TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/21 Ra 2020/18/0305

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A M, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2020, W138 2194783-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zurückgewiesen;

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von
EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kapisa, beantragte am 14. Dezember 2015 - im Alter von 14 Jahren - internationalen Schutz und brachte vor, sein Vater habe ihm aufgrund der schlechten Sicherheitslage in der Heimatprovinz zur Flucht geraten. Bei Rückkehr fürchte er, von den Taliban getötet zu werden.

2        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. April 2018 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß
§ 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

3        Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht. Auch subsidiärer Schutz sei ihm nicht zu gewähren. Der Revisionswerber könne zwar in seine „relativ volatile Herkunftsprovinz“ nicht ungefährdet zurückkehren, ihm stünden aber innerstaatliche Fluchtalternativen in den afghanischen Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung.

4        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG habe im Zusammenhang mit der Entscheidung über den subsidiären Schutz seine Begründungspflicht verletzt und sei insofern von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen. Es habe etwa festgestellt, dass aufgrund der
COVID-19 Pandemie etwa die afghanischen Städte Kabul und Herat abgesperrt bzw. dort lebende Personen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt seien. Außerdem bangten Zehntausende aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung wegen fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten um ihre Existenz. Im Widerspruch dazu habe das BVwG eine Ansiedlung des Revisionswerbers in diesen Städten für nicht existenzbedrohend und zumutbar erachtet.

5        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu I.:

8        Die Revision wendet sich formal zwar gegen das gesamte verwaltungsgerichtliche Erkenntnis, führt im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung von Asyl jedoch keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung an, welche eine Revision zulässig machen würden.

9        Die Revision war daher insoweit gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG zurückzuweisen.

Zu II.:

10       Zulässig und begründet ist die Revision in Bezug auf die Bekämpfung der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden weiteren Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses.

11       Das BVwG verweist den Revisionswerber hinsichtlich seines Begehrens auf subsidiären Schutz auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif.

12       Zu den im Revisionsverfahren strittigen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie führte das BVwG vor allem Folgendes aus (S. 47 f des angefochtenen Erkenntnisses):

„Zudem ist aufgrund der aktuellen und zeitlich begrenzten Situation festzuhalten, dass auch die Ausbreitung des Coronavirus einer Rückkehr nicht entgegensteht. So ist der [Revisionswerber] jung und gesund, insbesondere leidet oder litt er an keinen Atemwegserkrankungen oder anderen chronischen Krankheiten. Er gehört somit nicht zur Risikogruppe der alten oder chronisch kranken Personen. Auch die notorisch bekannten Zahlen der an COVID-19 Erkrankten in Afghanistan ... zeigen aktuell kein für eine Schutzgewährung hinreichend signifikantes Risiko für den [Revisionswerber] auf. Selbst bei einer Infektion ist nämlich aufgrund seines Alters und seiner gesundheitlichen Situation davon auszugehen, dass er diese relativ komplikationslos überstehen wird, zeigen doch die notorisch bekannten Statistiken, dass eine Infektion bei jungen, gesunden Personen in den weitaus meisten Fällen ohne schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen überstanden wird bzw. diese Gruppe selbst bei einer Infektion keine Symptome zeigt. Auch wenn einzelne dieser Personengruppe zwar auch schwer erkranken oder sogar versterben können, besteht nach den derzeit verfügbaren Informationen jedoch jedenfalls keine ‚reale‘ Gefahr hierfür.

Es wird weiter nicht verkannt, dass in Folge der Ausbreitung des COVID-19-Virus in Afghanistan eine weitere Anspannung der Versorgungslage eingetreten ist. Aus den Länderberichten ergibt sich jedoch nicht, dass eine Versorgung mit Nahrung und Wasser, in einem lebensnotwendigen Ausmaß, völlig ausgeschlossen ist. Der [Revisionswerber] verfügt über mehrjährige Schulbildung. Er könnte daher zumindest Hilfstätigkeiten verrichten. ... Der [Revisionswerber] hat realistische Chancen, sich als Hilfsarbeiter am Arbeitsmarkt in Mazar-e Sharif, Kabul oder Herat zu integrieren und dort eine Unterkunft zu finden. Die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe ist notorisch. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der [Revisionswerber] in der Lage sein wird, seine lebensnotwendigen Bedürfnisse bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu befriedigen. ...

Es ist daher nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es dem [Revisionswerber] möglich sein wird eine Unterkunft und Arbeit zu finden und sich ernähren zu können.“

13       Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass das BVwG diese Einschätzung ohne Bezugnahme auf die zuvor getroffenen Länderfeststellungen vornahm, in denen es zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie unter anderem heißt (S. 40 ff des angefochtenen Erkenntnisses):

„Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt ..., wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar. ... Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt. ... Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. ... Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen.

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze ...: Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. ... Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. ...

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an: Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings), Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten. ...

Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich.“

14       Diese Länderfeststellungen lassen insbesondere die pauschale Schlussfolgerung des BVwG, der Revisionswerber habe realistische Chancen, sich als Hilfsarbeiter am Arbeitsmarkt in Mazar-e Sharif, Kabul oder Herat zu integrieren und dort eine Unterkunft zu finden, nicht ohne Weiteres zu. Zu den Städten Kabul und Herat wird in den Länderfeststellungen von einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Arbeitsmöglichkeiten berichtet, auf die das BVwG in seinen Überlegungen mit keinem Wort eingeht. Zu Mazar-e Sharif finden sich keine Länderfeststellungen, die sich mit der aktuellen Lage beschäftigen. Das angefochtene Erkenntnis leidet daher, wie die Revision zutreffend geltend macht, an einem Begründungsmangel, der die nachprüfende Kontrolle der angefochtenen Entscheidung nicht zulässt.

15       Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Revisionswerber auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen wird (§ 11 AsylG 2005), nicht darauf beschränken darf, die reale Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte zu überprüfen, worauf die rechtliche Argumentation des BVwG im angefochtenen Erkenntnis hinauszulaufen scheint. Es wäre vielmehr auch und gesondert die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative in Prüfung zu ziehen (vgl. zu den diesbezüglichen Prüfkriterien insbesondere VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).

16       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17       Von der beantragten mündlichen Verhandlung kann gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18       Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180305.L01

Im RIS seit

30.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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