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10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlassfallLeitsatz
Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im AnlassfallSpruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und seine Beschwerde als verspätet zurückgewiesen werden, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Familie und Jugend) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Nach Anzeige der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse (im Folgenden: BUAK) wurde der Beschwerdeführer mit Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 13. Februar 2018 wegen einer Übertretung des §7i Abs5 AVRAG iVm §9 Abs1 VStG bestraft. Der Bescheid wurde an einen Ersatzempfänger am 15. Februar 2018 zugestellt, womit die vierwöchige Beschwerdefrist zu laufen begann.
1.1. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde am 16. März 2018 bei der Behörde eingebracht und von dieser dem Verwaltungsgericht Wien vorgelegt, wo sie am 28. März 2018 einlangte. Wegen des Fehlens eines lesbaren Postaufgabestempels kontaktierte das Verwaltungsgericht Wien die Behörde, welche wiederum die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers zur Bekanntgabe des Aufgabedatums bei der Post aufforderte. In diesem Zusammenhang wies die Behörde auf die Möglichkeit hin, einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Daraufhin beantragte die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §71 AVG unter gleichzeitiger Einbringung des Beschwerdeschriftsatzes bei der Behörde.
1.2. Die Verspätung der Beschwerde wurde dem Beschwerdeführer vom Verwaltungsgericht Wien zur Kenntnis gebracht. Der Beschwerdeführer teilte mit, bei der Behörde einen Wiedereinsetzungsantrag eingebracht zu haben. Das Verwaltungsgericht Wien kontaktierte daher die Behörde und wies darauf hin, dass der Wiedereinsetzungsantrag gemäß §33 VwGVG beim Verwaltungsgericht einzubringen gewesen wäre bzw zuständigkeitshalber an dieses weitergeleitet hätte werden müssen; es liege keine Zuständigkeit der Behörde zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag vor. Daraufhin teilte die Behörde mit, dem Wiedereinsetzungsantrag mit Bescheid vom 20. April 2018 stattgegeben zu haben, und übermittelte diesen sowie den vom Beschwerdeführer gestellten Wiedereinsetzungsantrag. Da der die Wiedereinsetzung bewilligende Bescheid der BUAK als Amtspartei nicht zugestellt worden war, wurde dies von der Behörde nachgeholt. Gegen diesen Bescheid erhob die BUAK Beschwerde wegen Unzuständigkeit der Behörde zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag. Die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers hielt dem entgegen, dass der Wiedereinsetzungsantrag über Aufforderung der Behörde bei dieser eingebracht worden sei und die Behörde nicht darauf hingewiesen habe, dass keine Zuständigkeit mehr bestünde. Es sei keine Verständigung über die Beschwerdevorlage an das Verwaltungsgericht Wien, mit der die Zuständigkeit auf dieses übergehe, erfolgt. Auf Grund des rechtskräftigen Bescheides, mit dem die Wiedereinsetzung bewilligt wurde, sei die Verspätung behoben.
1.3. Das Verwaltungsgericht Wien gab mit Entscheidung vom 15. Jänner 2019 der Beschwerde der BUAK gegen den die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligenden Bescheid statt und behob den Bescheid. Den vom Beschwerdeführer gestellten Wiedereinsetzungsantrag sowie die Beschwerde gegen das Straferkenntnis wies es als verspätet zurück.
2. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
II. Erwägungen
1. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von §33 Abs3 erster Satz und Abs4 VwGVG, BGBl I 33/2013, ein. Mit Erkenntnis vom 6. Oktober 2020, G178/2020, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass die Wortfolge "bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht" in §33 Abs3 erster Satz VwGVG als verfassungswidrig aufgehoben wird.
2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde liegenden Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
3. Die Beschwerde ist zulässig:
3.1. Soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Spruchpunkt II) und gegen die Zurückweisung der Beschwerde (Spruchpunkt III) richtet, ist sie auch begründet:
3.1.1. Das Verwaltungsgericht Wien hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.
Der Beschwerdeführer wurde also durch die angefochtene Entscheidung wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).
3.1.2. Nach der Aufhebung der Wortfolge "bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht" in §33 Abs3 erster Satz VwGVG, BGBl I 33/2013, durch den Verfassungsgerichtshof aus Anlass der vorliegenden Beschwerde ist der Wiedereinsetzungsantrag im Falle der Versäumung einer Handlung – wie im Anlassfall – bei jener Stelle einzubringen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war (vgl §33 Abs3 letzter Satz VwGVG und die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu §71 Abs3 und 4 AVG, VwGH 26.6.1990, 89/05/0235; 3.9.1998, 97/06/0023; 6.10.2011, 2010/06/0006 mwN). Im vorliegenden Fall war somit der Wiedereinsetzungsantrag spätestens gleichzeitig (vgl VwGH 28.9.2011, 2011/04/0164 mwN; VfSlg 7935/1976) mit der Beschwerde – innerhalb von zwei Wochen ab Wegfall des Hindernisses (§33 Abs3 erster Satz VwGVG; vgl VwGH 23.4.2013, 2011/09/0199) – bei der Behörde einzubringen. Die Zuständigkeit über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden, ist abhängig von der Vorlage der Beschwerde zum Zeitpunkt der Antragstellung (§33 Abs4 VwGVG, vgl VwGH 28.9.2016, Ro 2016/16/0013 mit Hinweis auf VfSlg 13.816/1994 sowie VwGH 26.9.2018, Ra 2017/17/0015).
3.2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Aufhebung des die Wiedereinsetzung bewilligenden Bescheides (Spruchpunkt I) richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
3.2.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
3.2.2. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und seine Beschwerde zurückgewiesen werden, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
2. Die Entscheidung ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 bzw §88a Abs1 iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
VfGH / AnlassfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E817.2019Zuletzt aktualisiert am
17.11.2020