TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/30 W217 2167764-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.06.2020
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Entscheidungsdatum

30.06.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W217 2167764-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich (BAT), vom 19.07.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005 in der geltenden Fassung der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.06.2021 erteilt.

IV.      Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge „BF“) stellte am 24.04.2016 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

1.1.    Bei der Erstbefragung vor Organen der LPD Wien am 25.04.2016 gab der BF an, er sei am XXXX in Parwan geboren, sei Tadschike und sunnitischer Moslem. Er habe 12 Jahre die Grundschule sowie 1 Jahr die Universität besucht. Er sei gemeinsam mit seiner Mutter XXXX (hg. Verfahren zu Zl. W217 2167761-1), seiner Schwester XXXX (hg. Verfahren zu Zl. W217 2167767-1) und seinem Cousin XXXX (hg. Verfahren zu Zl. W217 2167060-1) nach Österreich eingereist. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, aufgrund der schlechten Sicherheitslage sein Land verlassen zu haben. Außerdem seien aufgrund einer Feindschaft drei seiner Cousins getötet worden. Sein Leben sei in Gefahr gewesen. Sie hätten das Land nicht aus finanziellen (Anm.: Gründen) verlassen, da es ihnen gut gegangen sei.

1.2.    Am 07.06.2017 wurde der BF von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl („BFA“) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der BF gab zusammengefasst an, ein Cousin väterlicherseits sei zwischen 1359 und 1369 (= 1980 - 1990) Kommandant gewesen. Zwischen den Kommandanten habe es Rivalitäten und Kampfhandlungen gegeben. Sein Cousin und dessen Bruder seien beide Opfer von Terrorakten geworden. Ein weiterer Bruder habe aus Rache drei Personen der ehemaligen Gegner umgebracht, wobei er selbst getötet worden sei. Von dessen Verwandten sei nur der BF als einziger männlicher Verwandter zurückgeblieben, sodass er von Blutrache betroffen sei.

2.       Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA unter Spruchpunkt I. den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 idgF (AsylG) und unter Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde dem BF nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ferner wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde führte beweiswürdigend aus, dass Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrecht Pashtunwali verwurzelt seien. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der BF als Tadschike von Blutrache betroffen sei und habe dies auch nicht glaubhaft dargelegt. Der BF habe vage und unpräzise Aussagen getätigt und keine fluchtauslösende Bedrohungssituation, sondern lediglich vage Befürchtungen schildern können, die nicht dazu geeignet seien, eine konkrete Verfolgungshandlung glaubhaft zu machen. Zudem hätten sich auch widersprüchliche Aussagen zwischen dem BF und seiner Mutter ergeben.

Dem BF sei eine Rückkehr in seine Herkunftsregion Parwan aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage zumutbar und würden darüber hinaus innerstaatliche Fluchtalternativen in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung stehen.

3.       Dagegen richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde des BF, in der er unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht.

Begründend führte der BF aus, dass auch einer von Privatpersonen ausgehenden Verfolgung Asylrelevanz zukommen könne, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen zu unterbinden. Dies treffe u.a. auf den BF zu. Die Behörde habe nicht einmal versucht, die Glaubwürdigkeit des BF und die Asylrelevanz seiner Fluchtgründe zu widerlegen. Auf die Fluchtgründe des BF sei in der Beweiswürdigung nicht substantiell eingegangen worden. Zudem sei der BF aufgrund seines langjährigen Auslandsaufenthaltes in Gefahr, als „verwestlicht“ angesehen zu werden. Allenfalls wäre dem BF aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage in seiner Heimat sowie der fehlenden Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Fall einer Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren oder aufgrund der Schützenswürdigkeit seines Privat- und Familienlebens eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären.

4.       Einlangend am 17.08.2017 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt bezughabendem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor.

5.       Mit Schreiben vom 18.01.2019 legte der BF diverse Integrationsunterlagen vor.

6.       Am 20.11.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in der der BF zu seinen Fluchtgründen und seinem Leben in Österreich befragt wurde. Der BF gab an, dass er aufgrund des Verdachtes auf Leukämie 16 Tage stationär im Krankenhaus XXXX gewesen sei.

7.       Mit Schreiben vom 20.12.2019 informierte der BF, dass er sich weiterhin in stationärer Behandlung befinde und legte ärztliche Befunde vor.

8.       Mit Schreiben vom 07.02.2020 gab der BF unter Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass der BF an non severer aplastischer Anämie leide, bekannt, dass er dauerhaft medizinischer Versorgung und regelmäßiger Betreuung bedürfe und eine solche in Afghanistan nicht angeboten werde.

9.       Mit E-Mail vom 19.02.2020 informierte der behandelte Arzt des Universitätsklinikums XXXX , Dr. XXXX , über die Art und Schwere der Erkrankung, der Behandelbarkeit und der Arbeitsfähigkeit des BF (im Folgenden auszugsweise zitiert):

„- Herr XXXX ist aus unserer Sicht derzeit arbeitsfähig. Auch körperliche Arbeit ist zumutbar. Auch wenn der Patient derzeit durch seine Erkrankung körperlich nicht eingeschränkt ist, ist die Krankheit dennoch als schwer und lebensbedrohlich zu bezeichnen.

- Herr XXXX muss zu wöchentlichen Spiegelbestimmungen des Medikamentes Sandimmun zu uns in die hämato-onkologische Ambulanz kommen.

- Werden die Kontrollen in einem Kompetenzzentrum über einen längeren Zeitraum hinweg versäumt, kann die Therapie mit Sandimmun nicht richtig administriert werden. Zu befürchten wäre in dem Fall eine Verschlechterung der Knochenmarkserkrankung, was zum Tod des Patienten führen könnte.

- Die Kontrollen können nicht in jedem beliebigen Krankenhaus durchgeführt werden. Eine Anbindung an ein hämato-onkologisches Kompetenzzentrum ist unbedingt notwendig.

- Es handelt sich bei der Erkrankung um eine schwere Knochenmarkserkrankung. Eine nicht sachgemäße Betreuung kann zum Tod des Patienten führen. Es ist wahrscheinlich, dass eine Knochenmarkstransplantation in Zukunft notwendig sein wird. Mit einer spontanen Besserung der Erkrankung ist nicht zu rechnen. Über den Zeitlichen Ablauf der Erkrankung kann keine genaue Aussage getroffen werden.“

10.     Mit Schreiben vom 29.04.2020 übermittelte die Staatendokumentation des BFA eine Anfragebeantwortung zum Thema „non-severe aplastische Anämie“ (im Folgenden auszugsweise zitiert):

„1.     Gibt es Krankenhäuser oder andere Einrichtungen in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat die Knochenmarks-Erkrankungen behandeln können? Wenn ja:

1.1.    Sind dort regelmäßige Kontrollen des Blutspiegels möglich?

1.2.    Was kosten diese Blutspiegelkontrollen? Hat diese Kosten der BF zu tragen?

1.3.    Kann dort eine Knochenmarks-Transplantation durchgeführt werden?

1.4.    Existiert in einer der beiden Städte ein hämato-onkologisches Kompetenzzentrum oder eine ähnliche Einrichtung?

Quellenlage/Quellenbeschreibung:

Aufgrund der medizinisch-spezifischen Art der Fragestellungen wurden diese an MedCOI zur Recherche übermittelt. Informationen zu MedCOI finden sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at

Zusammenfassung:

Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass Behandlungen durch einen Hämatologen in Herat und Mazar-e Sharif nicht verfügbar sind. Ambulante und stationäre Behandlungen durch einen Internisten sind in beiden Städten möglich. Während Laboruntersuchungen zur Bestimmung des Blutbildes (weiße und rote Blutzellen, Thrombozyten, Hämoglobin) in Herat und Mazar-e Sharif verfügbar sind, können Laboruntersuchungen zur Bestimmung des Medikamentenspiegels im Blut in beiden Städten nicht durchgeführt werden. Knochenmarktransplantationen sowie damit verbundene Vor- und Nachbehandlungen sind in Herat und Mazar-e Sharif nicht verfügbar. Ebenso sind Behandlungen durch einen Onkologen in Herat und Mazar-e Sharif nicht verfügbar.

Namen und Adressen der Institutionen, welche die genannten verfügbaren Behandlungen in Herat und Mazar-e Sharif anbieten, können den Originalquellen BMA-13439 und BMA-13440 entnommen werden. Informationen zu den Behandlungskosten und Zahlungsmodalitäten befinden sich in den Originalquellen BDA-7231 und BDA-7226.

Einzelquellen:

Die Originale folgender Anfragebeantwortungen von MedCOI werden als Anlage übermittelt:

?        Local Doctor via MedCOI (18.3.2020): BMA-13440, Zugriff 24.3.2020

?        Local Doctor via MedCOI (17.3.2020): BMA-13439, Zugriff 18.3.2020

?        Belgian Immigration Office (15.4.2020): Question & Answer, BDA-7231, Zugriff 15.4.2020

?        Belgian Immigration Office (28.4.2020): Question & Answer, BDA-7226, Zugriff 29.4.2020

2.       Ist der Wirkstoff Ciclosporin (Medikament Sandimmun 100 mg) dauerhaft in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat erhältlich?

2.1.    Ist das Medikament frei zugänglich oder kostenpflichtig? Falls kostenpflichtig, zu welchem Preis ist es erhältlich?

Quellenlage/Quellenbeschreibung:

Aufgrund der medizinisch-spezifischen Art der Fragestellungen wurden diese an MedCOI zur Recherche übermittelt. Informationen zu MedCOI finden sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at

Zusammenfassung:

Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass ein Medikament mit dem Wirkstoff Ciclosporin in Herat und Mazar-e Sharif verfügbar ist, jedoch bestehen derzeit in beiden Städten Lieferschwierigkeiten. Die Frist für Neulieferungen beträgt vier Wochen. Ciclosporin ist in importierten Dosierungsformen bzw. Standarddosierungen in Kabul erhältlich, jedoch nicht in Mazar-e Sharif. Apotheken in Mazar-e Sharif können das Medikament innerhalb von vier Wochen aus Kabul beschaffen.

Da in Afghanistan viele illegal importierte Medikamente aus den Nachbarstaaten – insbesondere Pakistan und Iran – verfügbar sind, welche keiner Qualitätskontrolle durch die Arzneimittelbehörde unterliegen und oftmals gefälscht oder gefährlich sind, wird zwischen Standarddosierungen und nicht-Standarddosierungen unterschieden. Medikamente in Standarddosierung sind in der Liste der lizensierten Medikamente in Afghanistan enthalten und werden von einem eingetragenen Unternehmen importiert oder in Afghanistan nach offiziellen Qualitätsstandards hergestellt.

Namen und Adressen der Institutionen, welche Medikamente mit dem Wirkstoff Ciclosporin in Herat und Mazar-e Sharif anbieten, können den Originalquellen BMA-13439 und BMA-13440 entnommen werden. Informationen zu den Kosten und Zahlungsmodalitäten befinden sich in den Originalquellen BDA-7231 und BDA-7226.

Einzelquellen:

Die Originale folgender Anfragebeantwortungen von MedCOI werden als Anlage übermittelt:

?        Local Doctor via MedCOI (17.3.2020): BMA-13439, Zugriff 18.3.2020

?        Local Doctor via MedCOI (18.3.2020): BMA-13440, Zugriff 24.3.2020

?        Belgian Immigration Office (15.4.2020): Question & Answer, BDA-7231, Zugriff 15.4.2020

?        Belgian Immigration Office (28.4.2020): Question & Answer, BDA-7226, Zugriff 29.4.2020“

11.     Mit Schreiben vom 29.05.2020 übermittelte der BF aktuelle Arztbriefe und Befunde.

12.     Mit E-Mail vom 10.06.2020 informierte der behandelnde Arzt des Universitätsklinikums XXXX neuerlich über den Gesundheitszustand des BF (im Folgenden auszugsweise zitiert):

„- Er nimmt weiterhin Sandimmun ein und muss zu regelmäßigen Spiegelbestimmungen zu uns in die Ambulanz kommen. Er muss zudem neben- und aufgrund der Immunsuppression eine Reihe weiterer Medikamente nehmen, worunter eine antibiotische und eine antivirale Dauertherapie.

- Eine Knochenmarkstransplantation droht ihm weiterhin sobald die immunsuppressive Therapie nicht mehr wirksam ist.

- Der Gesundheitszustand ist momentan als stabil zu bezeichnen.

- Bezüglich der Arbeitsfähigkeit hat sich die Situation aufgrund von Covid geändert. Aus unserer Sicht gehört Herr XXXX aufgrund der Immunsuppression zur Risikogruppe.“

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX .

Er ist in der Provinz Parwan geboren, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF lebte immer in der Povinz Parwan, im Dorf XXXX . Er besuchte unregelmäßig, jedoch über einen Zeitraum von 12 Jahren die Schule und danach ein Jahr die Universität in Parwan, wo er das Studium der Rechtswissenschaften begann. Er hat keine Berufsausbildung, arbeitete jedoch als Verkäufer von Rosinen in einem Geschäft in der Nähe der Stadt XXXX .

Seine Familie bewohnte ein altes Lehmhaus und besaß Felder im Ausmaß von ca. drei Jirib, die für die Familie bewirtschaftet wurden. Die Felder gehören nach wie vor der Familie, wobei ein Jirib vor der Ausreise aus Afghanistan verkauft wurde. Das Haus wurde zerstört. Zuletzt bewohnte der BF das Haus gemeinsam mit seiner Schwester und seiner Mutter. Finanziell ging es ihnen durchschnittlich.

In Afghanistan lebt weiterhin eine verheiratete Schwester und ein Onkel mütterlicherseits in Parwan. Sein Vater ist vor ca. 20/21 Jahren verstorben. In Österreich lebt der BF mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem gemeinsamen Haushalt. Der Mutter des BF, XXXX , wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.12.2019 (Zl. W217 2167761-1/5E) der Status der subsidiär Schutzberechtigten, seiner Schwester XXXX (Zl. W217 2167767-1/7E) mit Erkenntnis vom 28.11.2019 der Status der Asylbrechtigten erteilt. Die Beschwerde des Cousins des BF, XXXX , wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 03.12.2019 (Zl. W217 2167060-1/8E) abgewiesen.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF war keiner konkreten und individuell gegen ihn gerichteten Verfolgung oder Bedrohung aufgrund von Blutrache durch Feinde seines Cousins ausgesetzt und wurde nicht persönlich bedroht. Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Feinde seines Cousins oder durch andere Personen.

1.3.    Zu einer Rückkehr nach Afghanistan:

Der BF leidet an non severer aplastischer Anämie. Er benötigt laufend eine medikamentöse Behandlung mit Sandimmun (100 mg 1-0-1 mg) und regelmäßiger Spiegelbestimmungen in einer spezialisierten hämato-onkologische Ambulanz. Werden Kontrollen in einem Kompetenzzentrum über einen längeren Zeitraum hinweg versäumt, kann die Therapie mit Sandimmun nicht richtig administriert werden, was eine Verschlechterung der Knochenmarkerkrankung, und letztlich den Tod des BF zur Folge haben kann. Der BF bedarf zudem neben - und aufgrund - der Immunsuppression einer antibiotischen und einer antiviralen Dauertherapie und hat dementsprechend eine Reihe weiterer Medikamente einzunehmen:

Urosin 300 mg ½-0-0,

Pantoprazol 40 mg 1-0-0,

Lidaprim forte 1-0-0 Mo-Mi-Fr,

Valaciclovir 500 mg 1-0-1,

Aprednislon 25 mg ½-0-0,

Neurobion forte 1-0-1,

Isoniazid ##INH Agepha## 100 mg 2-0-0.

Sobald die immunsuppressive Therapie nicht mehr wirksam ist, ist eine Knochenmarktransplantation durchzuführen.

Ein Medikament mit dem Wirkstoff Ciclosporin ist in Herat und Mazar-e Sharif verfügbar, jedoch bestehen derzeit in beiden Städten Lieferschwierigkeiten. Die Frist für Neulieferungen beträgt vier Wochen. Ciclosporin ist in importierten Dosierungsformen bzw. Standarddosierungen in Kabul erhältlich, jedoch nicht in Mazar-e Sharif. Apotheken in Mazar-e Sharif können das Medikament innerhalb von vier Wochen aus Kabul beschaffen.

Behandlungen durch einen Hämatologen in Herat und Mazar-e Sharif sind nicht verfügbar. Ambulante und stationäre Behandlungen durch einen Internisten sind in beiden Städten möglich. Während Laboruntersuchungen zur Bestimmung des Blutbildes (weiße und rote Blutzellen, Thrombozyten, Hämoglobin) in Herat und Mazar-e Sharif verfügbar sind, können Laboruntersuchungen zur Bestimmung des Medikamentenspiegels im Blut in beiden Städten nicht durchgeführt werden. Knochenmarktransplantationen sowie damit verbundene Vor- und Nachbehandlungen sind in Herat und Mazar-e Sharif nicht verfügbar. Ebenso sind Behandlungen durch einen Onkologen in Herat und Mazar-e Sharif nicht verfügbar.

Aufgrund seiner diagnostizierten non severen aplastischen Anämie und der dadurch bedingten Immunsuppression gehört der BF zur COVID-19-Risikogruppe iSd COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II Nr. 203/2020.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht dem BF einerseits aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit hinreichender medizinischer bzw. ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten seiner Erkrankung an non severer aplastischer Anämie, anderseits aufgrund der mit der immunsuppressiven Therapie einhergehenden Zugehörigkeit des BF zur Risikogruppe der durch den COVID-19 Virus besonders gefährdeten Personen ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK).

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1.  Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (Stand 18.05.2020) wiedergegeben:

„Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

[…]

2.       Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

[…]

2.5.    Balkh

Letzte Änderung: 22.4.2020

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Balkh gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

 

2019

2020 (bis 31.3.2020)

 

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

Balkh

128

51

33

14

Char Bolak

6

54

1

9

Char Kent

 

1

 

1

Chimtal

 

63

 

18

Dawlat Abad

3

24

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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