlichen Interessen begründet liegt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass der BF auch im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme anführte, in Marokko zu wenig Geld gehabt zu haben. Das Vorbringen des BF zu seiner Bedrohungssituation entspricht offensichtlich nicht den Tatsachen und ist eine Verfolgungsgefahr im Fall der Rückkehr nicht glaubhaft.

Auch muss der belangten Behörde zugestimmt werden, wenn sie von einem gesteigerten Vorbringen ausgeht, da der BF sowohl im Zuge der Einvernahme durch die Landespolizeidirektion XXXX als auch während der Erstbefragung lediglich wirtschaftliche Gründe anführte und die Bedrohung und Verletzung durch die Brüder des Mädchens erst in der niederschriftlichen Einvernahme geltend machte. Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, weshalb der BF bei beiden Einvernahmen, insbesondere jedoch im Rahmen seiner Erstbefragung betreffend seinen Asylantrag, einen solchen Vorfall gänzlich unerwähnt ließ. Dies muss schließlich deshalb als gesteigertes Fluchtvorbringen qualifiziert werden, da kein Asylwerber eine sich bietende Gelegenheit, zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten, ungenützt vorübergehen lassen würde, weshalb ein spätes, gesteigertes Vorbringen als unglaubwürdig qualifiziert werden kann (vgl hierzu VwGH 07.06.2000, 2000/01/0250).

Ebenso ist es dem BF nicht gelungen glaubhaft darzulegen, weshalb er sich nicht in Marokko an die Polizei gewandt hat. Er bringt diesbezüglich lediglich - wenig überzeugend - vor, er sei noch jung gewesen und die Polizei hätte doch nichts für ihn getan. Hätte der Vorfall tatsächlich so stattgefunden, wie ihn der BF (unsubstantiiert) im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vorgebracht hat, so hätte er unter hypothetischer Wahrunterstellung sich sowohl der Sic

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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