TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/14 I419 2119334-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.09.2020
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Entscheidungsdatum

14.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I419 2119334-2/11E
I419 2119334-3/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 02.12.2016, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von Ali Taha Mohammed auch Ali AL AZAWY, geb. 18.09.1985, StA. IRAK, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 05.02.2020, Zl. 1047470008-190992854, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem erstgenannten bekämpften Bescheid wies das BFA 2016 den Antrag des Beschwerdeführers betreffend den Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I) und zuerkannte ihm jenen des subsidiär Schutzberechtigten. Die dagegen erhobene Beschwerde richtet sich nur gegen die Nichtzuerkennung des Asylstatus, also Spruchpunkt I des Bescheids.

2. Mit dem weiteren Bescheid aberkannte das BFA 2020 dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt I). Unter einem erteilte es keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“ (Spruchpunkt II), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III) und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak (Spruchpunkt IV) sowie die Frist für dessen freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt V). In der Beschwerde gegen diesen Bescheid werden alle Punkte bekämpft.

3. Beschwerdehalber wird betreffend die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten vorgebracht, der Beschwerdeführer habe sich der „Al Mahdi Miliz“ verweigert und sei deswegen bedroht worden, betreffend die Aberkennung des subsidiären Schutzes, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in die Provinz Diyala nicht zumutbar und eine Ansiedlung in Bagdad nicht möglich sei. Die Feststellungen des BFA stünden in Widerspruch zu den Länderberichten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Mitte 30, Sunnit und Araber. Er ist ledig, hat eine Freundin Österreichischer Staatsbürgerschaft, die in einem anderen Bezirk wohnt, und weder Kinder noch Sorgepflichten. Er hat nicht die Absicht, zu heiraten, und erwartet nicht, Vater zu werden. Seine zuletzt erteilte Aufenthaltsberechtigung vom 30.11.2017 galt bis 01.12.2019.

Außer Arabisch spricht er Deutsch auf Niveau A2. Die Volkshochschule, wo er einen B1-Kurs besucht, hat ihn mit A2+ eingestuft. Er ist gesund und arbeitsfähig sowie seit 01.11.2018 in Vollzeit in einem Gastronomiebetrieb beschäftigt. Dort erhält er gut € 1.200,-- netto, von denen er € 450,-- an Miete und Betriebskosten für eine 31-m²-Wohnung zu bezahlen hat. In Österreich hält er sich seit Dezember 2014 auf, erst in der Steiermark, seit Ende 2016 in Wien, und ist durchgehend gemeldet. Eine gute österreichische Bekannte, die sich auch für seinen Verbleib einsetzt, hat er in Innsbruck.

Er lebte im Herkunftsstaat mit seiner Familie in der Provinz Diyala, im Bezirk Al-Muqdadiya oder im angrenzenden Bezirk Bakuba (Ba’quba, Baqubah) am westlichen Rand der Provinz. Im Bezirk Al-Muqdadiya leben auch Onkel des Beschwerdeführers.

Seine Familie befindet sich nach wie vor in Diyala, und zwar seine Mutter, drei Brüder, Anfang und Ende 30, zwei davon verheiratet, und vier Schwestern. Ob sein Vater noch lebt, kann nicht festgestellt werden. Drei seiner Schwestern sind verheiratet, eine ist verwitwet. Die verheirateten wohnen in Al Mualimin (Al-Mualmeen) und in Al Asri im Bezirk Muqdadiya. Nach Angaben des Beschwerdeführers hält sich seine Mutter mit seiner verwitweten Schwester und dem Rest der Familie in Chanaqin (Khanaqin) im gleichnamigen Bezirk der Provinz Diyala auf und wohnt in einem Flüchtlingslager.

Der Beschwerdeführer hält Kontakt zu seinen Angehörigen im Herkunftsstaat, zwischen einmal monatlich und zweimal wöchentlich telefoniert er mit seinen Schwestern.

1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat:

Im zweiten angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zum Irak auf Stand 30.10.2019 zitiert. Aktuell steht ein am 17.03.2020 erschienenes zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang sind davon die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

1.2.1 Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl. Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern

(IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

1.2.2 Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018). […]

Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).


Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl. Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

1.2.3 Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019). […]

Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha’bi

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur

Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellten Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahestehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahestehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020). […]

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und

ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). […]

Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus antiiranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).

1.2.4 Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnung alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).

Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016). Rekruten für die Peshmerga unterzeichnen einen Vertrag für eine bestimmte Dienstzeit, nach dessen Ablauf die Person freiwillig gehen kann (EASO 3.2019).

Die Strafe für Desertion von den Peshmerga kann, je nach den Umständen, von der Auflösung des Vertrages bis zur Verurteilung zum Tode reichen. Für letzteres gibt es jedoch keine Berichte (DIS 12.4.2016; vgl. EASO 3.2019). Wenn ein Peshmerga von der Frontlinie desertiert, wird er vor ein Militärgericht gestellt und kann nach irakischem Militärrecht zum Tode verurteilt werden. Einige Peshmerga-Soldaten verlassen die Streitkräfte, weil sie keinen Sold erhalten. Bislang wurden jedoch keine Fälle von Desertion durch die Peshmerga-Truppen vor Gericht gebracht (DIS 12.4.2016).

Es gibt Vorwürfe der Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Shingal Protection Units (YBS) und von PMF-Milizen (USDOS 11.3.2020).

1.2.4 Protestbewegung

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

1.2.5 Bewegungsfreiheit

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 11.3.2020).

Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vgl. Zeidel/al-Hashimis 6.2019).

Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 11.3.2020).

Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS, zwischen 2014 und 2017, führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2019). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 4.3.2020). […]

Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Eine Ausnahme stellt der Bezirk Khanaqin dar, in dem Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS), und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.2019).

1.3 Zum Fluchtvorbringen:

1.3.1 Der Beschwerdeführer hat in der Provinz Diyala ein Kaffeehaus betrieben, wobei ihm ein Bruder und ein Angestellter halfen. Es war für ca. 25 Gäste ausgelegt, von denen ein kleiner Teil im Gebäude an zwei Tischen sitzen konnte, der Großteil im Freien, wo nach Bedarf Tische und bis zu ca. 30 Stühle aufgestellt wurden. Das Angebot umfasste alkoholfreie Getränke und Wasserpfeifen.

1.3.2 Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer dort oder anderswo aufgefordert worden wäre, einer Miliz über die Gesprächsinhalte seiner Gäste zu berichten. Es kann nicht festgestellt werden, dass er von Angehörigen einer Miliz oder jemand anderem bedroht worden wäre, weil er sich geweigert hätte, einer Miliz Informationen zu liefern, ihr beizutreten oder sie sonst zu unterstützen.

1.3.3 Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer aus anderen, sei es auch unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Herkunftsstaat staatliche Verfolgung oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte.

1.3.4 Aus spezifischen Länderberichten ergibt sich zur Lage in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers Folgendes:

Aus einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation von 2019 zur Sicherheitslage in Al-Muqdadiyya (übersetzt): „Ein Großteil der Daesh-Operationen im Irak im vergangenen Jahr (2018) wurde von den ländlichen Hamrin-Berggebieten an der Grenze zu Kirkuk, Salah al-Din und Diyala sowie von den Delta-Gebieten des Diyala-Flusses in Muqdadiya gesteuert. Diese Gebiete dienen als Versteck für Daesh, und es ist den irakischen Streitkräften nicht gelungen, sie auszusortieren.“ (ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Provinz Diyala: Sicherheitslage in der Stadt Al-Muqdadiyya; Humanitäre Lage in der Stadt Al-Muqdadiyya, insbesondere von Kindern; Sicherheitslage von Sunniten in Bagdad [a-10859], 28. Februar 2019; www.ecoi.net/de/dokument/2003477.html)

Der Übersicht „Schneller Überblick über Rückkehrgebiete - Stadt Muqdadiya und Dörfer im Norden“ („Rapid Overview of Areas of Return (ROAR) Muqdadiya City and Villages to the North“) vom Oktober 2018 ist zu entnehmen, dass der Daesh im Juni 2014 in den Bezirk Muqdadiya eindrang. Die Gruppe schaffte es nie, die Kontrolle über die Stadt Muqdadiya zu erlangen, sondern drang stattdessen in die rund 40 Dörfer nördlich der Stadt ein. Daher wurden hauptsächlich Menschen aus diesen Dörfern und aus einigen Stadtteilen im Norden der Stadt vertrieben. Berichten zufolge erklärte die Mehrheit der irakischen Regierung im Januar 2015, die Kontrolle über die Provinz Diyala wieder hergestellt zu haben. Seit sie diese wiedererlangt hatte, waren schätzungsweise 6.500 bis 8.500 Familien in den Bezirk Muqdadiya zurückgekehrt, während rund 4.000 Familien, die größtenteils aus den Dörfern nördlich der Stadt stammen, weiterhin vertrieben waren. (re-liefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/reach_irq_situation_overview_roar_muqdadiya_district_october_2018.pdf)

Dazu findet sich in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation von 2019 (s. oben), dass diejenigen Bewohner, die noch nicht nach Muqdadiya zurückgekehrt seien, als Gründe dafür vorgebracht hätten, dass ihre Häuser beschädigt, zerstört oder ausgeraubt worden seien, es in der Gegend kaum Arbeitsmöglichkeiten gebe und die Lage von konfessionellen Spannungen bestimmt sei. Laut den Befragten habe es, insbesondere in den Dörfern nördlich von Al-Muqtadiya, nur wenig Erwerbsmöglichkeiten gegeben. Die Anzahl der Personen, die in der Landwirtschaft arbeiten würden, sei stark zurückgegangen, da die Ackerflächen verbrannt seien und man nicht über die finanziellen Mittel verfüge, wieder neu anzufangen.

Anschluss an das Wassernetzwerk bestehe in Muqdadiya und dem Dorf Schaqraq, jedoch sei das Wasser nicht immer trinkbar. Laut Berichten gebe es in der Stadt Al-Muqdadiya kein Abwassersystem.

Die Kurzübersichten über Konfliktvorfälle aus dem „Armed Conflict Location & Event Data Project“ ACLED aus der Staatendokumentation des BFA berichten für die Provinz Diyala Folgendes:

Die Anzahl von Konfliktvorfällen lag 2017 bei 608, 2018 bei 487 und 2019 bei 448. Die Zahlen der Vorfälle mit Todesopfern betrugen 363 (2017), 238 (2018) und 223 (2019), wobei diese an Menschenleben insgesamt 1.222 (2017), 549 (2018) und 474 (2019) forderten. In allen Berichten ist Al-Muqdadiya jeweils unter den Orten dieser Vorfälle.

Die Zahl der Vorfälle stieg im zweiten Halbjahr 2019 von 103 im dritten Quartal auf 165 im vierten, die jener mit Todesfällen von 49 auf 66. Die Zahl der Todesopfer erhöhte sich von 113 auf 151. Im ersten Quartal 2020 lag die Gesamtzahl der Vorfälle mit 106 dazwischen, die Zahl jener mit Todesopfern stieg auf 54, die Zahl dieser Opfer sank auf 84.

(www.ecoi.net/en/file/local/2025387/2019q3Iraq_de.pdf, www.ecoi.net/en/file/local/2031973/2019q4Iraq_de.pdf, www.ecoi.net/en/file/local/2031969/2019yIraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031975/2020q1Iraq_en.pdf, www.ecoi.net/en/file/local/2025356/2018yIraq_de.pdf, www.ecoi.net/en/file/local/2002486/2017yIraq_de.pdf)

Demnach kam es pro Quartal betrachtet bzw. berechnet in der Provinz Diyala zu folgenden Vorfällen:

- 2017 im Durchschnitt 152, davon 91 mit Todesopfern, wobei 305 Menschen starben,
- 2018 im Durchschnitt 122, davon 60 mit Todesopfern, wobei 137 Menschen starben,
- 2019 im Durchschnitt 112, davon 56 mit Todesopfern, wobei 119 Menschen starben,
- 2019 im dritten Quartal 103, davon 49 mit Todesopfern, wobei 113 Menschen starben,
- 2019 im vierten Quartal 165, davon 66 mit Todesopfern, wobei 151 Menschen starben,
- 2020 im ersten Quartal 106, davon 54 mit Todesopfern, wobei 84 Menschen starben.

1.3.5 Das BFA hat am 02.12.2016 festgestellt, dass der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr „in eine bedrohliche Situation geraten“ könnte. Im Herkunftsstaat gebe es insbesondere für Sunniten ein erhebliches Risiko, Oper von Gewalt im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts zu werden. Es hat dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zuerkannt, weil für ihn insbesondere „im Landesteil nördlich von Bagdad“ als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des genannten Konflikts gegeben sei.

1.3.6 Es kann nicht festgestellt werden, dass die Gefahr einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Beschwerdeführers als Zivilperson in der Herkunftsregion, der Provinz Diyala, seit Erteilung seiner Aufenthaltsberechtigung vom 30.11.2017 maßgeblich gesunken wäre oder seither das reale Risiko für ihn entfallen wäre, Oper von Gewalt im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts zu werden.

1.3.7 Der Beschwerdeführer hat keine Freunde in Bagdad. Ein Bekannter von ihm wohnt im Viertel Ameen (Amin, Alamin) im Stadtbezirk 7 Nissan (auch 9 Nissan, New Baghdad, Al-Jidida). Aufgrund der Feststellungen zur Lage im Irak ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer sich ohne die verlangten Bürgen aus der Nachbarschaft in Bagdad ansiedeln kann.

1.3.8 Aufgrund dieser Feststellungen ist allerdings von einer weiterhin sehr instabilen Sicherheitslage in Diyala und verstärkten Aktivitäten des Daesh auszugehen, sodass dort deswegen eine reale Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Milizen und dem Daesh in deren Konflikt, besteht.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben im Rahmen der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer als Partei befragt wurde, und durch die Einsichtnahme in die Akten des BFA unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers, ferner in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Gewerbeinformationssystem und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt der Akten des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen der bekämpften Bescheide, ebenso zur Ausbildung und Tätigkeit des Beschwerdeführers, jeweils aktualisiert durch die jüngsten Angaben, zuletzt bei der Verhandlung, wo auch eine Zeugin Angaben zu seiner Person machte.

Die Negativfeststellung zur Frage, ob sein Vater noch lebt, beruht darauf, dass der Beschwerdeführer 2014 angab, im Herkunftsstaat (unter anderem) einen Vater unbekannten Alters zu haben (AS 11), dann 2014 beim BFA nur die Mutter und die Geschwister erwähnte (AS 88), ebenso 2019 (AS 39). In der Verhandlung befragt, gab er einerseits an, der Vater sei 2010 verstorben (S. 5), aber auch, seine Eltern hätten das Haus verlassen und würden im Flüchtlingslager auf eine Gelegenheit warten, von dort wegzuziehen (S. 6 f).

Zu seinem und den Wohnorten seiner Angehörigen waren genauere Feststellungen nicht möglich, weil die diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers unschlüssig sind. Er hat angegeben, aus dem Hay (Siedlung, Stadtteil) Al Askari in der Provinz Diyala zu stammen (AS 11), dann aus dem Dorf Hay Al Askari, das im Bezirk Muqdadiyah in Diyala liege (AS 88), und schließlich in der Verhandlung, die Siedlung Al Askari sei das Zentrum von Muqdadiyah (S. 6). Auf einer Karte des Bezirks zeichnete er einigermaßen unsicher seinen Wohnort zwischen den Städten Baqubah und Muqdadiya ein. Demgegenüber existiert zwar tatsächlich ein zentrales Viertel in der Stadt Muqdadiya namens Al Askari, ein Dorf gleichen Namens jedoch nicht im Bezirk Muqdadiya, sondern im Nachbarbezirk Baqubah.

Auch der Ausstellungsort des Personalausweises, den der Beschwerdeführer vorlegte, Al Zaghira (Al saghera) liegt wenig zentral, nämlich etwa mittig zwischen den Städten Muqdadiya und Khalis.

Der Beschwerdeführer hat angegeben, dass seine Mutter mit weiteren Familienmitgliedern in Chanaqin in einem Auffanglager für Vertriebene lebe (AS 39, Verhandlung S. 7). Einen Namen der dortigen Lager – sie heißen Alwand 1 und 2 (oder auch Alyawa) – konnte er jedoch nicht angeben. Das verwundert, weil zu erwarten wäre, dass die dort angeblich wohnenden Angehörigen diesen genannt und der Beschwerdeführer ihn sich gemerkt hätten, um z. B. bei Nachrichtenmeldungen beurteilen zu können, ob seine Familie betroffen ist.

Wo in Diyala die Familienmitglieder wohnten und wohnen war daher nicht genauer zu bestimmen, als oben festgestellt.

2.3 Zum Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Irak samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstands, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung zu den Länderfeststellungen angegeben, im Irak gebe es keine freien Medien. Wenn betreffend die PMF angeführt sei, dass diese nur Freiwillige rekrutieren würden, dann sei gemeint, dass diese sich aus religiösen Gründen wegen einer Fatwa als Mitglieder meldeten. Saraya as-Salam habe sich den PMF angeschlossen, agiere auch in deren Namen, schütze indes ihre eigenen Interessen und tue, was sie wolle.

Damit hat er die Länderfeststellungen teils bestätigt, teils ergänzt und interpretiert, ist ihnen jedoch nicht qualifiziert entgegengetreten.

2.4 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive

2.4.1 Wie bereits beim BFA vermochte der Beschwerdeführer auch in der mündlichen Verhandlung kein plausibles Verfolgungsszenario seine Person betreffend darzulegen, das ihn zur Flucht veranlasste. Das Gericht verkennt nicht, dass das BFA im Asylverfahren feststellte, der Beschwerdeführer sei „von den Mahdi Milizen“ aus Diyala vertrieben, und dessen Kaffeehaus „niedergebrannt“ worden (laut Beschwerdeführer: „gesprengt“, AS 90, 163). Das BFA ging in seiner betreffend den Asylstatus ablehnenden Entscheidung aber auch davon aus, dass nicht sicher sei, ob der Beschwerdeführer (und seine Familie) von der Miliz oder vom Daesh vertrieben worden sei(en).

Von einer konkret gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfolgung oder Bedrohung – speziell aus dem Grund, dass er sich geweigert hätte, einer Miliz wie angegeben Informationen zu liefern oder in ihren Reihen zu kämpfen – ging das BFA nicht aus. Auch das Verwaltungsgericht kann eine solche nicht feststellen, und damit auch nicht, dass dem Beschwerdeführer Verfolgung wegen einer (unterstellten) Gesinnung oder politischen Haltung einer Miliz gegenüber droht, und zwar aus diesen Gründen:

2.4.2 Erstbefragt hatte der Beschwerdeführer noch angegeben (AS 15), dass eines Tages Leute zu ihm gekommen seien, die verlangt hätten, dass er „sofort“ seinen Betrieb schließe und mit ihnen arbeite, wobei er auch mit einer Waffe zu tun haben werde. Er habe herausgefunden, dass es sich um Anhänger der „Mahdi-Armee“ handle, einer „radikal islamische Organisation“, und gewusst, dass sie ihn töten würden, wenn er sich nicht anschließe. Dabei fällt bereits auf, dass nach den Länderfeststellungen (1.2.3 aE) die 2014 reaktivierte Mahdi-Armee nicht nur anders hieß, Saraya as-Salam, sondern dort auch keine Rede davon ist, dass es sich um eine religiös radikale Gruppe handelt, wohl aber, dass diese schwerpunktmäßig im Süden des Landes aktiv ist, also nicht in Diyala. Auch in der Verhandlung gab der Beschwerdeführer in Widerspruch zu den Länderfeststellungen an (S. 10), damals hätte die Miliz sich als Mahdi-Armee bezeichnet, und (erst) jetzt hieße sie Saraya as-Salam.

Gut ein halbes Jahr später gab der Beschwerdeführer dann an (AS 89), die zwei Männer seien eine Woche lang immer wieder als Gäste gekommen und hätten Tee bestellt. Nach dieser Zeit hätten diese ihn beiseite genommen und aufgefordert, Informationen an sie weiterzugeben, an die er als Lokalbesitzer gelange. Wenn er das getan haben würde, solle er seinen Betrieb schließen und mit ihnen kämpfen. Mit Waffen umzugehen, werde man ihm beibringen. Er habe um Bedenkzeit gebeten, worauf sie gemeint hätten, er möge bedenken, dass sie wüssten, wo er wohne und wer seine Verwandten seien, was er als „indirekte“ Drohung empfunden habe.

Neben dem nun anders berichteten Ansinnen der angeblichen Besucher – nun darauf gerichtet, dass der Beschwerdeführer seine Gäste aushorchen oder bespitzeln solle, erst danach (und nicht „sofort“) solle er schließen und als Kämpfer tätig werden – fällt auf, dass der Beschwerdeführer nun nicht mehr behauptet, „gewusst“ zu haben, dass er andernfalls getötet werde, sondern Bedenkzeit verbunden mit einer verklausulierten Drohung erhalten zu haben.

Daneben erscheint es auch lebensfremd, dass eine Auskunftsperson angeworben wird, um Lokalgäste zu bespitzeln, der man zugleich aber bereits in Aussicht stellt, dass sie sich danach als Kämpfer ausbilden lassen werden müssen. Mit einer solchen Perspektive wäre wenig Motivation verbunden, die gewünschte Information zu liefern.

Der Beschwerdeführer hat dazu in der Verhandlung (S. 10) erklärt, er hätte so lange über die Inhalte der Gespräche seiner Gäste berichten sollen, bis die Miliz ihn benötigt haben würde. Dann hätte er zur Verfügung stehen sollen. Damit präsentierte er eine dritte, weiter abgeschwächte Variante des Geschehens, auch im Hinblick auf die angeblich für ihn vorgesehene Verwendung in der Miliz: „Sie wollten, dass ich vielleicht auch Waffen trage und etwas tue. Was genau, weiß ich nicht. Ich nehme an, dass sie wollten, dass ich Waffen trage.“

Demgegenüber hatte er beim BFA angegeben (AS 89, Schreibfehler korrigiert): „Sie sagten auch, dass ich nach dem Erlangen der Informationen das Lokal schließen solle und mit ihnen kämpfen solle. Ich war darüber sehr erschrocken und meinte, dass ich mit Waffen nicht umgehen könne. Sie meinten, dass man mir das schon beibringen würde.“ Bei diesem Ablauf wäre es aber festgestanden, dass der Beschwerdeführer eine Waffe tragen würde müssen.

Nach den Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung (S. 9) arbeiteten im Betrieb auch einer seiner Brüder und ein Angestellter. Deshalb wäre es auch schwer nachvollziehbar, warum er diesen Betrieb hätte schließen sollen, um sich der Miliz anzuschließen.

2.4.3 Nicht zu übersehen ist auch, dass die Angaben den Länderfeststellungen auch darin widersprechen, dass laut Letzteren die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) – deren Teil die Saraya as-Salam sind, ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgt, und sich den PMF viele sich aus wirtschaftlichen Gründen anschließen. Die oben angeführte Erklärung des Beschwerdeführers, wonach es sich um religiös Motivierte handle, ändert nichts an diesem Widerspruch.

2.4.4 Zum zeitlichen Ablauf der Ereignisse – im Oktober 2014 – gab der Beschwerdeführer beim BFA an (AS 89 ff), nach dem letzten Gespräch, bei dem er die „indirekte Drohung“ empfunden habe, sei er am nächsten Tag nach Bagdad gereist, wo er sich in einem Hotel eingemietet habe. „Einige Zeit später“ habe sein Bruder dann einen Drohbrief erhalten, der an den Beschwerdeführer gerichtet gewesen sei. Das sei am 25. Oktober gewesen.

Den Irak habe er am 10. November verlassen. Etwa 15 bis 20 Tage vorher seien die Leute erstmals bei ihm gewesen, und so 14 bis 20 Tage vor dem 10. November hätten sie ihn bedroht.

Dabei ist ersichtlich, dass ein Widerspruch zur Aussage vorliegt, die Männer seien erst eine Woche lang als Lokalgäste bei ihm gewesen. Ein weiterer zeigt sich darin, dass der Beschwerdeführer angab (AS 90), der Bruder habe den Drohbrief am 25. Oktober erhalten, und ein bis zwei Tage vorher seien die Leute im Lokal gewesen. Dazu legte er eine Bestätigung vor, wonach der Bruder am 25.10.2014 Anzeige wegen des Drohbriefs erstattet habe, und gab an, es sei derselbe Tag gewesen, an dem dieser ihn erhalten habe, einen Tag nachdem man den Bruder nach ihm gefragt hätte, was am Tag nach seiner Reise nach Bagdad gewesen wäre. Damit wäre die Nachfrage am 24. gewesen, und die Reise nach Bagdad am 23., woraus sich für das letzte Gespräch samt Drohung als Datum der 22. ergäbe.

Das widerspricht der Angabe, wonach der Beschwerdeführer sich Bedenkzeit erbeten habe, worauf nach zwei Tagen die Nachfrage nach ihm gefolgt sei und einige Zeit später (!) der Bruder den Drohbrief erhalten habe (AS 89).

Ausgehend vom 22. als dem Tag der Bedrohung ist auch nicht richtig, dass es ein bis zwei Tage vor dem 25. gewesen wäre (AS 90 aE). In der Beschwerde wird dafür der 23. angeführt (AS 167), was aber nicht mit den Angaben des Beschwerdeführers betreffend die Nachfrage nach ihm („Zwei Tage, nachdem ich in Bagdad angekommen war“, AS 91) und den Drohbrief („Am folgenden Tag“) harmoniert, und zwar auch nicht mit der Variante „Ich war einen Tag in Bagdad, als diese Männer […] nach mir fragten“ (AS 91), weil der Beschwerdeführer auch gemäß dem Beschwerdevorbringen erst am Tag nach der Bedrohung nach Bagdad gereist sein will.

2.4.5 Nach all dem kann nicht festgestellt werden, dass es glaubhaft wäre, die Abläufe hätten dem Geschilderten entsprochen, auch ohne noch auf weitere Widersprüche einzugehen wie betreffend die Konsumation der Gäste (Tee, AS 89, versus Kaffee und Shisha, Verhandlung S. 9), den Tod des Vaters (dazu oben 2.2) und die Kenntnis der Telefonnummer des Beschwerdeführers aufseiten der Miliz (Verhandlung S. 10 versus S. 11).

Unter Berücksichtigung all dessen ist es dem Beschwerdeführer wie bereits beim BFA nicht gelungen, substantiiert und nachvollziehbar darzutun, dass ihm im Fall seiner Rückkehr eine Weigerung, die Saraya as-Salam zu unterstützen, vorgeworfen würde, und auch nicht, dass er deshalb bedroht worden wäre.

2.4.6 Die Feststellungen in 1.3.6 und 1.3.8 beruhen auf denen des Länderinformationsblatts und den spezifischen Länderfeststellungen in 1.3.4 wie folgt:

Nach den Feststellungen aus dem Länderinformationsblatt (oben 1.2.1 und 1.2.2) war zu beachten, dass der Beschwerdeführer, wenn er sich wieder in Diyala niederlässt, in einem Gebiet zurechtkommen müsste, das regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt, als die gewalttätigste Region des Irak gilt sowie weiterhin ein Kerngebiet des Daesh ist, der Ende 2019 und Anfang 2020 seinen Fokus nach Muqdadiya und in den Westen der Provinz verlegte, also dahin, wo auch Bakuba liegt.

Auch das BFA räumt im zweiten bekämpften Bescheid ein, dass Diyala ein „bevorzugter Rückzugsort“ versprengter Kämpfer des Daesh sei, weshalb „eine Rückkehr nach Bagdad insgesamt sicherer erscheinen könnte“ (AS 166).

Das Gericht hat daher spezifische Daten zur Lage in Diyala herangezogen, wie in 1.3.4 zitiert, und vermag auf deren Basis keine nachhaltige Verbesserung der Sicherheitslage in dieser Provinz festzustellen. Wenngleich die Zahl der Konfliktvorfälle anscheinend seit 2017 tendenziell zurückging, ist bemerkenswert, dass die Zahlen der Vorfälle insgesamt und

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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