Entscheidungsdatum
25.08.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W142 2128741-1/45E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.06.2016, Zl.: 1051737904-150163255, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.10.2019 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der bei seiner Einreise nach Österreich minderjährige, nunmehr volljährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte am 13.02.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag gab der BF an, er sei am XXXX in XXXX geboren und ledig. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe keine Ausbildung und sei Analphabet. Zuletzt sei er Arbeiter gewesen. Sein Vater sei verschollen. Seine Mutter und zwei Brüder würden in Afghanistan leben.
3. Am 27.02.2015 wurde beim BF die Bestimmung des Knochenalters durchgeführt, wobei das Ergebnis „Finales Stadium Schmeling3, GP 30“ festgehalten wurde.
4. In weiterer Folge wurde ein medizinischer Sachverständiger zur Beurteilung des Alters des BF bestellt. In dem medizinischen Sachverständigengutachten vom 30.03.2015 wurde geschlussfolgert, dass der BF zum Zeitpunkt der Asylantragstellung 17.2 Jahre alt gewesen sei, das „fiktive Geburtsdatum“ sei daher der XXXX .
5. Am 03.05.2016 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich in der Sprache Dari einvernommen. Der BF gab an, gesund zu sein und sich weder in ärztlicher Behandlung zu befinden, noch Medikamente einzunehmen. Er fühle sich psychisch und physisch dazu in der Lage fühle die Fragen zu beantworten. Er habe in Afghanistan keine Schule besucht. Im Iran habe er in einem Metallbearbeitungsbetrieb gearbeitet. Im Heimatland habe er in Kabul und in der Provinz Parwan gelebt. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Er wisse auch nicht, wo sich seine Mutter und die Brüder befinden. Sein Vater sei im Iran verhaftet und nach Afghanistan abgeschoben worden. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zu ihm. Vor 5 Monaten habe er zuletzt mit der Mutter gesprochen, damals sei sie in Parwan aufhältig gewesen. Dann habe er die Telefonnummer verloren und könne seine Familie seitdem nicht mehr anrufen.
Zu seinem Leben in Österreich gab er an, von der Grundversorgung zu leben. Er mache einen Deutschkurs. Er sei als Analphabet nach Österreich gekommen, habe hier schreiben, lesen und Deutsch gelernt. Zudem habe er österreichische Freunde. Er dolmetsche für andere, die einen Arzt besuchen müssen. Am Wochenende spiele er Fußball mit Afghanen bzw. manchmal mit Österreichern. Zudem spiele er Tennis. Familienangehörige habe er hier keine. Er sei auch nicht Mitglied in Vereinen oder Organisationen.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
- Bestätigungen für die Teilnahme an Deutschkursen „Elementar 2“ und „Elementar 1 B“;
- Bestätigung vom 01.05.2016, wonach der BF als Dolmetscher fungiere und afghanische Familien zum Arzt begleite und für sie dolmetsche;
- Bestätigung eines freiwilligen Deutschlehrers, wonach der BF seit Dezember 2015 am Unterricht teilnehme;
- Bestätigung einer Deutschlehrerin, wonach der BF seit Februar 2016 einen Deutschkurs besuche.
6. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 06.06.2016 wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Das Bundesamt stellte fest, dass der BF afghanischer Staatsangehöriger sei, sich zum schiitisch-muslimischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Seine Identität habe nicht festgestellt werden können.
Betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass der BF gesund und arbeitsfähig sei. Er könne sich in Kabul oder Parwan mit Gelegenheitsjobs seinen Unterhalt sichern und würde ihn auch seine Familie finanziell unterstützen können. Er würde nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF illegal eingereist sei und keine Familienangehörigen in Österreich habe. Er habe Deutschkurse besucht. Eine besondere Integration bestehe nicht. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtet sich die vollumfängliche Beschwerde, in welcher inhaltliche Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden. Es wird ausgeführt, dass der BF seines Wissens nach keinerlei Familie in Afghanistan habe, die ihn unterstützen und beschützen könne. Die restlichen Familienmitglieder hätten zuletzt die Absicht geäußert ebenfalls das Land zu verlassen. Der BF habe derzeit keinen Kontakt zu seiner Familie. Weiters seien die Länderberichte veraltet und wurde ergänzend auf Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan bzw. Kabul, zur Rückkehr afghanischer Asylsuchender, der Schutzfähigkeit afghanischer Behörden und der medizinischen/sozioökonomischen Lage aus den Jahren 2015 und 2016 verwiesen. Dem BF stehe auch keine IFA zur Verfügung. Er würde bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten, zumal er über keine Ausbildung verfüge und angesichts des angespannten Arbeitsmarktes nicht davon ausgegangen werden könne, dass der BF eine Arbeit finden werde. Er würde auch keine Unterstützung und keine Wohnmöglichkeit erhalten. Er verfüge über keinen sonstigen Anschluss an die afghanische Gesellschaft. Hinsichtlich der Integration des BF wurde darauf hingewiesen, dass dieser großen Bemühungen zeige.
8. Am 03.06.2019 brachte der BF folgende Unterlagen in Vorlage:
- Verbale Beurteilung der Beratungs- und Integrationsbeauftragen einer Landesberufsschule von Mai 2019;
- Empfehlungsschreiben des Betriebes (gewerblichen Metallbaubetrieb), in welchem der BF seit 25.07.2018 als Lehrling beschäftig ist;
- Bericht des Mathematik-Lehrers des BF über dessen positive Entwicklung vom 24.05.2019;
- Jahreszeugnis und Schulbesuchsbestätigung einer freien Waldorfschule für das Schuljahr 2017/18
- ÖSD-Zertifikat Deutsch B1 vom 02.03.2018;
- Karte ÖSD-Zertifikat A1;
- Bestätigung einer Gemeinde vom 07.09.2017, wonach der BF als Aushilfskraft bis zu 20 Stunden/Monat für 3 EUR/Stunde beschäftigt sei;
- Ausschnitt aus der Gemeindezeitung, betreffend die gemeinnützige Tätigkeit von Flüchtlingen;
- Bestätigung eines Pfarramtes, wonach der BF bei der Renovierung des Dachstuhls einer Pfarre freiwillig und ohne Bezahlung mitgeholfen habe;
- Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A2.2d+;
- Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF vom 28.03.2017;
- Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A2.2 und A2.1;
- Fotos des BF bei einer Weihnachtsfeier und einem Ausflug in die Weinebene aus dem Jahr 2016;
- Bestätigung vom 24.11.2016, wonach der BF am Grundkurs für die Ausbildung zum Klima & Energie-Botschafter teilgenommen habe;
- Fotos betreffend die Teilnahme an einer Besichtigung im Rahmen eines Umweltprojektes;
- ÖSD-Zertifikat A1 vom 10.11.2016;
- Kursteilnahmebestätigung für einen Anfänger-Deutschkurs bei einer Pfarre;
- Bestätigung für die Teilnahme an einem Deutschkurs für Erwachsene „Elementar 2“;
- Bestätigung für die Teilnahme an einem Deutschkurs „Elementar 1 B“
9. Am 18.06.2019 beantragte der BF die Zeugeneinvernahme seiner Arbeitgeberin und brachte ergänzend seinen Lehrvertrag für den Lehrberuf „Metalltechniker, Schweißtechnik“, tatsächliche Lehrzeit 25.07.2018 bis 24.01.2022 in Vorlage.
10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.10.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein der Rechtsvertreterin des BF sowie einer Vertreterin der belangten Behörde eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. In der Verhandlung wurde weiters auch die Arbeitgeberin des BF als Zeugin einvernommen.
Der BF gab an, gesund zu sein. Er habe keine Verwandten in Afghanistan, seine Mutter lebe mit den beiden Brüdern im Iran. Zu diesen habe er im letzten Jahr zuletzt Kontakt gehabt, da er seine SIM-Karte verloren habe.
Der BF gab zudem wie folgt an:
[…]
R: Wo haben Sie in Afghanistan gelebt?
BF: Eine Zeitlang habe ich auch in Kabul gelebt. Die letzten zwei Monate, bevor ich Afghanistan verlassen musste, habe ich in der Provinz Parwan gelebt.
R: Von wann bis wann haben Sie in Kabul gelebt?
BF: Bevor ich in Kabul gelebt habe, haben wir sieben Jahre im Iran gelebt. Dann sind meine Mutter, meine zwei Brüder und ich nach Afghanistan zurückgekehrt. Ich habe etwa drei Monate in Kabul gelebt.
R: Wo in Afghanistan sind Sie geboren?
BF: In der Provinz Parwan, XXXX .
R: Dann sind Sie von diesem XXXX in den Iran gereist, stimmt das?
BF: Ja, von XXXX in den Iran und weiter nach Europa.
R: Sie haben gesagt, Sie haben auch sieben Jahre im Iran gelebt haben. Können Sie mir eine zeitliche Abfolge sagen, wann Sie im Iran gelebt haben und wann in Afghanistan. Wenn Sie sich an die Daten nicht erinnern können, dann geben Sie bitte an, wie alt Sie waren.
BF: Wir waren einige Zeit in unserem XXXX . Dann sind wir nach Kabul gezogen. Mit acht Jahren bin ich mit meiner Familie in den Iran gegangen. Sieben Jahre habe ich dort gelebt. Also mit ca. 15 Jahren bin ich wieder nach Afghanistan zurückgekehrt und zwar nach Kabul für ca. drei Monate und dann ca. zwei Monate im XXXX .
R: Wieso sind Sie nach Afghanistan zurückgekehrt, als Sie 15 Jahre alt waren?
BF: Nachdem die iranische Polizei meinen Vater nach Afghanistan abgeschoben hat, hatten wir keine schützende Hand mehr und wir mussten nach Afghanistan zurückgehen.
R: Wo befindet sich Ihr Vater nunmehr?
BF: Seit diesem Zeitpunkt, an dem mein Vater abgeschoben wurde, wissen wir nicht mehr, wo er sich befindet.
R: Wieso haben Sie bei Ihrer Erstbefragung angegeben, dass Ihr Vater im Iran verschollen sei?
BF: Damit hatte ich gemeint, dass wir als Familie bis zu diesem Zeitpunkt, in der er bei der iranischen Polizeistation war, von ihm wussten. Ab diesem Zeitpunkt wussten wir nicht mehr, wo er war. Besonders in dieser Zeit hat der Iran viele Afghanen in den syrischen Krieg geschickt. Da wir nicht sicher waren, ob er tatsächlich nach Afghanistan abgeschoben wurde oder ob er sich im syrischen Krieg befand, habe ich gesagt, er sei verschollen.
R: Zuvor haben Sie gesagt, dass Ihr Vater nach Afghanistan abgeschoben wurde, nunmehr teilen Sie mit, dass Sie nicht wissen, ob er tatsächlich abgeschoben wurde, oder ob er im syrischen Krieg ist. Dies ist ein Unterschied.
BF: Ich habe die Möglichkeit gemeint, dass er entweder nach Afghanistan abgeschoben wurde oder dass er in den syrischen Krieg geschickt worden war.
[…]
R: Haben Sie eine Schule besucht in Afghanistan?
BF: Nein.
R: Haben Sie im Iran eine Schule besucht?
BF: Nein.
R: Haben Sie im Iran gearbeitet?
BF: Im Iran habe ich ca. drei Jahre als Schweißer gearbeitet.
R: Wo haben Sie gearbeitet?
BF: Zuerst in Teheran, dann in XXXX .
R: Was ist XXXX , eine Stadt oder ein Bezirk?
BF: Das ist ein Außenbezirk von Teheran.
R: Also haben Sie, als Sie im Iran waren, in Teheran gelebt?
BF: Ja.
R: Können Sie die genaue Adresse angeben?
BF: XXXX (siehe Beilage ./A).
[…]
Zu seinem Leben in Österreich gab er an, Deutsch auf B1-Niveau zu sprechen und seit einem Jahr und vier Monaten eine Lehre zu machen. Er sei im zweiten Lehrjahr und es gefalle ihm sehr gut. In seiner Freizeit mache er Sport. Er habe ein paar Freunde mit denen er Fußball spiele oder Feste besuche. Manchmal gehe er auch Bier trinken. Nach seinem Ziel in Österreich befragt, gab er an, zuerst seine Lehre fertig machen zu wollen, dann wolle er den Führerschein machen.
Die befragte Zeugin gab an, dass der BF zuerst ein Praktikum bei ihnen gemacht habe. Sie habe sich seine Deutschkenntnisse, Arbeitswilligkeit und Teamfähigkeit angesehen, dies alles habe bestens funktioniert. Auch von den Kollegen sei der BF akzeptiert worden. Nach dem vierwöchigen Praktikum hätten sie dem Lehrvertrag zugestimmt. Es sei ihnen klar gewesen, dass es beim BF einige Defizite geben könne, da er erst ein Jahr in die Waldorfschule gegangen sei. Sie habe aber einen pensionierten Lehrer des Polytechnikums kontaktiert, welcher dem BF in Mathematik unterstützen solle. Einerseits im Betrieb, andererseits als Vorbereitung für die Berufsschule. Nach Befragung gab die Zeugin noch an, dass sie den BF nach einem positiven Abschluss der Lehre auf alle Fälle weiterbeschäftigen wolle.
Mit dem BF wurden in weiterer Folge das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand Juni 2019) und die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 erörtert.
Der BF gab dazu an, dass es für ihn als Hazara und schiitischen Moslem schwieriger sei in Afghanistan zu leben.
Der Rechtsvertreter des BF führte weiters aus, dass der BF den größten Teil seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht habe und zur Gruppe der Rückkehrer zähle, welchen eine Neuansiedelung in den Großstädten Afghanistans nicht möglich sei. Aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage würde er einer realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt sein. Eine Rückkehrentscheidung würde das Privatleben des BF verletzen, da dieser Merkmale einer außerordentlichen Integration aufweise. Der BF sei fast fünf Jahre in Österreich aufhältig. In einer Gesamtbetrachtung überwiege das Interesse des BF am Verbleib in Österreich.
Nach der Rückübersetzung gab der BF noch an, dass er nach der Rückkehr nach Afghanistan einen Monat in Kabul und zwei Monate im XXXX gelebt habe.
Im Zuge der Verhandlung legte der BF folgende Unterlagen vor:
- Jahreszeugnis einer Landesberufsschule für den Lehrberuf „Metalltechnik, Scheißtechnik“ für das Schuljahr 2018/19;
- Ausdruck der Sozialversicherung, wonach der BF monatlich 593,95 EUR brutto beziehe.
Weiters wurde in der Verhandlung eine Stellungnahme vorgelegt, worin auf die aktuellen UNHCR-Richtlinien, das Dokumente von ACCORD „Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif“ vom 30.04.2019 und „Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan“ vom 29.05.2019 sowie die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan „Folgen der Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif: Landflucht als Folge der Dürre; Auswirkungen der Dürre/Landflucht auf die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln, auf die Wohnraumbeschaffung und die Situation am Arbeitsmarkt für Neuansiedler (insbesondere von RückkehrerInnen)“ vom 12.10.2018 verwiesen, woraus hervorgehe, dass Mazar-e Sharif und Herat nicht als IFA in Frage kommen würden. Die Sicherheitslage habe sich in den letzten Monaten massiv verschlechtert und sei höchst volatil.
11. Mit Erkenntnis vom 07.11.2019, W142 2128741-1/18E, wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab.
12. In weiterer Folge wurde der Lehrvertrag des BF in Vorlage gebracht.
13. Der VfGH hob mit Erkenntnis vom 26.02.2020, E 188/2020-11, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan; die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen; die Erlassung einer Rückkehrentscheidung; den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise wegen der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das erkennende Gericht die EASO „Country Guidance“ zu Afghanistan vom Juni 2019 und somit die geänderten Verhältnisse nicht berücksichtigt habe, weshalb die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen worden sei und das Erkenntnis mit Willkür belastet sei.
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt, Spruchpunkt I. erwuchs somit in Rechtskraft.
14. Am 22.06.2020 wurden dem BF folgende aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan übermittelt und der BF aufgefordert zu diesen Berichten eine schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen zu erstatten:
- LIB der Staatendokumentation Afghanistan (Stand: 18.05.2020);
- EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 vom 07.05.2020;
- EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11;
- OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -vom 17.06.2020;
- EASO Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019.
15. Mit Verfahrensanordnung vom 30.06.2020 wurde dem BF die aktuellste Kurzinformation der Staatendokumentation zur Situation in Afghanistan (Covid-19, Stand: 29.06.2020) übermittelt und er aufgefordert binnen einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme zu erstatten.
16. Am 01.07.2020 langte eine Stellungnahem des BFA ein, worin ausgeführt wird, dass das allgemeine Risiko an COVID-19 zu erkranken weltweit erhöht sei. Das individuelle Risiko des BF, schwer oder gar tödlich an COVID-19 zu erkranken sei niedrig. Ein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohe dem BF im Herkunftsstaat aufgrund der Pandemie daher nicht.
17. Am 06.07.2020 langte eine weitere Stellungnahme des BF ein. Darin wird ausgeführt, dass der BF der marginalen Minderheit der Hazara angehöre und er daher der Zugang zu grundlegenden Existenzmitteln z.B. durch Beschäftigung erschwert werde. Zudem gehöre der BF der religiösen Minderheit der Schiiten an. Er praktiziere diesen Glauben nicht und nehme an der Berufsschule etwa am römisch-katholischen Religionsunterricht teil. Er verfüge über keine Dokumente, die es ihm ermöglichen würden, seine Identität wahrzunehmen und Zugang zu existentiellen Diensten zu erlangen. Der BF habe Afghanistan in seiner Kindheit verlassen und habe keine Erinnerungen an das Land, er verfüge über keine Lebenserfahrung in einer der afghanischen Großstädte. Die Familie des BF lebe im Iran, er verfüge in Afghanistan über keinerlei sozialen Kontakte und habe daher kein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk. Für den BF komme aufgrund des EASO-Berichtes und der darin geforderten Kriterien keine IFA in Frage. Zudem sei Afghanistan von COVID-19 unverhältnismäßig stark betroffen. Die Lebensmittelpreise würden steigen, IDPs würden in schlechten bzw. überfüllten Unterkünften wohnen und würde die Arbeitslosigkeit steigen. Hinsichtlich der Integration des BF ist auszuführen, dass dieser sich in den letzten fünfeinhalb Jahren in die Österreichische Gesellschaft außergewöhnlich fest integriert habe und hier den Mittelpunkt seines Lebens begründet habe. Er spreche sehr gut Deutsch, habe den Pflichtschulabschluss nachgeholt, absolviere eine Lehre zum Metallbau- und Schweißtechniker und sei selbsterhaltungsfähig. Die Firma wolle den BF unbedingt weiterbeschäftigen. Er engagiere sich ehrenamtlich beim Dolmetschen für Familien, bei verschiedenen Projekten in der Gemeinde, bei Renovierungsarbeiten in der Pfarre, nehme am römisch-katholischen Religionsunterricht teil, helfe Nachbarn in der Landwirtschaft und habe sich für einen Ausbildungskurs der Freiwilligen Feuerwehr angemeldet. Der BF sei bereits Mitglied einer Familie und pflege ein Oma-Enkel-Verhältnis. Der BF sei sohin bestens integriert.
Mit der Stellungnahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
- Stellungnahme des Arbeitgebers des BF;
- Stellungnahme der Berufsausbildungsassistenz;
- Diverse Fotos des BF bei der Arbeit und bei Firmenveranstaltungen;
- Stellungnahme des Klassenvorstandes der Berufsschule;
- Stellungahme des Lehrlingscoachings;
- Bestätigung, wonach der BF als Berufsschüler am röm.-kath. Religionsunterricht teilgenommen habe;
- Empfehlungsschreiben der Gemeinde;
- Empfehlungsschreiben einer österreichischen Familie;
- Stellungnahme eines ehemaligen Jugend Coaches;
- Empfehlungsschreiben eines Österreichers.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem.
Seine Identität konnte nicht eindeutig festgestellt werden.
Die Muttersprache des BF ist Dari.
Der BF hat keine Kinder und ist ledig.
Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Parwan geboren und hat danach in der Stadt Kabul gelebt. Im Alter von etwa acht Jahren verließ er gemeinsam mit seiner Familie seinen Herkunftsstaat und lebte dann etwa sieben Jahre lang im Iran (Teheran). Danach ist er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern für einige Monate wieder nach Afghanistan zurückgekehrt und war dort zuerst in der Stadt Kabul, danach etwa zwei Monate lang in der Provinz Parwan aufhältig, bevor er dann seinen Heimatstaat - über den Iran - endgültig in Richtung Europa verließ.
Der BF hat weder in Afghanistan, noch im Iran eine Schule besucht. Im Iran hat er etwa drei Jahre lang in einem Metallbearbeitungsbetrieb als Schweißer gearbeitet.
Der BF hat seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter, diese war zuletzt im Iran aufhältig. Den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Familie (Mutter und zwei Brüder) kennt der BF nicht. Auch den Aufenthaltsort seines Vaters kennt der BF nicht.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF Verwandte in Afghanistan hat. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass die Familie des BF ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen könnte.
Der BF war zwar nur als Kind bis etwa zu seinem achten Lebensjahr und danach - nach etwa siebenjährigem Aufenthalt im Iran – für einige Monate in Afghanistan aufhältig, er ist jedoch mit der afghanischen Kultur vertraut und in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen.
Der BF ist jung, gesund, arbeitsfähig sowie leistungsfähig und kann bei einer Rückkehr Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen.
Der BF ist in Österreich nicht straffällig geworden.
Die Frage der asylrelevanten Verfolgung des BF in seinem Heimatstaat ist nach der rechtskräftigen Ablehnung der Beschwerde im Hinblick auf Asyl nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
1.2. Zu einer Rückkehr des BF nach Afghanistan:
Im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Parwan würde dem BF ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Der BF wäre im Falle der Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif keiner konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt.
Der BF ist gesund, volljährig, anpassungsfähig, mobil, arbeitsfähig, hat keine Kinder und keine Sorgepflichten. Der BF hat in Afghanistan oder dem Iran zwar keine Schule besucht, er hat aber im Iran bereits Berufserfahrung gesammelt, drei Jahre lang als Schweißer in einem Metallbearbeitungsbetrieb gearbeitet und konnte so zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Auch in Österreich hat sich der BF weitergebildet und ist er seit 25.07.2018 als Lehrling (Metalltechniker, Schweißtechnik) in einem gewerblichen Metallbaubetrieb beschäftigt. Der BF hat in Österreich auch gemeinnützige Arbeiten für eine Gemeinde verrichtet, hat ein Jahr lang die Schule besucht, Deutsch sowie lesen und schreiben gelernt. Er wurde – wie bereits festgestellt - in der Provinz Parwan geboren und hat mit seiner Familie auch in der Stadt Kabul gelebt, bevor er mit etwa acht Jahren Afghanistan verließ und gemeinsam mit seiner Kernfamilie etwa sieben Jahre lang im Iran (Teheran) lebte. Der BF kehrte dann - gemeinsam mit seiner Mutter und den Geschwistern -wieder nach Afghanistan zurück, wo er wiederum für einige Monate in der Stadt Kabul und in der Provinz Parwan lebte. Der BF ist sohin mit den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates bestens vertraut und wuchs auch im Iran in einem afghanischen Familienverband auf. Seine Muttersprache ist Dari, er ist somit auch mit einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut. Der BF lebte zwar nie in der Stadt Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte, angesichts seiner Sprachkenntnisse, seiner gesammelten Berufserfahrung und seiner Weiterbildung in Österreich könnte er sich in der Stadt Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist in der Lage, in der Stadt Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Im Ergebnis ist von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des BF in Afghanistan auszugehen. Er hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. In einer Gesamtbetrachtung ist Mazar-e Sharif für Normalbürger, die nicht mit Ausländern zusammenarbeiten, eine vergleichsweise sichere und über den jeweiligen Flughafen gut erreichbare Stadt. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Mazar-e Sharif ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF kann die Stadt Mazar-e Sharif auf dem Luftweg sicher erreichen.
Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif somit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit und er läuft auch nicht Gefahr, im Falle der Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der BF unterliegt keinen gesundheitlichen Einschränkungen, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen. Insbesondere ist im Hinblick auf die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie festzuhalten, dass der BF mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 angehört. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:
Der unbescholtene BF hält sich seit Februar 2015 im Bundesgebiet auf. Er hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und Deutschprüfungen bis zum Niveau B1 absolviert. Der BF kann sich in Deutsch verständigen. Weiters hat er auch an einem Werte- und Orientierungskur teilgenommen und für afghanische Familien als Dolmetscher fungiert. Der BF war bei einer Gemeinde als Aushilfskraft beschäftigt (gemeinnützige Tätigkeit) und hat auch freiwillige Hilfstätigkeiten verrichtet. Er hat lediglich ein Jahr lang (Schuljahr 2017/18) eine freie Waldorfschule besucht und ist seit 25.07.2018 als Lehrling (Metalltechniker, Schweißtechnik) in einem gewerblichen Metallbaubetrieb beschäftigt. Er befindet sich im dritten Lehrjahr. Die erste Klasse der Berufsschule hat er mit ausreichenden Noten abgeschlossen, weitere Zeugnisse wurden nicht vorgelegt. Er bekommt Nachhilfe im Fach Mathematik. Auch wenn der BF seit Beginn seiner Lehre keine Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch nimmt, so hat er dennoch den überwiegenden Teil seines Aufenthaltes in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung bezogen und war nicht selbsterhaltungsfähig. In seiner Freizeit spielt der BF Fußball sowie Tennis und nimmt an diversen Veranstaltungen seiner Wohnsitzgemeinde teil. Der BF konnte zwar Empfehlungsschreiben vorlegen und hat schon österreichische Freunde und Bekannte gefunden, die sich für den Aufenthalt des BF einsetzen, er führt hier aber kein Familienleben und hat auch sonst keine engen sozialen Bindungen.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinfo vom 29.06.2020), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, den EASO-Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019, dem EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 von 07.05.2020, dem EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11 und dem Bericht von OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -on 17.06.2020, werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
Stand: 18.5.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
• Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
• Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)
Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).
Politische Lage
Letzte Änderung: 18.5.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbes