TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/29 W122 2184594-1

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Entscheidungsdatum

29.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W122 2184594-1/28E

W122 2184595-1/27E

W122 2184588-1/24E

W122 2184591-1/24E
W122 2184592-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , 4. XXXX , geb. XXXX und 5. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, alle vertreten durch Verein ZEIGE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2018, Zahlen 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX , 4. XXXX und 5. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2019 und am 21.10.2019, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden werden hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte II. bis VI. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 29.06.2021 erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet; sie sind Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am 16.01.2016 nach illegaler Einreise für sich selbst sowie für die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und die minderjährige Viertbeschwerdeführer die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Ebenso stellte der mitgereiste minderjährige Bruder des Erstbeschwerdeführers zusammen mit den oben genannten Personen einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 17.01.2016 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin begründeten die Ausreise aus dem Herkunftsstaat im Wesentlichen damit, dass der Erstbeschwerdeführer in Afghanistan als Techniker für eine Militärakademie tätig gewesen sei. Nachdem die Dorfbewohner verlangt hätten, dass er etwas in die Akademie hineinschmuggeln solle, habe er sich geweigert. Durch den Verkauf des Hauses und des Autos sei die Ausreise finanziert worden. Im Falle einer Rückkehr hätten die Beschwerdeführer Angst um ihr Leben. Für die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und die minderjährige Viertbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

3. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin geboren. Für sie wurde am 26.08.2016 ein Asylantrag im Familienverfahren gestellt.

4. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 30.10.2017 wurde dem Erstbeschwerdeführer die Obsorge für seinen mitgereisten minderjährigen Bruder übertragen.

5. Am 19.12.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er Dari und Farsi spreche und er bereits einen Deutschkurs besucht habe, wobei er einen A2-Abschluss habe und er im Moment den B2-Kurs mache. Er sei gesund und legte zahlreiche Integrationsunterlagen sowie Unterlagen zu seiner Tätigkeit in Afghanistan vor. In Afghanistan würden sich noch seine Mutter und seine verheirateten Schwestern aufhalten, wobei er mit seiner Mutter noch in Kontakt sei. Er selbst sei tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und Moslem, sunnitischer Glaubensrichtung. In seinem Heimatland werde er weder von staatlicher Seite gesucht noch bestünde ein Haftbefehl gegen ihn. Auch sei er weder politisch tätig gewesen noch Mitglied in einer politischen Partei gewesen. Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Religionszugehörigkeit oder mit Privatpersonen habe er ebenfalls nicht. Er habe sein Heimatland verlassen, weil er für eine Firma gearbeitet habe, die Zugang zu militärischen Einrichtungen gehabt habe. Eines Abends seien unbekannte Personen einer Gruppierung in sein Auto eingestiegen und hätten vom Erstbeschwerdeführer verlangt, dass er dorthin Sprengstoff schmuggeln hätte sollen. Fünf Tage später habe er am Abend – wie es in Afghanistan üblich sei – Autostopper mitgenommen. Die Personen hätten ihm aber gedroht, dass er sich entscheiden solle, ob er den Sprengstoff in die Anlage bringe, weil ihm sonst etwas angetan werde. Etwa eine Woche später habe er das Auto in der Werkstatt stehenlassen müssen, sodass er mit dem Sammeltaxi nach Hause gefahren sei. Er habe allerdings noch über einen Feldweg gehen müssen, wo ihm aufgelauert worden sei. Er sei von vier Personen bedroht worden, die ihn auch geschlagen und leicht verletzt hätten. Nach diesem Vorfall habe er den Entschluss gefasst sein Heimatland zu verlassen. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Mittlerweile wäre die Familie aufgrund ihres Aufenthalts in Europa auch aufgrund der Eigenschaft als Rückkehrer gefährdet. Ein Leben in einer anderen Provinz außerhalb Kabuls könne er sich nicht vorstellen, insbesondere, weil seine Töchter dort nicht zu Schule gehen könnten oder diese dort belästigt werden würden.

In Österreich sei er auch gemeinnützig tätig geworden und habe den Staplerschein gemacht, weil in Afghanistan die nötigen Vorkenntnisse hierzu erworben habe. Seine Schwester würde in der Nähe von Graz leben, wobei er aber nicht wisse, welchen aufenthaltsrechtlichen Status diese in Österreich habe. Er habe in Afghanistan im Bereich der Elektrik gearbeitet und diesbezüglich auch die nötige Berufsausbildung gemacht. Die Firma sei eine amerikanische gewesen, die Elektrikerarbeiten für die afghanischen Nationalarmee und die Polizei in ganz Afghanistan durchgeführt habe. So sei auch der Erstbeschwerdeführer in zahlreiche Militäranlagen geschickt worden, um dort die notwendigen Reparaturen durchzuführen. Es habe Zugangskontrollen gegeben, jedoch sei der Erstbeschwerdeführer schon so bekannt gewesen, dass er nicht mehr kontrolliert worden sei.

Etwa zwei bis zweieinhalb Monate vor seiner Ausreise sei er das erste Mal von drei Personen angesprochen worden, ob er nicht Sprengstoff in die Militäreinrichtung schmuggeln würde. Beim zweiten Mal hätte man ihm bereits gedroht, dass man ihm etwas antun werde und beim dritten Vorfall sei er bereits geschlagen worden und ihm auch gesagt worden, dass seiner Familie etwas passieren werde. Diese Personen seinen gut informierte Regierungsgegner gewesen. Man habe ihn jedoch nur allgemein gefragt, ob er den Sprengstoff schmuggeln würde und ihm sonst keine Details erörtert.

Die erlittenen Verletzungen habe er im Krankenhaus behandeln lassen. Seiner Ehefrau habe er nicht allzu viel davon erzählt, weil sie damals schwanger gewesen sei. Sie sei aber mit der Ausreise aus Afghanistan einverstanden gewesen. Die Firma habe er diesbezüglich nicht kontaktiert, weil diese misstrauisch geworden wäre und andere Mitarbeiter auch Probleme bekommen hätten. Viele Mitarbeiter seien nach Amerika gegangen, aber wenn es einfach gewesen wäre, dann hätte er nicht illegal ausreisen müssen.

Sein Bruder sei nicht bedroht worden. Er sei für ihn aber wie ein Sohn, weshalb er diesen auch mitgenommen habe. Nach den Drohungen sei er nicht mehr zu dieser Firma gegangen. Auf die Frage, warum er dann in Afghanistan überhaupt noch bedroht werden hätte sollen, führte der BF aus, dass er aufgrund seines Aufenthaltes in Europa als Rückkehrer getötet werden würde.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, dass sie in Kabul, wo sie zehn Jahre lang in die Schule gegangen sei, aufgewachsen sei. Sie habe keinen Beruf erlernt und sich nach der Hochzeit, um den Haushalt gekümmert. Ihre Verwandten würden noch in Kabul leben. Sie sei tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Ihr Zielland sei eigentlich Deutschland gewesen, aber da die Familie bereits hier gut behandelt worden sei, habe sie in Österreich einen Asylantrag gestellt. Zu ihren Fluchtgründen befragt, führte die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen aus, dass ihr Mann für eine amerikanische Firma als Techniker gearbeitet habe und es diesbezüglich zu Problemen gekommen sei. Aufgrund ihrer Schwangerschaft habe ihr der Erstbeschwerdeführer nicht viel von den Problemen erzählt. Er sei bedroht und geschlagen worden, wobei er auch an der Hand und im Gesicht verletzt gewesen sei. Leute hätten gewollt, dass er Sprengstoff in die Firma schmuggle. Über die Tätigkeit ihres Mannes könne sie wenig sagen. Er sei für Generatoren zuständig gewesen, die sich in verschiedenen militärischen Einrichtungen befunden hätten. Da ihr Mann ihr anfangs nichts über seine Probleme gesagt habe, gehe sie davon aus, dass er bereits mehrmals bedroht worden sei. Nachdem er verletzt nach Hause gekommen sei, habe die Familie zwei Wochen später das Land verlassen. Sie habe anfangs von ihrem Mann nur erfahren, dass er seit zwei oder zweieinhalb Monaten bedroht werde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative habe es nicht gegeben, zumal Kabul bereits ein relativ sicherer Ort in Afghanistan sei. An Afghanistan habe sie keine guten Erinnerungen, weil die Sicherheitslage schlecht und es insbesondere für Frauen sehr gefährlich sei, wenn diese alleine nach draußen gehen. Der jüngste Bruder ihres Mannes sei mitgekommen, weil sich ihr Mann um diesen sehr gekümmert habe.

In Österreich sei das Leben einfacher, weil man hier auch Freunde des jeweils anderen Geschlechts haben könne, alleine einkaufen gehen könne oder die Kleidung tragen könne, die man wolle. Das Kopftuch habe sie in Österreich auch ziemlich bald abgelegt.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte ebenso vor, dass die minderjährigen Dritt-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen keine eigene Fluchtgründe hätten.

6. Mit oben genannten Bescheiden vom 04.01.“2017“ (gemeint offensichtlich: 2018) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers nicht glaubwürdig gewesen sei. Neben den blassen und vagen Schilderungen sei es nicht nachvollziehbar gewesen, dass dieser trotz den Verletzungen in die Arbeit gegangen sei und sich dieser, ob der Vorfälle, nicht an seine Firma gewandt habe, zumal der Erstbeschwerdeführer seinen Angaben nach dort eine Person gewesen sei, die ein erhöhtes Vertrauen genossen habe. Bezüglich der Zweitbeschwerdeführerin wurde festgehalten, dass diese keine eigenen Fluchtgründe für das Verlassen des Heimatlandes vorgebracht habe. Die Angaben zur Sicherheitslage in Afghanistan seien auch nur sehr vage und oberflächlich gewesen. Dass die Zweitbeschwerdeführerin eine westliche Orientierung verinnerlicht habe, habe ebenfalls nicht festgestellt werden können. Eine Rückkehr nach Kabul sei der Familie zumutbar, zumal sie Ortkenntnisse besitzen würde und der Erstbeschwerdeführer gesund und arbeitsfähig sei, weshalb er seine Familie versorgen könnte.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 wurde ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG für die Beschwerdeführer angeordnet.

8. Mit Schreiben vom 25.01.2017 (gemeint wohl: 2018) erhoben der Beschwerdeführer gemeinsam mit dem Bruder des Erstbeschwerdeführers, vertreten durch den beigegebenen Rechtsberater, vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung, unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Es wurde eingewandt, dass sich die belangte Behörde mit dem glaubwürdig dargelegten Sachverhalt des Erstbeschwerdeführers nicht auseinandergesetzt habe und daher eine rechtswidrige rechtliche Beurteilung zu Stande gekommen sei. Ebenso habe die belangte Behörde außer Acht gelassen, dass der Zweit-, Dritt, Viert- und Fünftbeschwerdeführerin aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen gewesen sei. Diesbezüglich wurde insbesondere auf westlichen Orientierung und das selbstbestimmte Leben der Zweitbeschwerdeführerin Bezug genommen, wodurch ein asylrechtlich relevanter Sachverhalt vorliegen würde. Jedenfalls sei den Beschwerdeführern aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Unter dem Gesichtspunkt der Integration sei die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären gewesen. Diesbezüglich wurden auch zwei weitere Referenzschreiben vorgelegt.

9. Am 29.01.2018 legte das BFA die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

10. Mit Schreiben vom 23.04.2018 wurden bezüglich Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin Teilnahmebestätigungen am Werte- und Integrationskurs vorgelegt.

11. Am 31.08.2018 teilte der Verein ZEIGE durch Vorlage einer Vollmacht mit, dass dieser nun sämtliche Beschwerdeführer in gegenständlichem Verfahren rechtsfreundlich vertrete.

12. Mit Schreiben vom 07.03.2019 legte die rechtsfreundliche Vertretung ein Konvolut an Integrationsunterlagen aller Beschwerdeführer und medizinische Unterlagen bezüglich der Zweitbeschwerdeführerin vor. Des Weiteren wurde eine Stellungnahe zur aktuellen Situation in Afghanistan abgegeben, wobei insbesondere auf die Sicherheitslage und die Rückkehrsituation abgestellt wurde.

13. Am 22.03.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin ausführlich zu ihren persönlichen Lebensumständen in Afghanistan und in Österreich sowie zu ihren Fluchtgründen befragt wurden. Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, afghanische Staatsangehörige, tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und sunnitische Muslimin zu sein. Sie stamme aus Kabul, könne aber nicht viel zur Umgebung sagen, weil sie selten nach draußen gegangen sei. Ihre Eltern hätten sie schlecht behandelt und zwangsverheiratet. Ihren Mann habe sie erst in der Hochzeitsnacht kennengelernt. Mittlerweile liebe sie ihn und seit sie hier seien, mische er sich auch in keiner Weise in ihre Belange ein. Sie könne hier machen was sie wolle und müsse sich auch an keine Kleidungsvorschriften mehr halten. Ihr Mann helfe im Haushalt mit und sie gehe auch einkaufen. Das Haus in Kabul sei verkauft worden und damit die Ausreise finanziert worden. Sie habe schlechte Erfahrungen in Afghanistan gemacht, weil sie dort nur versteckt in die Schule habe gehen können und sie zwangsverheiratet wurde. Sie habe vor acht Monaten zuletzt Kontakt mit ihrer Mutter über ein Videotelefon gehabt, wobei sie ihr Vater gesehen habe. Diese habe bezüglich ihres Aussehens gemeint, dass sie schlecht und unsittlich geworden sei. Weitere schlechte Erfahrungen an Afghanistan habe sie wegen des Tötens und des Blutes. So habe sie gesehen, wie ihr Onkel, der ein Sammler von Altwaren gewesen sei, durch einen Sprengsatz getötet worden sei. Sie sei sehr traurig, dass sie zwar zehn Jahre in die Schule hätte gehen können, sie aber nur sehr selten auch dort gewesen sei. Nach ihrer Heirat habe die Familie ihres Mannes sie auch schlecht behandelt. Frauen würden in Afghanistan unterdrückt werden, hier allerdings nicht. Ebenso könnten ihre Töchter, im Gegensatz zu Afghanistan, hier problemlos in die Schule gehen. Außerdem würde ihren Kindern dasselbe Schicksal drohen wie ihr, zumal in Afghanistan nicht nur die Elternteile, sondern auch die Personen rundherum über sie Entscheidungen treffen würden. Ebenfalls seien sie wegen der Probleme ihres Mannes ausgereist. In Österreich würde liebevoll mit ihren Kindern umgegangen werden und sie müsse keinen Hijab, der für sie wie ein Gefängnis gewesen sei, mehr tragen. In Afghanistan habe sie niemanden mehr und auch zu niemandem mehr Kontakt. In Österreich arbeite sie ehrenamtlich und versucht ihr Deutsch zu verbessern. Sie gehe in ihrer Freizeit zum Yoga, spazieren und Rad fahren.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt, führte sie im Wesentlichen aus, dass ihr Mann in einem amerikanischen Unternehmen als Techniker gearbeitet habe und als er traurig und verletzt nach Hause gekommen sei, habe er ihr offenbart, dass er von Extremisten bedroht werde und er Sprengstoff schmuggeln solle. Sohin seien seine Fluchtgründe, auch ihre. Mittlerweile könne sie wieder ruhig schlafen und müsse auch keine Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben.

Der Erstbeschwerdeführer führte aus gesund zu sein. Er sei afghanischer Staatsbürger, der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehörig. Er habe in Kabul gelebt, als Gerneratormechaniker gearbeitet und dort ein eigenständiges Leben geführt. Seine Frau sei dahingehend in ihrem Leben eingeschränkt worden, dass seine Eltern gewollt hätten, dass sie nicht alleine einkaufen gehe oder sie sich verschleiere. Derzeit würde sich in Afghanistan, als einzige Verwandte zu der er noch Kontakt habe, nur mehr seine Mutter in Kabul aufhalten.

In Österreich habe er zahlreiche Sprach- und Integrationskurse belegt, sowie sei er oftmals gemeinnützig tätig geworden. Er helfe seiner Frau auch im Haushalt. Dies wäre in Afghanistan allerdings nicht möglich, weil es gesellschaftlich verpönt wäre.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte er im Wesentlichen aus, dass er in einem amerikanischen Unternehmen, das die afghanische Polizei und das afghanische Militär trainiert habe, als Mechaniker gearbeitet habe. Seine Arbeit habe er plötzlich beendet und dies, außer seinen Angehörigen, niemandem mitgeteilt. Zur Polizei sei er auch nicht gegangen, weil diese in den meisten Kriminalfällen ein „Mitarbeiter“ wäre.

Er sei von vier Personen angegriffen und verletzt worden. Zwei von ihnen hätten gefragt, warum er ihre Vorschläge nicht ernst genommen hätte. Zu Fuß sei er danach noch ins Krankenhaus gegangen. Die Kilometerangaben (8 bis 10 km) über diesen Weg seien nur eine Vermutung seinerseits. Er sei in einem schlechten Zustand gewesen und habe auch erst in Europa erfahren, was ein Kilometer sei. Es sei damals bereits dunkel gewesen und mit dem Auto hätte er nicht weiterfahren können, weil er dies an einem Ort für den Nachtdienst habe abstellen müssen. Er sei rund 14 Tage davor bereits bedroht worden, wobei er aber keinen konkreten Auftrag erhalten habe. Danach sei er weiter zur Arbeit gegangen, habe aber um Urlaub ersucht, weil er Angst gehabt habe. Allerdings sei ihm dieser nicht bewilligt worden. Ob er von den Taliban bedroht worden sei, wisse er nicht. Die Bedroher hätten sich diesbezüglich nicht zu erkennen gegeben. Zuletzt wurde ein Zeuge befragt, der den Erstbeschwerdeführer als sehr aufgeschlossen und antriebsam halte. Er sei mit den hiergelebten Werten verbunden, auch wenn er nicht übertrieben religiös sei. Seine Frau könne sich in Österreich ebenfalls entfalten.

14. Am 04.04.2019 erging eine Stellungnahme seitens der rechtsfreundlichen Vertretung, dass die Sicherheitslage in Kabul nach wie vor schlecht sei und dies unter der Betrachtung zu sehen sei, dass es sich bei der fünfköpfigen Familie mit drei minderjährigen Töchtern um eine besonders vulnerable Personengruppe handle. Ebenso wurden zwei Arbeitsvorvertäge und ein Mietvertrag vorgelegt.

15. Am 08.07.2019 legte die rechtsfreundliche Vertretung ein Sprachzertifikat ÖSD A1 und eine Teilnahmebestätigung an einem Workshop betreffend die Zweitbeschwerdeführerin vor.

16. Am 01.10.2019 legte die rechtsfreundliche Vertretung eine erneute Stellungnahme betreffend die schlechte Sicherheitslage in Kabul und Herat sowie über die Probleme der Kinder und Frauen in Afghanistan vor.

17. Am 21.10.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zuerst ausführlich über die aktuelle Lage in Afghanistan informiert wurden. Danach wurde der Erstbeschwerdeführer befragt. Er gab an, dass ein Bruder mit ihm nach Österreich mitgekommen sei und er zu einem anderen Bruder aus verschiedenen Gründen keinen Kontakt mehr habe. Zu seinem Fluchtgrund erneut befragt, führte der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass er geschlagen worden sei, nachdem er Mitarbeiter nach Hause gebracht habe. Sie hätten dabei auch seine Familie bedroht, weshalb er sich entschlossen habe, sein Heimatland zu verlassen. Aufgefordert, dass er Details über das Schmuggeln des Sprengstoffes angeben solle, führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass die Bedroher gewusst hätten, dass er beim Einfahren in die Polizeiakademie und das Verteidigungsministerium nicht kontrolliert werden würde und sie Anhänger oder Personen gehabt hätten, die wissen würden, was mit der Bombe gemacht werden müsse. Dreimal habe er Kontakt zu dieser Gruppierung gehabt. Zweimal seien normale Bürger in sein Auto eingestiegen, einmal habe sein Auto eine Panne gehabt und er sei zu Fuß nach Hause gegangen, wobei er auf dem Weg dorthin aufgehalten worden sei. Er sei im Oktober 2015 geschlagen worden, als seine Frau im vierten oder fünften Monat schwanger gewesen sei. Daraufhin aufmerksam gemacht, dass dies nicht möglich sei, weil seine Tochter im August 2018 auf die Welt gekommen sei, meinte der BF, dass er sich im gregorianischen Kalender nicht so gut auskenne. Im Falle einer Rückkehr habe er in Afghanistan niemanden mehr. Außerdem hätten seine Töchter Berufswünsche. Mittlerweile würde er auch getötet werden, weil er als Rückkehrer aus Europa als „westlich orientiert“ angesehen werde.

Danach wurde die Zweitbeschwerdeführerin erneut befragt. Sie gab an bereits schwanger gewesen zu sein, wie ihr Mann geschlagen worden sei, zumal ihre Periode damals bereits ausgeblieben sei. Wie sie Afghanistan verlassen habe, sei es draußen bereits kalt gewesen. Aufmerksam gemacht, dass dies nicht mit der Geburt ihrer dritten Tochter vereinbaren lassen würde, vermeinte die Zweitbeschwerdeführerin, dass ihre Töchter allesamt sehr spät auf die Welt gekommen seien, sodass sie fast zehn Monate lang schwanger gewesen sei. Von der Familie ihres Mannes lebe kaum noch jemand in Afghanistan. Zu denen, die noch dort seien, gebe es wegen der Grundstücksstreitigkeiten keinen Kontakt. Sie sei in Afghanistan von ihrem Mann geschlagen worden und habe Angst, dass er sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan wieder schlecht behandeln würde. Ihr sei in Afghanistan Schlechtes widerfahren, sodass sie nicht wolle, dass ihre Kinder das gleiche Schicksal treffe wie sie. Hier würden sie alles frei entscheiden können und wären auch nicht der Gefahr einer Zwangsheirat ausgesetzt.

18. Mit Schreiben vom 31.01.2020 setzte das BVwG die Beschwerdeführer vom aktuellen Länderinformationsblatt in Kenntnis.

19. Mit Schreiben vom 17.02.2020 nahm die rechtsfreundliche Vertretung zu den einzelnen und für die Beschwerdeführer wesentlichen Themenbereichen der Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes Stellung. Die Sicherheitslage sei nach wie vor schlecht und Rückkehrer ohne soziales Netzwerk hätten es diesbezüglich besonders schwer.

20.      Die Beschwerdeführer legten im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?         Tazirka des Erstbeschwerdeführers samt Übersetzung und Tazkira der Zweitbeschwerdeführerin

?        Schreiben eines Mullahs (Heiratsurkunde)

?         Bestätigung über den Kauf eines Firmenwagens in Afghanistan

?         Zahlreiche Unterlagen über die Arbeit des Erstbeschwerdeführers in Afghanistan

?         Zahlreiche Kursbesuchsbestätigungen (Integrations- und Deutschkurse) betreffend Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin

?        Sprachzertifikat ÖSD A2 (Erstbeschwerdeführer) und Sprachzertifikat ÖSD A1 (Zweitbeschwerdeführerin)

?        Österreichischer Führerschein und Staplerschein des Erstbeschwerdeführers

?        Schweißerprüfungsbescheinigung und Angebot einer Arbeitsstelle betreffend dem Erstbeschwerdeführer

?         Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben für die gesamte Familie

?        Teilnahmebestätigung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin an einem Werte- und Orientierungskurs

?         Zahlreiche Bestätigungen über das Durchführen von gemeinnütziger Arbeit bezüglich Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin

?         Zahlreiche Fotos die den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei der Teilnahme an Freizeitaktivtäten zeigen

?         Medizinische Unterlagen, dass die Zweitbeschwerdeführerin an einer Anpassungsstörung leidet und sich diesbezüglich in psychiatrischer Behandlung befindet

?        Schulbesuchsbestätigung der Drittbeschwerdeführerin

?        Kindergartenbesuchsbestätigung der Viertbeschwerdeführerin

?        Arbeitsvorverträge betreffend den Erstbeschwerdeführer

?        Mietvertrag

?         Stellungnahmen der rechtsfreundlichen Vertretung zur Situation in Afghanistan

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des Beschwerdeführer:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , die Drittbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , die Viertbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , geboren am XXXX und die Fünftbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Sie sind afghanische Staatsangehörige, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Die Beschwerdeführer, wobei die Fünftbeschwerdeführerin erst in Österreich geboren wurde, stammen aus der Provinz Kabul und haben dort auch bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan gelebt. Die Beschwerdeführer haben in Afghanistan entweder nur mehr weitschichtige Verwandte oder keinen Kontakt zu den sich dort noch spärlich befindlichen Angehörigen (insbesondere ein Bruder und die Mutter des Erstbeschwerdeführers).

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan geheiratet und sind Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen.

Die Beschwerdeführer (Erstbeschwerdeführer bis Vierbeschwerdeführerin) stellten nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 16.01.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Für die Fünftbeschwerdeführerin wurde am 26.08.2018 der gegenständliche Asylantrag gestellt.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan zwölf bzw. zehn Jahre lang die Grundschule besucht; ihre Muttersprache ist Dari. Der Erstbeschwerdeführer hat in Afghanistan eine Mechanikerausbildung absolviert und war acht Jahre lang als Generatorenmechaniker beschäftigt, die Zweitbeschwerdeführerin war im Haushalt tätig. In Österreich haben beide mehrere Deutsch- und Integrationskurse besucht sowie Sprachprüfungen abgelegt. So konnte der Erstbeschwerdeführer ein Sprachzertifikat ÖSD A2 und die Zweitbeschwerdeführerin ein Sprachzertifikat ÖSD A1 vorlegen. Sie befinden sich in Sprachkursen zum Niveau Deutsch B1 bzw. A2. Der Erstbeschwerdeführer ist in der Lage, auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren. Die Zweitbeschwerdeführerin kann in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren in Österreich gemeinnützig tätig und haben bei diversen Projekten mitgeholfen sowie zahlreiche Integrationskurse besucht. Der Erstbeschwerdeführer hat sich zusätzlich noch um einen österreichischen Führerschein bemüht sowie die Stapler- und Schweißerprüfung erfolgreich absolviert

Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin besucht die Schule und die minderjährige Viertbeschwerdeführerin den Kindergarten. Für die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin wurden diesbezüglich keine Bestätigungen vorgelegt. Alle drei Kinder sind gesund und ihre Muttersprache ist Dari. Die minderjährigen Beschwerdeführer weisen durch den Besuch von Schule bzw. Kindergarten entsprechende Deutschkenntnisse auf.

Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines Bekanntenkreises. Zahlreiche Empfehlungsschreiben und ein einvernommener Zeuge belegen, dass die Familie um Integration bemüht ist.

Die Beschwerdeführer sind gesund und leiden im Entscheidungszeitpunkt an keinen schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankungen. Sie befanden sich, abgesehen von der psychiatrischen Behandlung der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund einer Anpassungsstörung, zuletzt weder in Therapie noch mussten sie Medikamente einnehmen.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Es wird festgestellt, dass der Erstbeschwerdeführer weder von den Taliban noch von einer sonstigen regierungsfeindlichen Gruppierung landesweit verfolgt worden ist; er ist in Afghanistan nicht individuell und konkret bedroht.

Die Beschwerdeführer begründeten ihre Anträge auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass der Erstbeschwerdeführer für eine amerikanische Firma gearbeitet habe und er Mechaniker für Generatoren in Anlagen der afghanischen Sicherheitsbehörden gewesen sei. Er sei von ihm unbekannten Männern aufgefordert worden, Sprengstoff in diese Anlagen zu schmuggeln. Danach sei er mehrmals bedroht und geschlagen worden, ehe er sich zur Flucht aus Afghanistan entschieden habe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, dass er und seine Familie umgebracht werden. Im Verfahren vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG blieben die Beschwerdeführer bei diesem Vorbringen.

Jedoch konnten sie dieses Vorbringen nicht glaubhaft machen, da es sich bei Gesamtbetrachtung sämtlicher im Verlauf des Verfahrens getätigten Angaben in entscheidenden Punkten sich als widersprüchlich sowie als nicht schlüssig und nicht plausibel erwiesen hat.

Die Beschwerdeführer waren vor der Ausreise aus Afghanistan auch keiner sonstigen, konkreten individuellen Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt. Festgestellt wird auch, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nicht einer landesweiten Verfolgung durch eine regierungsfeindliche Gruppierung oder sonstigen Umständen ausgesetzt sind.

Die Beschwerdeführer sind in Afghanistan weder vorbestraft noch wurden sie dort jemals inhaftiert und hatten auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Die Beschwerdeführer waren nie politisch tätig und gehörten nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung oder Bedrohung, auch aus Gründen ihres Aufenthaltes in Europa, ausgesetzt wären.

Es kann festgestellt werden, dass es den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen möglich oder zumutbar wäre, sich in das afghanische Gesellschaftssystem (neuerlich) zu integrieren. Es kann auch festgestellt werden, dass den minderjährigen Dritt bis Fünftbeschwerdeführerinnen auf Grund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan keine physische oder psychische Gewalt droht und sie deswegen einer Verfolgung ausgesetzt wären.

1.3. Zur Verfolgung der Zweitbeschwerdeführerin auf Grund ihrer behaupteten „westlichen Orientierung“:

Es wird festgestellt, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Herkunftsstaat nicht allein aufgrund ihres Geschlechts einer Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Zweitbeschwerdeführerin spricht zum Entscheidungszeitpunkt nur wenig Deutsch und hat auch bisher auch nur Deutschprüfung auf dem Niveau A1 abgelegt. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder, wie sie es auch in Afghanistan getan hat. Sie tätigt lediglich selbstständig Einkäufe und hat in Österreich das Kopftuch abgelegt.

Es wird festgestellt, dass die Zweitbeschwerdeführerin während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Sie konnte bereits in Afghanistan in die Schule gehen. Ihr Interesse an Kosmetik und Kleidung hatte sie bereits in Afghanistan, weshalb das Tragen von westlicher Kleidung und Schminken nicht ausreichend sind, um das Gesellschaftsbild einer westlich orientierten Frau vermitteln zu können. Die Zweitbeschwerdeführerin hat sich ansonsten im Zuge ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen und Gesellschaftsbild orientiert.

Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

1.4.1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als “Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.4.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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