Entscheidungsdatum
20.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W225 2212175-1/18E
W225 2212170-1/20E
W225 2212179-1/18E
W225 2212177-1/13E
W225 2212176-1/13E
W225 2212172-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Dr. WEIß, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX .1975, 2.) XXXX , geb. XXXX .1980, 3.) XXXX , geb. XXXX .2003, 4.) XXXX , geb. XXXX .2007, 5.) XXXX , geb. XXXX .2008, 6.) XXXX , geb. XXXX .2018, die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer gesetzlich vertreten durch ihren Vater, alle StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2018, 1.) Zl. 1163060604-180482573, 2.) Zl. 1163061100-180482654 3.) Zl. 1163061307-180697260 4.) Zl. 1163061405-180482620, 5.) Zl. 1163061503-180482590, 6.) Zl. 1199451609-180674448, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer zu 1.) (im Folgenden: BF1) und seine Ehefrau, die Beschwerdeführerin zu 2.) (BF2), reisten gemeinsam mit ihren Kindern, den Beschwerdeführern zu, 4.) und 5.) (BF4 und BF 5), in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am XXXX .2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Drittbeschwerdeführer (BF3) reiste alleine in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX .2018 selbst einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Sechstbeschwerdeführer (BF6) kam in Österreich zur Welt und stellte durch seine gesetzliche Vertretung am XXXX .2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2.1. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX .2018 gab der BF1 an, dass er am XXXX in Afghanistan geboren worden sei und die afghanische Staatsbürgerschaft besitze. Er sei Muslim und gehöre der Volksgruppe der Sajad an. Er sei verheiratet und habe fünf Söhne. Er stamme aus der Provinz Helmand, habe neun Jahre die Grundschule besucht und habe als Landwirt und Verkäufer gearbeitet. Er sei aus Afghanistan wegen des andauernden Krieges geflohen. Seine Familie und er hätten keine Sicherheit gehabt und man habe jederzeit getötet werden können. Er sei bedroht worden und ihm sei sein Auto weggenommen worden. Viele Leute seien ohne Grund getötet worden. Es habe in Afghanistan keine Sicherheit geherrscht. Seine beiden Söhne seien seit circa sieben Jahren in Österreich und hätten einen Asylstatus. Er wolle hier gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern leben. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass sie sicherlich umgebracht werden würden.
I.2.2. Die BF2 führte in ihrer Erstbefragung am XXXX .2018 an, dass sie am XXXX 1980 geboren und Muslima sei sowie der Volksgruppe der Sajat angehöre. Sie sei verheiratet, habe keine Schule besucht und keine Berufsausbildung. Sie sei Hausfrau gewesen. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass in Afghanistan Krieg herrsche. Das Leben der Familie sei in Gefahr gewesen. Deshalb sei der Entschluss zur Flucht gefasst worden. Sie wolle in Österreich für sich und ihre beiden Söhne um internationalen Schutz ansuchen. Weitere Fluchtgründe habe sie nicht.
Für die mitgereisten Kinder BF4 und BF5 wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
I.3. Am XXXX 2018 wurde der BF6 als gemeinsamer Sohn des BF1 und der BF2 geboren. Am XXXX .2018 wurde für den BF6 durch dessen gesetzliche Vertretung ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
I.4. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX 2018 gab der BF3 an, dass er am XXXX in Afghanistan, in der Provinz Helmand geboren worden sei und die afghanische Staatsbürgerschaft besitze. Er sei schiitischer Muslim und gehöre der Volksgruppe der Sajid an. Er sei ledig. Er habe zwei Jahre die Grundschule besucht und habe keine Berufsausbildung. Befragt nach den Gründen, die ihn bewogen hätten Afghanistan zu verlassen, gab er an, dass sein Vater dort viele Feinde habe. Der Vater, BF1, sei bedroht worden, weil sie viel Land gehabt hätten. Sie seien in den Iran geflüchtet und seien dann wieder zurückgebracht worden. Deshalb sei von ihnen beschlossen worden zu seinem Bruder nach Österreich zu flüchten. Da seine Familie hier in Österreich lebe, wolle auch er hier um internationalen Schutz ansuchen, bei seiner Familie leben und hier zur Schule gehen.
I.5. Am XXXX .2018 wurden der BF1, die BF2 (auch als gesetzliche Vertreterin für den BF4, BF5 und BF6) und der BF3, von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren BFA) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich und getrennt voneinander einvernommen.
I.5.1. Der BF1 führte dabei aus, dass er der Volksgruppe der Sadat angehöre und schiitischer Moslem sei. Er sei in Afghanistan, in der Provinz Helmand geboren und habe dort, in unterschiedlichen Distrikten gelebt. Er sei verheiratet und habe sechs Kinder. Er habe neun Jahre die Schule in Helmand besucht.
Ihr erstes Problem, weshalb sie aus Afghanistan geflohen seien, habe mit den Grundstücken zu tun. Die Grundstücke habe ihm jemand wegnehmen wollen. Der zweite Grund sei ein Grundstück in der Stadt gewesen. Die Behörden hätten das Grundstück für ein Goldgeschäft (Juwelier) haben wollen. Er habe ein Geschäft gehabt und habe dort jedoch nicht mehr weiterarbeiten können. Die Behörden hätten immer mehr Geld dafür gewollt. Als sein Neffe als Dolmetscher zu arbeiten begonnen habe, seien auch die Probleme bei ihnen immer mehr geworden. In seinem Wohnort hätten den BF1 alle gekannt und alle hätten gewusst, dass sein Neffe als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet habe. Daraufhin hätten die Bewohner gesagt, dass der Neffe ein Spion sei. Der BF1 und seine Familie seien immer mit bösen Blicken angesehen worden. Sie hätten die Amerikaner als Security begleitet, so seien ihre Probleme immer mehr geworden. Als er nicht zu Hause gewesen sei, seien Leute der staatlichen Behörde zu ihnen nach Hause gekommen und hätten die Unterlagen für ihr (Anm. unser) Grundstück verlangt. Das seien ihre Probleme. Im Stadtzentrum hätten die Leute zu ihnen gesagt, dass sie Paschtunen seien, als sie ins Dorf zurückgekehrt seien, hätten die Leute gesagt, dass sie (Anm. wir) Hazara seien. Für seine Ehefrau und seine Kinder sei es nicht möglich gewesen, rauszugehen oder einfach spazieren zu gehen. Er habe Angst gehabt. Er habe seinen Kindern gesagt, dass sie nicht rausgehen sollten. Er habe Angst gehabt, dass sie entführt werden würden und er habe nicht das Geld dazu gehabt ein Lösegeld zu bezahlen. Wenn jemand für die Behörde oder die Amerikaner arbeite, dann bedeute dies, dass die ganze Familie bedroht werde. Sein Cousin habe an der Straße gearbeitet und sei getötet worden. Jemand habe seinen Sohn (Anm. des Cousins) entführen wollen. Der Sohn habe sich dann selber umgebracht. Er (Anm. der BF1) habe eine Wahlkarte. Wenn eine solche Karte von den Taliban gesehen werden würde, würde man von ihnen geschlachtet werden. Viele Leute seien von den Taliban getötet worden.
I.5.2. Die BF2 führte ihrerseits aus, dass sie in Helmand geboren und aufgewachsen sei. Sie gehöre der Volksgruppe der Sadat an und sei sunnitische Muslima. Sie sei verheiratet und habe sechs Kinder. Ihr Ehemann habe das Leben der Familie mit den landwirtschaftlichen Grundstücken finanziert. Ein Kind sei im Iran geboren worden, danach seien sie zurück nach Afghanistan gegangen. Befragt zu ihren Fluchtgründen führt sie aus, dass sie viele Probleme gehabt hätten. Sie hätten keine Möglichkeit gehabt und hätten immer in Angst gelebt. Die Probleme ihres Ehemannes würden auch ihre eigenen sein. Sie könne sich jedoch nicht erinnern.
Ihre Kinder und sie haben keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, sie stützen sich auf die Fluchtgründe ihres Mannes.
I.5.3. Der BF3 gab an, dass er in Zaidan, im Iran geboren worden sei. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Sadat an und sei schiitischer Muslim. Er sei nicht in die Schule gegangen, könne aber lesen. Er sei wegen den Problemen seines Vaters geflohen. Zweimal seien unbekannte Personen in ihr Haus gekommen, als sein Vater nicht zu Hause gewesen sei. Er habe den Personen mitgeteilt, dass er nicht wisse, wo sein Vater sei. Danach hätte sich die Familie entschlossen Afghanistan zu verlassen. Sein Vater sei Landwirt gewesen. Er habe nicht draußen spazieren gehen können. Kinder würden in Afghanistan von Leute entführt werden, die daraufhin von den Eltern Geld verlangen würden. Er habe Angst gehabt, dass ihm das ebenfalls passieren würde. Sein Vater habe ihm gesagt, dass er nicht nach draußen gehen dürfe. Die Personen, die das Grundstück seines Vaters gewollt hätten, hätten auch ihn entführen können.
I.6. Mit den Bescheiden des BFA vom XXXX .2018 bzw. XXXX .2018, zu den im Spruch genannten Zahlen wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde den BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) zugewiesen und ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis XXXX 2019 erteilt (Spruchpunkt III.).
Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde fest, dass die BF eine Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft gemacht hätten. Selbst wenn der Neffe als Dolmetscher tätig gewesen sei, bestehe kein zeitlicher Zusammenhang zur Flucht und bestünde zudem eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif. Das Fluchtvorbringen sei in sich chaotisch vorgebracht gewesen und seien mehrere Punkte angesprochen worden, ohne dass diese von den BF konkretisiert werden konnten. Es habe daher nicht festgestellt werden können, dass die BF einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt gewesen seien, bzw. diese eine solche zukünftig zu befürchten hätten. Eine Rückkehr nach Afghanistan, in eine relativ sichere Stadt wie Mazar-e Sharif sei jedoch zum Zeitpunkt der Bescheiderstellung, aufgrund des aktuellen Gesundheitszustandes der BF2 und eines Sohnes nicht möglich gewesen.
I.7. Die BF erhoben mit Schreiben vom XXXX .2018, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, Beschwerde gegen Spruchpunkt I., an das Bundesverwaltungsgericht. In dieser führten sie begründend aus, dass sie ihre Heimat aufgrund von Grundstückstreitigkeiten verlassen hätten. Einerseits habe der BF1 den Taliban sowie anderseits der Grundstücksmafia ein Entgelt für seine Grundstücke entrichten und mit ihnen zusammenarbeiten müssen. Überdies habe sein Neffe als Dolmetscher für das amerikanische Militär gearbeitet und der BF1 die Amerikaner gelegentlich als Security begleitet. Er zähle laut UNHCR zu einem der Risikoprofile und es drohe ihm zwangsrekrutiert oder bei einer Weigerung bedroht zu werden. Aus Angst vor Verfolgung durch die Taliban hätten die BF Afghanistan verlassen. Darüber hinaus drohe der BF2 bei einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung aufgrund der allgemeinen Diskriminierungslage von Frauen sowie aufgrund der speziellen Lebenssituation als westlich orientierte Frau. Die BF verweisen auf Berichte, wonach sich die Sicherheitslage in Afghanistan nicht verbessert habe. Das Bundesasylamt habe es unterlassen zu wichtigen Teilen des dezidiert vorgebrachten Sachverhalts Ermittlungen durchzuführen und Feststellungen zu treffen. Die Ausführungen der BF seien objektiv nachvollziehbar und würden mit den aktuellen Länderberichten übereinstimmen. Hätte die Behörde ihren Ermittlungspflichten entsprochen und die rechtliche Beurteilung richtig vorgenommen, hätte sie feststellen müssen, dass den BF der Status der Asylberechtigten gemäß §3 AsylG 2005 zustehen würde. Die BF beantragten daher ihren Anträgen auf internationalen Schutz Folge zu geben und ihnen den Status von Asylberechtigen zuzuerkennen sowie eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Das BFA übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht die eingebrachte Beschwerde samt dazugehörigen Verwaltungsakten.
I.8. Mit Schreiben vom XXXX 2019 wurde hinsichtlich des Namens des BF3 eine Beschwerdeberichtigung von der Rechtsvertretung der BF eingebracht.
I.9. Mit Schreiben vom XXXX .2019 wurde von der Rechtsvertretung der BF eine ergänzende Stellungnahme eingebracht. In dieser wurde hervorgehoben, dass der BF1 wegen seiner gelegentlichen Tätigkeit als Security für die Amerikaner und wegen der Tätigkeit seines Neffen als Dolmetscher für die Amerikaner zu einem Risikoprofil zähle. Auch wurde ausgeführt, dass Kinder von UNHCR in den aktuellen Richtlinien unter mehreren Gesichtspunkten als Angehörige von gefährdeten Risikogruppen identifizierten werden würden. Die BF verwiesen auf mehrere Berichte hinsichtlich der Sicherheitslage in Afghanistan. Es sei notorisch, dass die Sicherheitslage in Afghanistan höchst volatil sei und daher eine innerstaatliche Fluchtalternative für die BF weder relevant noch zumutbar sei.
I.10. An der XXXX durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung (in Folge: VP) nahmen der BF1, die BF2 und der BF3 teil. Auch der im Spruch genannte bevollmächtigte Vertreter nahm an der Verhandlung teil.
Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari u.a. zum gesundheitlichen Befinden, der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den persönlichen Verhältnissen und zum Leben in Afghanistan, den Familienangehörigen, den Fluchtgründen und zum Leben in Österreich ausführlich befragt.
Als Beilagen zum Protokoll der mündlichen Verhandlung wurde ein Konvolut an Unterlagen (bzgl. BF1, Beilage ./A: ÖIF Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs, Teilnahmebestätigung am Modul „Polizei und Sicherheit“, Kursbestätigung für Alphabetisierung, Kurseinstufung des ÖIF; Bestätigung des AMS zur Vormerkung zur Arbeitssuche vom 15.10.2019 für BF1; Teilnahmebestätigung von „Interface Wien“ über die Teilnahme des BF1 an einem Deutschkurs Stufe A2.1; Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs betreffend BF2; Teilnahmebestätigung der BF2 an einem Alphabetisierungskurs von „Interface Wien“ seit 12. August 2019; bzgl. BF3 Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs, Zeugnis zur Integrationsprüfung A1, Teilnahmebestätigung am Jugendcollege, Kursbesuchsbestätigung Alphabetisierung; Bestätigungen der Patinnen; Schulbesuchsbestätigung für das Schuljahr 2018/19; Schulbesuchsbestätigung des BF4; Schulbesuchsbestätigung des BF5 für das Schuljahr 2018/19; Auszügen aus dem ZMR; Schulbesuchsbestätigungen vom 14.10.2019 betreffend BF4 und BF5; Beilage A./4 Aufzählung der Geschwister des BF1; Beilage A./5 Skizze einer Wegbeschreibung) der BF genommen.
I.11. Mit Schreiben vom XXXX .2019 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die zwischenzeitlich ergangenen Aktualisierungen zu den Länderinformationen (Stand: 13.11.2019) zum Parteiengehör.
I.12. Mit Schreiben vom XXXX 2019 übermittelte die Rechtsvertretung der BF eine Stellungnahme zum Länderinformationsblatt und führte im Wesentlichen, mit Verweis auf die Richtlinien des UNHCR vom 19.04.2016 und einem Gutachten von Dr. Rasuly zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul aus, dass den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in ihrem Herkunftsstaat nicht zur Verfügung stehe. Zudem sei die BF2 aufgrund ihrer langen Abwesenheit von Afghanistan und ihrer langjährigen Prägung des westlichen Lebensstils, sowie insbesondere durch ihren Aufenthalt in Europa, gefährdet. Westlich orientierte Personen, vor allem Frauen, würden von den Taliban als Feinde angesehen werden.
I.13. Mit Schreiben vom XXXX .2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die zwischenzeitlich ergangenen Aktualisierungen zu den Länderinformationen (Stand: 18.05.2020) sowie diverse Dokumente (EASO Country Guidance: Juni 2019; EASO Bericht Netzwerke: Jänner 2018 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender: Stand 30.08.2018) zum Parteiengehör.
I.14. Mit Schreiben vom XXXX .2020 übermittelte die Rechtsvertretung der BF eine Stellungnahme zu den übermittelten Länderinformationen. In dieser führten sie im Wesentlichen aus, dass die Wirtschaftslage in Afghanistan pandemiebedingt noch schwieriger geworden sei und eine innerstaatliche Fluchtalternative ausscheide. Im Übrigen würden die, in der Beschwerde geltend gemachten Gründe, insbesondere auch hinsichtlich der westlichen Orientierung aufrechterhalten werden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Der BF1 führt den Namen XXXX .
Die BF2 führt den Namen XXXX .
Der BF3 führt den Namen XXXX .
Der BF4 führt den Namen XXXX .
Der BF5 führt den Namen XXXX .
Der B6 führt den Namen XXXX .
Die minderjährigen BF3, BF4, BF5 und BF6 sind die gemeinsamen Kinder des BF1 und der BF2 und haben ihren Familienmittelpunkt im Kreise der Familie.
Die BF1 und der BF2 haben einander traditionell geheiratet.
Die BF1 bis BF6 sind Staatsangehörige von Afghanistan. Der BF1, die BF2, der BF3, der BF4 und der BF5 lebten bis zu ihrer Ausreise in der Provinz Helmand. Dazwischen haben sie auch mehrere Jahre im Iran gelebt, ehe sie wieder nach Afghanistan abgeschoben wurden. Zuletzt waren sie drei Jahre in Afghanistan, in der Provinz Helmand, aufhältig. Der BF6 wurde in Österreich geboren. Sämtliche BF sind schiitischen Bekenntnisses. Die BF gehören der Volksgruppe der Sadat an. Die Muttersprache des BF1 ist Paschtu, er spricht zudem Dari. Die Muttersprache von BF2 bis BF6 ist Dari.
Der BF1 ist in der Provinz Helmand geboren und lebte, unterbrochen durch einen 7-jährigen und einen 2-jährigen Aufenthalt im Iran, bis zu seiner Ausreise in Afghanistan. Der BF1 hat neun Jahre die Grundschule besucht. Der BF1 verfügt über Berufserfahrung als Verkäufer.
Die BF2 ist in der Provinz Helmand geboren, hat sich unterbrochen durch einen 7-jährigen und 2-jährigen Aufenthalt im Iran, bis zu ihrer Ausreise dort aufgehalten. Die BF2 hat keine Schule besucht und verfügt über keine Berufserfahrung.
Es leben noch Verwandte des BF1 und der BF2 in Afghanistan und im Iran. Zwei weitere Söhne des BF1 und der BF2 leben bereits seit mehreren Jahren in Österreich.
Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der BF1 ist gesund. Die BF2 leidet an Diabetes. Die BF3 bis BF6 sind gesund.
Die BF1 bis BF6 sind strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
1.2.1. Der BF1 hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Es gab in Afghanistan zwischen dem BF1 und privaten Personen keinen Streit wegen Grundstücken oder aus anderen Gründen.
Weder dem BF1 noch seinen Kindern BF3 – BF6 drohen bei einer Rückkehr die Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban.
Der BF1 war nicht für die Amerikaner als Security tätig.
Der Neffe des BF1 war als Dolmetscher für die amerikanischen Streitkräfte tätig.
1.2.2. Betreffend eine, vom BF1 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohende, allfällige Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ist festzuhalten, dass er eine solche in Hinblick auf seinen Herkunftsstaat nicht glaubhaft machen konnte. Aus seinem diesbezüglich lediglich allgemein gehaltenen und wenig detailreichen Vorbringen zur Situation der Hazara in Afghanistan, ist eine konkrete, individuelle Betroffenheit seiner Person im Hinblick auf Gewalthandlungen nicht erkennbar. Im Übrigen wird zur allgemeinen Situation der Hazara auf die rechtliche Beurteilung verwiesen (siehe unten, 3.).
1.2.3. Allein aus dem Umstand, dass sich der BF1 sowie seine minderjährigen Söhne BF3 – BF6 zuletzt in Europa aufgehalten haben, kann nicht festgestellt werden, dass die BF in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu erwarten hätten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF1 oder seine minderjährigen Söhne BF3 - BF6 vom Heimatland entwurzelt worden sind und eine Lebensweise angenommen haben, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF1 oder seine minderjährigen Söhne seit ihrer Einreise nach Österreich im Jahr 2018 eine „westliche“ Lebensführung angenommen haben.
1.2.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF2 seit ihrer Einreise nach Österreich, im Mai 2018, eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Die BF2 hat auch keine so intensive „westliche Orientierung“ angenommen, dass deren Aufgabe für die BF2 entweder unmöglich wäre oder ihr einen unzumutbaren Leidensdruck auferlegen würde. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die BF2 hat keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Ihre Lebensführung in Österreich ist nicht zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden, sodass von ihr erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 18.05.2020 (LIB),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
- EASO, Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)
1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.3.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.3.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
1.3.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).
1.3.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).
1.3.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
Menschenrechtsverteidiger werden sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. (LIB, Kapitel 10.)
1.3.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).
1.3.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2.
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
1.3.9. Provinzen und Städte
1.3.9.1. Herkunftsprovinz Helmand:
Helmand liegt im Süden Afghanistans. Die Mehrheit der Einwohner von Helmand sind Paschtunen, mit einer belutschischen Minderheit im Süden an der Grenze zur pakistanischen Provinz Belutschistan und Hazara in Nawamish im Norden. Die Provinz hat 1.420.682 Einwohner (LIB, Kapitel 3.12).
Helmand zählt zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Ein Großteil der Gewalt in Helmand ist auf die Drogenwirtschaft zurückzuführen. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie versuchen terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchzuführen. Die Taliban können auf eine große Anzahl an Unterstützern aus der Bevölkerung zurückgreifen, neben diesen ist auch die Al-Qaida präsent. US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte führten Operationen und Luftangriffe in der Provinz durch. Die Luftangriffe verursachten auch Schäden in der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2018 gab es 880 zivile Opfer (281 Tote und 599 Verletzte) in Helmand. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) und Selbstmord- oder komplexe Angriffe (LIB, Kapitel 3.12).
In der Provinz Helmand reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.3.9.2 Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).
1.3.10 Frauen
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 2.9.2019). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018; vgl. AF 13.12.2017).
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (BFA 4.2018; vgl. AA 2.9.2019), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 2.9.2019).
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (BFA 13.6.2019).
Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (BFA 4.2018; vgl. UNAMA 24.12.2017).
Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018).
Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt Fehler! Textmarke nicht definiert.) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019).
Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018), was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (PAJ 10.12.2018).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 2.9.2019).
Bildung für Mädchen
Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten (HRW 17.10.2017; vgl. KUR 17.12.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 27.5.2019). Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 erhöht und somit verdreifacht. Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).
Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule – Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).
Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt – speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (BFA 13.6.2019).
Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; UNAMA 24.2.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Mittlerweile ist nicht mehr die Schließung von Schulen (wie es während der gewalttätigen Kampagne in den Jahren 2006-2008 der Fall war) Ziel der Aufständischen, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über diese. Die Kontrolle wird durch Vereinbarungen mit den jeweiligen örtlichen Regierungsstellen ausgehandelt und beinhaltet eine regelmäßige Inspektion der Schulen durch die Taliban (AREU 1.2016).
Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041 (AF 13.2.2019; vgl. WB 6.11.2018), also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung – Kankor – ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).
Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).
Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten, aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen – Bamyan und Kunar – sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen (WB 6.11.2018). Beispielsweise gibt es mittlerweile die erste (und einzige) Frau Afghanistans, die einen Doktor in Spielfilmregie und Drehbuch hat – diesen hat sie an einer Akademie in Bratislava abgeschlossen (RY 16.5.2019).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für „Frauen- und Genderstudies“ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018; Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).
Anmerkung: Weitergehende Informationen zum Bildungswesen in Afghanistan können dem Abschnitt „Schulbildung in Afghanistan“ im Unterkapitel Fehler! Textmarke nicht definiert. Kinder entnommen werden.
Berufstätigkeit von Frauen
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 2.9.2019; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019). Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben (WB 4.2019). Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Min