TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/25 W248 2212346-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.06.2020
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Entscheidungsdatum

25.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W248 2212346-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom 04.12.2018, Zl. 17-1175548604/171341784, in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.05.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , geb. XXXX , eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 25.06.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 01.12.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Polizeiinspektion Laa an der Thaya - AGM, am 01.12.2017

gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX , im Distrikt Chaghasara in der afghanischen Provinz Kunar zu stammen. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, 15 Jahre alt und somit am XXXX geboren zu sein sowie afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem zu sein.

Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe nie eine Schule besucht und verfüge über keine Berufsausbildung. Seine Familie habe etwa 3,5 Jahre früher den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen. Sein Onkel väterlicherseits habe die Schleppung nach Europa organisiert. Der Beschwerdeführer sei von seinem Onkel auf der Flucht getrennt worden. Der Onkel befinde sich aktuell in Frankreich. Der Beschwerdeführer stehe mit ihm telefonisch in Kontakt. Den aktuellen Aufenthaltsstatus seines Onkels wisse er nicht. Der Beschwerdeführer habe in Bulgarien um Asyl angesucht und einen negativen Asylbescheid erhalten. Er habe sich seit dem Winter 2016 bis etwa Oktober 2017 in Bulgarien aufgehalten. Die Bedingungen, insbesondere die Hygienebedingungen, seien dort sehr schlecht gewesen. Der Beschwerdeführer habe versucht, zu seinem Onkel nach Frankreich zu gelangen.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass seine Familie aufgrund der Taliban in Gefahr gewesen sei. Die Taliban hätten gedacht, dass der Vater des Beschwerdeführers für das Militär gearbeitet habe. Aus diesem Grund hätten sie geplant, den Vater zu attackieren. Aufgrund der akuten Gefahr durch die Taliban habe die gesamte Familie flüchten müssen. Wo sich seine Kernfamilie aktuell befinde, wisse er nicht.

3. Am 23.12.2017 ereignete sich in der Unterkunft des Beschwerdeführers ein Raufhandel gemäß § 91 StGB zwischen den dort lebenden minderjährigen Jugendlichen. Der Beschwerdeführer wurde als Beschuldigter zum Sachverhalt einvernommen. Er war nicht geständig, an der Schlägerei tätlich teilgenommen zu haben.

Am 29.03.2018 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 91 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck gemäß § 190 Z 2 StPO mangels Schuldnachweis eingestellt.

4.

Mit Email vom 27.03.2018 erklärte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, dass der richtige Nachname des Beschwerdeführers nicht XXXX , sondern XXXX laute. Es habe sich um ein Missverständnis im Zuge der Erstbefragung gehandelt.

Eine Taskira legte der Beschwerdeführer nicht vor.

5. Am 08.03.2018 ereignete sich ein Vorfall, zu welchem der Beschwerdeführer als Beschuldigter einvernommen wurde. Er wurde verdächtigt, einem anderen Mann mit der Faust in die linke Gesichtshälfte geschlagen zu haben.

Am 24.04.2018 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

6. Am 16.04.2018 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 15 iVm § 127 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

7. Am 02.05.2018 ereignete sich ein weiterer Vorfall. Der Beschwerdeführer wurde verdächtigt, in betrunkenem Zustand eine Frau genötigt, unsittlich berührt und gebissen zu haben. Der Beschwerdeführer habe bei der Vernehmung angegeben, sieben große Bier getrunken zu haben und sich an den Vorfall nicht erinnern zu können.

8. Am 09.07.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt. Der Beschwerdeführer gab an, dass er den Dolmetscher in der Erstbefragung nicht gut verstanden habe. Erst nach der Rückübersetzung sei ihm aufgefallen, dass sein Geburtsdatum und auch der Name seines Vaters falsch geschrieben worden seien und dass Geschwister fehlen würden. Der Fluchtgrund sei jedoch richtig übersetzt und protokolliert worden.

Der Beschwerdeführer führte berichtigend aus, dass sein richtiger Nachname XXXX sei. Seine Eltern und seine Geschwister würden sich in Afghanistan befinden, wo genau wisse er jedoch nicht. Der Beschwerdeführer habe drei Brüder: XXXX , sieben Jahre alt, XXXX , fünf Jahre alt, XXXX , 3 Jahre alt und zwei Schwestern: XXXX , acht bis neun Jahre alt und XXXX , 2 Jahre alt. Der Beschwerdeführer sei Analphabet. Er spreche Paschtu und verstehe zudem wenig Farsi. Weiters lebe eine Tante väterlicherseits in Afghanistan, zu welcher jedoch kein Kontakt bestehe. Verwandte mütterlicherseits habe er keine. Sein Onkel väterlicherseits befinde sich in Frankreich. Die Familie habe in Afghanistan ein eigenes Wohnhaus und vier bis fünf Jerib landwirtschaftlich genutzte Grundstücke, Ziegen und Schafe besessen. Sein Vater sei Bauer gewesen und habe die Produkte seiner Landwirtschaft auf dem Markt verkauft. Seit seiner Flucht aus Afghanistan habe er keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. Als er sich in der Türkei befunden habe, habe er einmal Kontakt zu seinem Vater gehabt. Der Beschwerdeführer führte aus, sich nicht um Kontakt zu seiner Familie bemüht zu haben. Er besitze jedoch einen „Facebook“ Account. Sein Mobiltelefon sei in Bulgarien von den Behörden sichergestellt worden. Dort sei er geschlagen und gefoltert worden.

Der Beschwerdeführer sei vor etwa vier oder viereinhalb Jahren aus Afghanistan geflüchtet. Er sei anschließend zu seinem Onkel in die Türkei gereist. Der Beschwerdeführer habe sich sechs oder sieben Monate in der Türkei aufgehalten, etwa zwei Jahre in Bulgarien, weitere sechs oder sieben Monate in Serbien und drei Monate in einem Lager bzw. Gefängnis in Ungarn. In der Türkei habe er für etwa sechs Monate als Autowäscher gearbeitet. Sein Onkel habe die Flucht organisiert und die Kosten in Höhe von ca. 200.000,- bis 250.000,- AFN (etwa EUR 2.500,- bis 3.000,-) bezahlt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass die Taliban mehrmals versucht hätten, seinen Vater und ihn zu rekrutieren. Nachdem sein Vater sich geweigert habe, hätten die Taliban ihn bedroht und Geld geraubt. Sie hätten gedacht, dass sein Vater für die Regierung als Spion arbeiten würde. Seitens der Regierung sei sein Vater hingegen verdächtigt worden, ein Mitglied der Taliban zu sein. Zuletzt hätten die Taliban versucht, den Beschwerdeführer mitzunehmen. Einen konkreten, fluchtauslösenden Vorfall konnte der Beschwerdeführer jedoch nicht angeben. Sein Vater habe den Beschwerdeführer aus Afghanistan zu seinem Onkel in die Türkei geschickt. Anschließend habe der Vater ebenfalls Afghanistan verlassen wollen. Näher zu den Details befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban zu ihm nach Hause gekommen wären und Geld von seinem Vater verlangt hätten. Da dieser seinen Lohn jedoch noch nicht erhalten habe, habe er den Taliban das verlangte Geld nicht geben können. Daraufhin sei sein Vater geschlagen worden. Befragt zum Widerspruch hinsichtlich der Arbeit des Vaters, führte er aus, dass sein Vater in einem Geschäft als Angestellter arbeiten würde. Weiter zu seinem Fluchtvorbringen befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er persönlich von den Taliban bedroht worden sei. Die Taliban hätten ihn ebenfalls aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. In sein Heimatdorf könne er jedenfalls nicht zurückkehren. Er wisse nicht, ob er in anderen Landesteilen persönlich gesucht oder bedroht werden würde, jedoch sei die allgemeine Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet sehr schlecht.

Im Falle einer Rückkehr würde er entweder von den Taliban getötet oder von den Soldaten der Regierung festgenommen werden. Aufgrund seines jungen Alters würde er bei einer Rückkehr nach Afghanistan gefangen genommen oder sexuell missbraucht werden. Er würde jedenfalls als „Europa-Rückkehrer“ erkannt werden.

Befragt zu seinem Gesundheitszustand gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sein und keine Medikamente zu nehmen. Später führte er aus, dass er an Gedächtnisstörungen leide. Er sei nicht psychisch krank. Wenn er unter Stress leide, bekomme er manchmal starke Kopfschmerzen bis hin zur Bewusstlosigkeit.

Der Beschwerdeführer legte eine Bestätigung der Gemeinde Absam vom 28.05.2018 über gemeinnützige Hilfstätigkeit vom 05.03.2018 – 16.03.2018 vor.

9. Mit Schreiben vom 09.07.2018 teilte das BFA dem Beschwerdeführer mit, dass sein Nachname auf XXXX und sein Geburtsdatum auf den XXXX geändert würden.

10. Mit Stellungnahme vom 30.07.2018 gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX , aus dem Distrikt Cheghel-Saray, in der Provinz Kunar, zu stammen. Er wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte aus, Afghanistan aufgrund wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung und Zwangsrekrutierung durch die Taliban verlassen zu haben. Das Fluchtvorbringen sei unter den Konventionsgrund der Verfolgung aufgrund der unterstellten politischen Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männer zu subsumieren. Der Beschwerdeführer verwies auf seine Minderjährigkeit sowie auf die Situation in seiner Heimatprovinz Kunar und die allgemein schlechte Sicherheitslage in Afghanistan. Er verfüge weder über eine Schulausbildung noch über Berufserfahrung und habe keinen Kontakt zu seiner Familie.

Zur vorgeworfenen Straffälligkeit führte der Beschwerdeführer aus, das Unrecht der begangenen Straftat einzusehen und sich dafür zu schämen. Es habe sich um eine Jugendstraftat gehandelt, und der Beschwerdeführer zeige Reue.

11. Mit ergänzender Stellungnahme vom 19.09.2018 übermittelte der Beschwerdeführer einen Neuropädiatrischen Befundbericht der Medizinischen Universität Innsbruck, Universitätsklinik für Pädiatrie vom 13.08.2018, beinhaltend den Verdacht auf unterdurchschnittliche kognitive Leistungsfähigkeit, welche jedoch nicht getestet worden sei, und die Diagnose: grenzwertige Mikrozephalie (zu geringer Kopfumfang). Unter dem Punkt „Procedere“ führten die Ärzte aus, dass die klinisch-neurologische Untersuchung unauffällig gewesen sei. Eine genaue Evaluierung der kognitiven Fähigkeiten könne nur mit einer neuropsychologischen Testung durchgeführt werden. Unterdurchschnittliche Fähigkeiten würden jedoch nicht das erfahrene Trauma in Bulgarien beweisen, sondern könnten bereits von Geburt an vorhanden gewesen sein. Auch die grenzwertige Mikrozephalie könnte kulturell bzw. familiär bedingt sein oder in Zusammenhang mit einer, falls vorhanden, unterdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit stehen.

Weiters wurde auf die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 verwiesen.

12. Mit Urteil vom 25.09.2018, des Landesgerichtes Innsbruck, XXXX , rechtskräftig seit 29.09.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen § 287 StGB iVm § 105 StGB (Nötigung), § 287 StGB iVm § 83 Abs. 2 StGB (Körperverletzung), § 287 StGB iVm § 218 Abs. 1 Z. 1 StGB (sexuelle Belästigung), in Anwendung des § 5 JGG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Monat mit einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Die bisherige Unbescholtenheit und die geständige Verantwortung wären mindernd gewertet worden.

13. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben zu seinen Personaldokumenten und seinem Mobiltelefon jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen worden sei. Es sei ebenfalls unglaubwürdig, dass der Beschwerdeführer nicht zumindest versucht habe, Kontakt zu seiner Kernfamilie aufzunehmen. Betreffend sein Fluchtvorbringen habe der Beschwerdeführer ebenfalls widersprüchliche Angaben gemacht und dadurch sein Vorbringen gesteigert, zumal er erst in der Einvernahme von einer persönlichen Bedrohung durch die Taliban berichtet habe. Der Beschwerdeführer habe zudem die inhaltlichen Widersprüche nicht erklären bzw. auflösen können. Ein weiterer wesentlicher Widerspruch würde sich aus der Gesamtschau des Fluchtvorbringens ergeben, zumal der Beschwerdeführer behauptet habe, sein Vater sei von der Nationalarmee bzw. der Regierung beschuldigt worden, ein Mitglied der Taliban zu sein. Mehrfach habe der Beschwerdeführer jedoch wiederholt, dass es in seiner Heimatregion gar keine Präsenz der Regierung gegeben hätte. Zur Furcht vor sexuellem Missbrauch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer nicht mehr zur besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe gehöre, zumal er gemäß den Länderinformationen zu alt bzw. zu reif für einen „Tanzjungen“ sei. Der Beschwerdeführer sei sohin nicht im Stande gewesen, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft darzulegen. Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seine Herkunftsprovinz Kunar aufgrund der volatilen Lage nicht zurückkehren könne. Als innerstaatliche Fluchtalternativen würden ihm jedoch die Städte Herat und Mazar-e Sharif zu Verfügung stehen. In beiden Städten könne der Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen, zu Wohnraum und zu staatlichem Schutz im Wesentlichen als garantiert angesehen werden. Der Beschwerdeführer gehöre zur Volksgruppe der Paschtunen, die eine Großfamilien- und Clanstruktur und ein starkes Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl aufweisen. Durch die Verschleierung seiner Verwandtschaftsverhältnisse sei es sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer verwandtschaftliche und damit soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan habe. Der Beschwerdeführer sei beinahe volljährig und habe seit seiner Ausreise aus Afghanistan wichtige Lebenserfahrung gesammelt. Er werde sein Leben in Afghanistan eigenverantwortlich führen und für seinen Lebensunterhalt selbständig aufkommen können. Besondere, risikoerhöhende Merkmale hätten nicht festgestellt werden können.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 10.12.2018 zugestellt.

14. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 04.12.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

15. Mit Schreiben vom 04.01.2019 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen substantiiert und glaubhaft vorgebracht habe. Er wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte aus, dass er aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männern sowie aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie eine asylrelevante Verfolgung zu befürchten habe. Die Behörde habe den Sachverhalt mangelhaft ermittelt und insbesondere den vorgelegten Neuropädiatrischen Befundbericht vom 13.08.2018, wonach beim Beschwerdeführer der Verdacht auf eine unterdurchschnittliche kognitive Leistungsfähigkeit bestehe und eine grenzwertige Mikrozephalie vorhanden sei, gänzlich unberücksichtigt gelassen. Durch diese Diagnose sei die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers beeinträchtigt und somit seine Selbsterhaltungsfähigkeit stark eingeschränkt. Die Glaubwürdigkeit sei dem Beschwerdeführer ohne plausible und nachvollziehbare Erklärung aberkannt worden und basiere auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer habe bereits in der Erstbefragung die drohende Gefahr der Taliban gegen ihn persönlich vorgebracht, sodass von keiner Steigerung seines Vorbringens ausgegangen werden könne. Insbesondere müsse berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer bei seiner Flucht erst 13 Jahre alt gewesen sei.

Dem Beschwerdeführer wäre jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, zumal eine innerstaatliche Fluchtalternative aus subjektiven Gründen nicht zumutbar wäre. Er sei Analphabet, verfüge über keine Schulbildung oder Berufsausbildung und kenne, mit Ausnahme seins Herkunftsdorfes, das Land Afghanistan nicht. Durch die zusätzliche kognitive Einschränkung des Beschwerdeführers könne er jedenfalls nicht selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Da er seit vier Jahren keinen Kontakt zu seiner Familie habe, könne er auch nicht mit finanzieller Hilfestellung rechnen. Die Ausführungen der belangten Behörde hinsichtlich der Städte Herat und Mazar-e Sharif würden einander widersprechen, da angeführt werde, dass beide Städte für eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stünden, obwohl in beiden Städten die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei. Aufgrund der individuellen Umstände des Beschwerdeführers könne im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verletzung von Art. 2 bzw. 3 EMR nicht ausgeschlossen werden. Der Beschwerdeführer verfüge weder in Herat noch in Mazar-e Sharif über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte. Der Beschwerdeführer verwies weiters auf unterschiedliche Berichte betreffend die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungslage und der Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul sowie auf die UNHCR-Richtlinien und auf diverse Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes.

16. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 08.01.2019 mit Vorlageschreiben vom 07.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

17. Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 26.02.2019, XXXX , rechtskräftig seit 02.03.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen mehreren Handlungen wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG, § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall SMG, § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG, unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 25.09.2018, nach § 27 Abs. 2a SMG in Anwendung der §§ 28, 37 StGB und § 5 JGG zu einer (Zusatz)- Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes wurde mit EUR 4,- bestimmt, sodass die Zusatzgeldstrafe insgesamt EUR 360,- beträgt. Gemäß § 43a Abs. 1 StGB wurden zwei Drittel der verhängten Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Der unbedingte Teil der Zusatzgeldstrafe beträgt somit EUR 120,-.

Die Unbescholtenheit und die großteils geständige Verantwortung seien mildernd gewertet worden. Erschwerend seien das Zusammentreffen von vier Vergehen und die Wiederholung von drei Vergehenstatbeständen gewertet worden.

18. Am 11.04.2019 wurde der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Seefeld in Tirol vom 07.04.2019 übermittelt. Am 01.11.2018 ereignete sich ein Raufhandel, zu welchem der Beschwerdeführer als Beschuldigter einvernommen worden sei. Alle Beteiligten wären geständig gewesen, bei dem Raufhandel teilgenommen zu haben.

19. Am 25.05.2019 wurde der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Ötz vom 23.05.2019 übermittelt. Am 21.01.2019 sei es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft gekommen, zu welchem der Beschwerdeführer als Beschuldigter einvernommen worden sei. Alle Beteiligten wären geständig gewesen, bei dem Raufhandel teilgenommen zu haben.

20. Am 13.11.2019 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

21. Am 21.02.2020 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

22. Am 28.05.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Paschto statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Befragt zu seinem Gesundheitszustand führte der Beschwerdeführer aus, psychisch und physisch in der Lage zu sein der mündlichen Verhandlung zu folgen. Er habe eine alte Verletzung auf der linken Seite seines Kopfes. Medikamente nehme er keine. Betreffend seine vorgebrachte unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit gab der Beschwerdeführer an, sich nicht lange konzentrieren zu können und bereits Gelerntes schnell wieder zu vergessen. Befragt, wie sich seine möglicherweise unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit konkret äußern würde, führte er aus, schnell ungeduldig zu werden, wenn er länger spreche, einen starken Druck zu verspüren und sich nicht kontrollieren zu können. Obwohl die diesbezüglichen Probleme seit dem Jahr 2018 bekannt sind, wurde keine Untersuchung betreffend den Verdacht auf unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit durchgeführt.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, körperlich arbeitsfähig zu sein sowie, dass er gerne arbeiten würde. Er gab weiters an, eine unverbindliche Arbeitszusage bei einer McDonalds-Filiale in Tirol erhalten zu haben. Er könne sich vorstellen, dort den Müll aufzuräumen oder in der Küche zu arbeiten. Weiters könne er sich vorstellen, auf einer Baustelle zu arbeiten sowie Reinigung- oder Hilfstätigkeiten zu erledigen. In Bulgarien habe er in einer Kaugummifabrik gearbeitet und dort Kaugummis verpackt. Dass er in der Türkei als Autowäscher gearbeitet habe, wie es in der Einvernahme vor dem BFA protokolliert wurde, bestritt der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, wiederholte der Beschwerdeführer, aufgrund der Bedrohung durch die Taliban Afghanistan verlassen zu haben. Im Gegensatz zu seinen Angaben aus der Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer nun an, dass die Taliban nur ihn rekrutieren wollten und sein Vater nicht in Gefahr gewesen sei. Als die Taliban zu ihm nach Hause gekommen wären, hätten sie von seinem Vater verlangt, dass er den Beschwerdeführer in eine Koranschule schicken müsse. Dies sei jedoch nur ein Vorwand, um junge Buben zu rekrutieren, damit sie im Krieg kämpfen. Die Taliban wären mehrere Male gekommen und hätten auf den Vater Druck ausgeübt. Daraufhin habe sich der Vater an den Onkel des Beschwerdeführers gewandt, welcher in der Türkei lebt, und die Flucht des Beschwerdeführers organisiert.

Der Beschwerdeführer wiederholte mehrmals, zu seiner Familie keinen Kontakt zu haben. Über „Facebook“ habe er lediglich seinen Onkel gefunden und ihn kontaktiert, dieser würde ihm jedoch nicht antworten. Der Beschwerdeführer habe ebenfalls über das Internet versucht, seine Familienmitglieder zu finden.

Befragt zu seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gab der Beschwerdeführer an, nicht zu wissen, was er in Afghanistan machen sollte. Er habe in Afghanistan keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte, sodass die Gefahr bestehe, von der afghanischen Bevölkerung oder den Taliban ausgenützt zu werden.

In der mündlichen Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer eine Frist zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme sowie eine weitere, längere Frist zur Vorlage allfälliger medizinischer Unterlagen eingeräumt.

23. Mit Stellungnahme vom 04.06.2020 verwies der Beschwerdeführer auf sein bisheriges Vorbringen, insbesondere darauf, dass er aufgrund unterstellter politischer bzw. religiöser Gesinnung im Falle einer Rückkehr von den Taliban verfolgt werden würde, zumal er sich bereits geweigert habe, sich ihnen anzuschließen. Er sei weiters von einer möglichen Zwangsrekrutierung durch die Taliban bedroht. Aufgrund einer landesweiten Bedrohung durch die Taliban stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Betreffend die vom BFA ermittelten innerstaatlichen Fluchtalternativen Mazar-e Sharif und Herat führte der Beschwerdeführer aus, dass Afghanistan von der aktuellen weltweiten Covid-19 Pandemie besonders schwer betroffen sei. Die aktuellen Fallzahlen hätten sich in den letzten Wochen massiv erhöht. Da Afghanistan nur eine geringe Testkapazität gewährleisten könne, sei von einer viel höheren Dunkelziffer an infizierten Personen sowie davon auszugehen, dass sich etwa 50% der afghanischen Bevölkerung mit dem Covid-19 Virus infizieren werden. Die afghanische Regierung habe sämtliche Großstädte unter einen „Lockdown“ gestellt. Am stärksten von diesen Maßnahmen betroffen wären die Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh. Der „Lockdown“ sei am 21.05.2020 weiter verlängert worden. Die wirtschaftlichen Folgen aufgrund der Covid-19 Pandemie wären insbesondere für Tagelöhner fatal, zumal die Nachfrage an ungelernten Tagelöhnern eingebrochen sei. Weiters wären die Lebensmittelpreise um bis zu 19% gestiegen.

Der Beschwerdeführer verwies in Bezug auf die Stadt Herat auf die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020 und führte aus, dass die Stadt Herat vom Flughafen aus nicht sicher erreichbar sei. In der Stadt Herat sei es insbesondere Ende 2019 bzw. Anfang 2020 zu einem massiven Anstieg an krimineller Gewalt gekommen. Zudem sei der Zugang zur Grundversorgung sehr eingeschränkt. Aufgrund der örtlichen Nähe zum Iran sei Herat eine der am stärksten von Covid-19 betroffenen Provinzen Afghanistans.

In Bezug auf die Stadt Mazar-e Sharif verwies der Beschwerdeführer auf die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020 und führte aus, das der gesamte Binnenflugverkehr in Afghanistan eingestellt sei, sodass der Flughafen Mazar-e Sharif nicht erreichbar sei. Ende 2019 sei es auch in Mazar- e Sharif zu einem Anstieg aufständischer Aktivitäten gekommen, sodass festgestellt werden könne, dass sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren verschlechtert habe. Insbesondere Rückkehrer aus Europa seien mit Problemen konfrontiert, da ebenfalls der Zugang zum Arbeitsmarkt beschränkt sei.

Der Beschwerdeführer verwies weiters auf die Folgeerscheinungen seiner Kopfverletzung. Er leide an starken Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen, sodass seine Arbeitsfähigkeit massiv eingeschränkt sei.

24. Mit Eingabe vom 11.06.2020 übermittelte der Beschwerdeführer einen Entlassungsbericht des LKH Hall vom 15.01.2020, welcher jedoch nicht leserlich übermittelt wurde. Daraus könne entnommen werden, dass beim Beschwerdeführer ein Verdacht auf Migräne und Gastroenteritis bestehe. Es sei empfohlen worden, bei Wiederauftreten der Beschwerden neurologisch vorstellig zu werden. Gemäß den Angaben des Beschwerdeführers leide er nach wie vor an diesen Beschwerden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Stellungnahmen, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 mit letzter Kurzinformation vom 18.05.2020, die EASO Country Guidance Afghanistan vom Juni 2019, das Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016), die UNHCR-Richtlinien Afghanistan vom 30.08.2018, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, die ACCORD–Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018, das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, den EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19 sowie die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/daily_brief_covid-19_21_june_2020. pdf (21.06.2020: 28.833 Erkrankte; 581 Tote), werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschto. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Kunar, im Distrikt Asadabad (wird auch Chaghasarai genannt), im Dorf XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern, seinen drei jüngeren Brüdern und seinen zwei jüngeren Schwestern auf.

Ob der Beschwerdeführer Analphabet ist und nie eine Schule besuchte, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Er verfügt über Arbeitserfahrung als Hilfsarbeiter in einer Kaugummifabrik. Ob der Beschwerdeführer über weitere Arbeitserfahrung verfügt, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Beim Beschwerdeführer wurde eine grenzwertige Mikrozephalie (zu geringer Kopfumfang) festgestellt. Diese könnte kulturell bzw. familiär bedingt sein.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist nicht unbescholten.

Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 25.09.2018, XXXX , rechtskräftig seit 29.09.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen § 287 StGB iVm § 105 StGB (Nötigung), § 287 StGB iVm § 83 Abs. 2 StGB (Körperverletzung), § 287 StGB iVm § 218 Abs. 1 Z. 1 StGB (sexuelle Belästigung), in Anwendung des § 5 JGG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Monat mit einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 26.02.2019, XXXX , rechtskräftig seit 02.03.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen mehreren Handlungen wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG, § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall SMG, § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG, unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 25.09.2018, nach § 27 Abs. 2a SMG in Anwendung der §§ 28, 37 StGB und § 5 JGG zu einer (Zusatz)- Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes wurde mit EUR 4,- bestimmt sodass die Zusatzgeldstrafe insgesamt EUR 360,- beträgt. Gemäß § 43a Abs. 1 StGB wurden zwei Drittel der verhängten Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Der unbedingte Teil der Zusatzgeldstrafe beträgt somit EUR 120,-.

Am 29.03.2018 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 91 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck gemäß § 190 Z 2 StPO mangels Schuldnachweis eingestellt.

Am 16.04.2018 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 15 iVm § 127 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

Am 24.04.2018 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

Am 13.11.2019 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

Am 21.02.2020 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt.

Am 11.04.2019 wurde der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Seefeld in Tirol vom 07.04.2019 übermittelt. Am 01.11.2018 ereignete sich ein Raufhandel, zu welchem der Beschwerdeführer als Beschuldigter einvernommen wurde. Alle Beteiligten waren geständig, an dem Raufhandel teilgenommen zu haben. Ob dieses Ermittlungsverfahren bereits eingestellt ist, kann nicht festgestellt werden.

Am 25.05.2019 wurde der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Ötz vom 23.05.2019 übermittelt. Am 21.01.2019 ist es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft gekommen, zu welcher der Beschwerdeführer als Beschuldigter einvernommen wurde. Alle Beteiligten waren geständig, bei dem Raufhandel teilgenommen zu haben. Ob dieses Ermittlungsverfahren bereits eingestellt ist, kann nicht festgestellt werden.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Ob die Taliban den Beschwerdeführer zwangsrekrutieren wollten, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer berichtete von keiner Situation, wonach er in Afghanistan jemals von Taliban persönlich bedroht worden wäre.

Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan mit etwa 13 Jahren und reiste schlepperunterstützt nach Europa. Seine Reise nach Österreich dauerte etwa dreieinhalb Jahre. Der Beschwerdeführer hielt sich mehrere Monate in der Türkei und in Serbien und etwa zwei Jahre in Bulgarien auf.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit zweieinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 01.12.2017 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine Deutschkenntnisse. Er besuchte keinen Alphabetisierungs- oder andere Integrationskurse.

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindlichen Arbeitszusagen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Verwandte noch sonstige Bezugspersonen, mit denen er einen gemeinsamen Wohnsitz hat oder hinsichtlich derer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückführung nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr, insbesondere durch Zwangsrekrutierung betroffen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer kann daher grundsätzlich nach Afghanistan zurückkehren. In seiner Herkunftsprovinz Kunar ist die allgemeine Sicherheitslage volatil. Die „bloße Präsenz“ in dem Gebiet reicht nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden festzustellen. Es wird jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, sodass eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz für den Beschwerdeführer nicht zumutbar ist.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan stehen dem Beschwerdeführer grundsätzlich die Großstädte Herat und Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundsätzlich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten.

Obwohl es in der Stadt Herat zu einem Anstieg der Kriminalität gekommen ist und sich die Sicherheitslage in Mazar-e Sharif aufgrund des Anstieges aufständischer Aktivitäten verschlechtert hat, zählen diese Städte zu den sicheren Gebieten in Afghanistan.

Es ist dem Beschwerdeführer daher grundsätzlich möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer hat familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Ob der Beschwerdeführer Kontakt zu seinen Eltern hat, kann nicht festgestellt werden. Es kann daher ebenfalls nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen kann.

Der Beschwerdeführer verfügt zudem über weitere Verwandte in Afghanistan.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer derzeit – zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht - eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Es ist dem Beschwerdeführer derzeit, aufgrund der Covid-19 Pandemie, nicht möglich, in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Die angeführten Städte verfügen zwar jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese Städte weitgehend gefahrlos erfolgen könnte, jedoch ist die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die Covid-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit stark eingeschränkt. Ein Trend zur Normalisierung der globalen Reisefreiheit ist derzeit nicht erkennbar.

Zudem bestehen in diesen Städten derzeit auch pandemiebedingte Ausgangsbeschränkungen und damit zusammenhängend kaum Möglichkeiten für einen Afghanen, der in Mazar-e Sharif oder Herat weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügt, Arbeit und/oder Unterkunft zu finden. Beides ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

Aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise können die Grundbedürfnisse derzeit in Afghanistan im Falle einer Rückkehr für den Beschwerdeführer nicht sichergestellt werden.

Die aktuellen Fallzahlen haben sich in den letzten Wochen massiv erhöht, wobei diesen aufgrund der geringen Testkapazitäten keine allzu hohe Aussagekraft beigemessen werden kann. Vielmehr ist von einer sehr hohen Dunkelziffer an sowohl mit dem Covid-19 Virus infizierten Personen sowie bereits daran Verstorbenen auszugehen.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation hinsichtlich einer großen Anzahl afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, welche großteils in den afghanischen Städten siedeln, wäre die Versorgung des Beschwerdeführers derzeit überall in Afghanistan, insbesondere ohne familiäre oder sonstige Unterstützung vor Ort, nicht gewährleistet, sodass eine Rückkehr nach Afghanistan aktuell nicht zumutbar ist.

Obwohl der Beschwerdeführer nicht zur Risikogruppe der Covid-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw. Menschen mit gewissen Vorerkrankungen) zählt, kann für den Beschwerdeführer Lebensgefahr nicht ausgeschlossen werden, zumal auch junge und derzeit gesunde Menschen aufgrund einer Infektion mit dem Covid-19 Virus sterben könnten. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan sind insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung, aufgrund der nunmehr angespannten Situation und der steigenden Preise von Lebensmittel nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 18.05.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und

-        Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016)

-        ACCORD–Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018,

-        ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

-        EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie

-        die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/ files/resources/daily_brief_covid-19_21_june_2020.pdf (21.06.2020: 28.833 Erkrankte; 581 Tote)

-        

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).

Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).

2.5.2   Präsidentschaftswahl:

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten. Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil. Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (LIB 13.11.2019).

Die Unabhängige Afghanische Wahlkommission (IEC) verkündete am 18.02.2020, fast fünf Monate nach der Stimmabgabe, dass der Amtsinhaber Ashraf Ghani die Wahl zum Staatspräsidenten knapp gewonnen habe. Nach Angaben der IEC habe Ghani 50,64% der gültigen Stimmen erhalten, sein Hauptkontrahent in der Wahl und gegenwärtiger Regierungspartner (als CEO), Abdullah Abdullah, nur 39,52%. Alle anderen Kandidaten seien mit weniger als fünf Prozent weit abgeschlagen. Von knapp 9,7 Millionen Wahlberechtigten (die Bevölkerung Afghanistans wird auf 27 bis 32 Millionen geschätzt) konnten laut IEC nur gut 1,8 Millionen gültige Stimmen gewertet werden. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich rund 18%. Abdullah will das Wahlergebnis nicht akzeptieren und erklärte sich zum Sieger, verbunden mit der Ankündigung, eine Gegenregierung aufzustellen. Auch andere Kandidaten und Politiker wie Golbuddin Hekmatyar oder Abdul Rashid Dostum kritisierten die Wahlen und deren Ergebnis (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 24.02.2020).

Sowohl GHANI als auch ABDULLAH ließen sich beide als Präsident Afghanistans vereidigen, ABDULLAH jedoch inoffiziell (BBC News 09.03.2020).

2.5.3   Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:

Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.

Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.

Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorrübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).

2.5.4   Sicherheitslage im Zeitraum 3. Quartal 2019:

Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:

Provinz

Anzahl Vorfälle

Anzahl Vorfälle mit Todesopfern

Anzahl Todesopfer

Badakhshan

104

54

592

Badghis

95

66

582

Baghlan

131

54

507

Balkh

219

102

852

Bamyan

11

0

0

Daykundi

14

5

84

Farah

136

76

626

Faryab

192

122

1.027

Ghazni

491

276

1.742

Ghor

62

37

315

Helmand

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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