TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/1 W110 2195474-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2020
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Entscheidungsdatum

01.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W110 2195474-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.04.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30.6.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Hazara bzw. Sayyid, stellte am 29.11.2015 nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der am nächsten Tag durchgeführten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer u.a. an, dass er im Iran geboren worden sei und dort bis zu seinem siebten Lebensjahr mit seiner Familie gelebt habe, bevor sie nach Afghanistan zurückgekehrt seien. Vor circa 16 Jahren hätten sie Afghanistan wieder verlassen, um in Pakistan zu leben. Schließlich seien sie vor fünf Jahren neuerlich in den Iran gezogen. Auf die Frage nach den Fluchtgründen erklärte der Beschwerdeführer, dass seine Familie Afghanistan aufgrund einer Feindschaft zur Zeit des Taliban-Regimes verlassen habe. Hinsichtlich seiner Rückkehrbefürchtungen führte der Beschwerdeführer aus, dass in Afghanistan Krieg herrsche und er dorthin nicht zurückkehren wolle.

2. Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 23.01.2018 gab der Beschwerdeführer auf entsprechende Nachfrage an, dass sowohl seine Ehefrau und die beiden Kinder als auch seine eigenen Eltern und Geschwister derzeit im Iran leben würden. Dort habe der Beschwerdeführer in einer Ziegelei gearbeitet; auch in Pakistan sei er als Schweißer, Teppichweber und als Bauarbeiter für den Unterhalt aufgekommen. Seine Ausreise aus Afghanistan begründete er damit, dass in der Zeit der Taliban sein Vater festgenommen und von den Taliban schwer misshandelt worden sei, weil diese den Aufenthaltsort des Onkels des Beschwerdeführers erfahren hätten wollen. Nachdem sich sein Vater gesundheitlich wieder erholt habe, hätte die Familie die Ortschaft gewechselt. In einer anderen Ortschaft hätten sie ein Stück Land erhalten, welches sie bewirtschaften durften. Dort hätten Taliban geringerer Zahl gelebt. Auf entsprechende Nachfrage erklärte der Beschwerdeführer, dass in Kabul ein verfolgungsfreier Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre, da ein Grundstücksstreit mit einem sehr weit entfernten Verwandten bestanden habe und letzterer die Familie an die Taliban verraten hätte. Auch in Pakistan seien sie gesucht und gefunden worden, wobei es sich bei den Verfolgern um namentlich näher genannte Paschtunen bzw. Taliban, die über die Grundstücke der Familie und über ihr Dorf die Kontrolle hätten, gehandelt habe.

Der Verwaltungsakt enthält des Weiteren die Kopie eines Kaufvertrages über ein Grundstück samt deutschsprachiger Übersetzung, die Kopie einer Heiratsurkunde samt Übersetzung sowie integrationsbegründende Unterlagen.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: AsylG 2005), ebenso wie nach § 8 Abs. 1 leg. cit. ab (Spruchpunkte I. und II.). Gemäß Spruchpunkt III. wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). Festgestellt wurde ferner, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte V. und VI.). Nach Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle stellte die belangte Behörde die Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers sowie ferner fest, dass der Beschwerdeführer verheiratet und Vater zweier Kinder, die im Iran leben, sei. Der Beschwerdeführer leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung, stamme aus einer namentlich näher genannten Ortschaft der Provinz Baghlan und habe zwei Jahre lang die Schule besucht. Es habe – so die belangte Behörde – nicht festgestellt werden können, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten oder von den Taliban eine Verfolgung drohe. Beweiswürdigend ging die belangte Behörde davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geschilderten „Probleme“ sich nie auf die Person des Beschwerdeführers persönlich bezogen hätten, sondern auf seinen Vater. Unter Bedachtnahme darauf, dass die behaupteten Vorfälle mit den Taliban und sich die vorgebrachten Grundstücksstreitigkeiten vor mehr als 18 Jahren zugetragen hätten, sei die Wahrscheinlichkeit, dass der mittlerweile erwachsene Beschwerdeführer nach all den Jahren wiedererkannt werden würde, äußerst gering. Mangels Meldewesen und entsprechender Meldepflichten in Afghanistan würde der Beschwerdeführer auch von den sehr weit entfernten Verwandten in anderen Provinzen Afghanistans nicht gefunden werden können.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 10.04.2018 stellte die belangte Behörde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer von Amts wegen einen Rechtsberater zur Seite.

5. Gegen den Bescheid vom 10.04.2018 richtete sich die vorliegende und zulässige Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund fehlerhafter bzw. unzureichender Ermittlungen sowie mangelhafter Beweiswürdigung. Begründend wurde unter Berufung auf zahlreiche Informationen über die allgemeine Lage in Afghanistan ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Angehörigeneigenschaft zu seinem Onkel bzw. Vater von den Taliban verfolgt werde. Der Onkel des Beschwerdeführers sei nicht nur Mitglied der Partei „Hezb-e Harakat“ sondern auch Leibwächter eines berühmten Kommandanten gewesen, der gegen die Taliban gekämpft habe. Entfernte Verwandte würden überdies die Familie des Beschwerdeführers verfolgen, da sie die beanspruchten Grundstücke nicht bekommen hätten; die Grundstücke wären mittlerweile von den Taliban beschlagnahmt worden, und das Haus des Vaters des Beschwerdeführers würde nicht mehr existieren. Entfernte Verwandte hätten dem Vater des Beschwerdeführers auch angedroht, dass sie seinem Sohn, also dem Beschwerdeführer, etwas antun würden.

6. Am 24.6.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer mit seinem Beschwerdevertreter sowie ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen und in der alle entscheidungsrelevanten Aspekte erörtert wurden.

7. Beweis wurde erhoben durch Einvernahme des Beschwerdeführers, durch Einsichtnahme in den Inhalt des Verwaltungsaktes, in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen (insb. Beilage./A) sowie in die Zusammenfassung aktueller Länderinformationen über die allgemeine Lage in Afghanistan (Beilage./1).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Folgender Sachverhalt steht fest:

1.1 Zur Situation in Afghanistan:

1.1.1. Allgemeines

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 5).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen unterzeichnet, das den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt. Derweil gab es am 10.4.2020 abends Angriffe in den Provinzen Kandahar und Ghazni, bei denen Regierungsvertreter jeweils die Taliban als Verantwortliche vermuteten. In Kandahar wurden drei Zivilisten getötet und zwei verletzt. Die anhaltende Gewalt weckt Zweifel, wie fruchtbar die innerafghanischen Friedensgespräche sein können, die die USA mit den Taliban vorbereitet haben (Zeit-Online am 11.4.2020).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 26).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, das Personenstands- und Urkundenwesen ist kaum entwickelt. Die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 308).

Medien berichteten auch in der vergangenen Woche von Kämpfen und Anschlägen in zahlreichen Provinzen. Am 7.5.2020 wurde der Polizeichef der östlichen Provinz Khost zusammen mit zwei seiner Leibwächter bei einem Anschlag der Taliban getötet. Bei einer Demonstration gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen der Regierung und die schleppende Verteilung von Hilfsgütern in der zentralafghanischen Provinz Ghor wurden am 9.5.2020 mindestens 20 Menschen getötet und mindestens sechs Menschen verletzt, darunter zwei Polizisten. Eine Auswertung der bestätigten Meldungen über sicherheitsrelevante Vorfälle durch die New York Times ergab, dass im April 2020 mindestens 350 Regierungskräfte und 66 Zivilisten getötet worden sind. Im Mai 2020 wurden 42 getötete Sicherheitskräfte und vier getötete Zivilisten gezählt. Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtsorganisation meldet, dass in den ersten zehn Tagen des Ramadan 43 Zivilisten getötet und 73 verletzt worden seien. Die Provinzen, in denen zivile Opfer festgestellt worden seien, waren Kabul, Ghazni, Logar, Kandahar, Paktia und Helmand (Briefing Notes des BAMF vom 10.5.2020).

1.1.2. Sicherheitslage

Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12.9.2019). Die afghanische Regierung hat wichtige Transitrouten verloren (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 21).

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb - im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019 - weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Für das Jahr 2019 waren 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt; in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 22f.).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Für den Zeitraum vom 8.11.2019 - 6.2.2020 wurden 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 20f.).

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 23).

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen afghanische Verteidigungs- und Sicherheitskräfte und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 24f.).

1.1.2.1. Situation in Kabul (Stadt/Provinz)

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit rund 5 Mio. Einwohnern (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 35). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 36).

Die afghanische Regierung kontrolliert Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 37). Im Jahr 2019 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul dokumentiert. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 39).

Im Vergleich zu Herat und Mazar-e Sharif ist Kabul – hinsichtlich der Nahrungsmittelsicherheit – nicht am stärksten vom Lebensmittelnotstand betroffen, jedoch importiert die Stadt den Großteil des Bedarfes aus umliegenden Regionen und dem Ausland. Es gibt große Schwankungen bei der Lieferung, und es kommt zu Knappheiten bei bestimmten Lebensmitteln. Es gibt keine Speicherkapazität für größere Mengen Getreide, und es gibt keine Maßnahmen wie Preisregulierungen oder Coupons, um vulnerable Haushalte zu schützen. Die Lebensmittelversorgung in Kabul und Mazar-e Sharif ist Stand Dezember 2018 „angespannt“, das bedeutet, dass trotz humanitärer Unterstützung mindestens ein Fünftel der Haushalte einen minimal ausreichenden Lebensmittelkonsum aufweist, aber nicht in der Lage ist, notwendige Ausgaben abseits von Lebensmitteln zu bestreiten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 3.5.2019, S. 3).

Seit dem 15.4.2020 ist die Nutzung von Motorrädern und Rollern in der Stadt Kabul verboten. Damit soll die grassierende Kriminalität eingedämmt und gezielte Tötungen durch Angreifer auf Zweirädern verhindert werden. Eine Ausnahme soll für Lieferdienste gelten, die gerade während der COVID-19-bedingten Sperren stark nachgefragt sind. In letzter Zeit soll es mehrfach zu gezielten Tötungen von Regierungsmitarbeitern durch die Taliban gekommen sein, wobei die Attentäter Motorräder benutzten (z.B. die Ermordung von zwei Leibwächtern des Präsidenten am 3.4.2020). Beobachter bezweifeln allerdings die Effektivität der Maßnahme. Ähnliche Verbote gab es bereits in Städten wie Kandahar, Jalalabad oder Ghazni (Briefing Notes des BAMF vom 20.4.2020).

1.1.2.2. Situation in Herat

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt, die als „sehr sicher“ gilt, und von den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban.

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein UN-Mitarbeiter wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 99).

Das Ausmaß der Gewalt ist im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger. Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Taliban(-anführer) getötet (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 101).

Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand, wo es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen kommt, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 (KP 17.12.2018) und Januar 2019 Operationen in Shindand durch. Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat: Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch sei, sondern sich täglich ändere und sich in einer Pattsituation befinde. Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an, und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften, wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol. Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 101).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat (wie in den anderen Städten Afghanistans auch) für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population leben in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften, doch besteht in Herat grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO Guidance 2019, S. 133).

Was die Nahrungsmittelversorgung anbelangt, ist zu bemerken, dass weit verbreitete Konflikte und die schwere Dürre über 150.000 Menschen gezwungen haben, aus ihren Dörfern im Nordwesten Afghanistans zu fliehen und in der Stadt Herat Schutz zu suchen. Ihr Zustand ist nach wie vor äußerst prekär, da sie mit Nahrungsmittelmangeln und begrenztem Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sind. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind unzureichend und in Bezug auf Unterkünfte, Wasser und sanitäre Einrichtungen besonders schlecht (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 14). Das Famine Early Warning System Network (FEWS NET) bewertet die Versorgungslage in der Stadt Herat mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 10).

1.1.2.3. Situation in Mazar-e Sharif

Die Provinz Balkh, deren Hauptstadt Mazar-e Sharif ist, gilt nach wie vor als eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Derzeit leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif.

In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Es gibt eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet.

Im Jahr 2019 wurden 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 58 ff.).

Was die Nahrungsmittelversorgung betrifft, bewertet das FEWS NET die Versorgungslage in Mazar-e Sharif mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 10).

1.1.3. Ethnische Minderheiten

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 275.).

Die schiitische Minderheit der Hazara besiedelt traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt. Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert, vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara repräsentieren mittlerweile in Afghanistan die neue Mittelklasse. Die Hazara- Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an. Im Laufe des Jahres 2109 setzte der IS Angriffe gegen Schiiten, vorwiegend Hazara-Gemeinschaften, fort. Beispielsweise griff der IS einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt wurden. Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen die mutmaßliche schiitische Unterstützung iranischer Aktivitäten in Syrien durchgeführt. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 279 f.).

1.1.4. Religionen

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert. Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert (Bericht des deutschen Außenamtes vom 2.9.2019, S. 11).

1.1.5. Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 251).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungsgesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen. Regierungsfreundliche Kräfte verursachen eine geringere – dennoch erhebliche – Zahl an zivilen Opfern (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 246).

Ob eine Person bedroht ist, kann nur unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten und unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls, wie Ethnie, Konfession, Geschlecht, Familienstand und Herkunft, beurteilt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 7).

1.1.6. Rekrutierung durch die Taliban

Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert: Die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet. Die Veränderungen des Konfliktschemas wirken sich auf die Rekrutierungsstrategien der Taliban aus, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen als auch auf die Ausbildung der Rekruten. Das Profil hat sich insofern verändert, als es sich nun um Personal handelt, das im direkten Konflikt mit dem Feind stehen wird. Das lässt vermuten, dass die Taliban sich aktiver als bisher bemühen, Personal mit militärischem Hintergrund und/oder militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Mitglieder werden auf der Grundlage ihrer Beziehung, ihres Rufes und ihrer Position von den Kommandanten persönlich rekrutiert. Ohne Zustimmung der Familie, insbesondere des Familienoberhaupts, wird für gewöhnlich nicht rekrutiert. Diejenigen zwischen 15 und 18 Jahren, die den Taliban eingegliedert werden, werden vermutlich nur nach Einsatzfähigkeit und Qualifikationen beurteilt, d.h. man wird mobilisiert, wenn man als tauglich befunden wird (Landinfobericht 2017 zur Rekrutierung durch die Taliban, S. 20 - 27).

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Aufständische Gruppen blieben auch weiterhin die Haupttäter bei der Rekrutierung und dem Einsatz von Kindern. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Die Rekrutierer bedienen sich dabei skrupelloser Herangehensweisen. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 7f.)

Die Rekrutierung durch die Taliban läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich. In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen. Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 242).

Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit einem fortwährenden Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder auf Grund einer Kombination aus beiden Gründen. Männer im wehrfähigem Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung können je nach spezifischen Umständen des Falls Risikoprofilen entsprechen (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 59f). Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Bericht des deutschen Außenamtes vom 2.9.2019, S. 22).

Zwangsrekrutierungsversuche der Taliban, nämlich junge Leute zu zwingen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, bleiben lokal beschränkt, wenn es keine Feindschaft zwischen den Taliban und den betroffenen Personen gibt. D.h. In Bezug auf Personen, die vor den Taliban in die Großstädte flüchteten, ist deren Verfolgung für die Taliban uninteressant, weil diese Aktion kostspielig und für die Taliban mit großem Risiko verbunden ist (Auszug aus einem Sachverständigen-Gutachten zu W172 2161730-1/25E und W172 2161730-2/12E).

1.1.7. Rückkehr

1.1.7.1 Rückkehrmöglichkeiten

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (in Kabul, Herat, Mazar e-Sharif und Kandahar); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 217 und 308).

1.1.7.2 Rückkehrsituation

Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019 (LIB vom 13.11.2019, S. 332).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die für sie erforderliche Unterstützung erhalten, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, von den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und von Internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen. Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können. IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der ZollaBeschwerdeführerertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 332 f.).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (ca. € 0,35) bis 100 Afghani (ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO Guidance 2019 S. 133).

1.1.7.3 Soziale Verhältnisse für Rückkehrer

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt.

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, ist begrenzt (LIB vom 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 333ff.).

1.1.7.4 Gesundheitsversorgung

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos (Bericht des deutschen Außenamtes vom 2.9.2019, S. 29). Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019). Berichten zufolge können Patient/innen in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 322f.).

Innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden – genauso wie Kranke und Alte – gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. In der staatlichen Klinik in Kabul existieren 14 Betten zur stationären Behandlung. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019). So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen.

Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae mental hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim private hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan weiterhin hoch stigmatisiert, obwohl Schätzungen zufolge 50% der Bevölkerung psychische Symptome wie Depression, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörung zeigen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychisch Erkrankte sind oftmals einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 329 f.).

Viele Menschen in Afghanistan haben konfliktbedingt keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Behandlung von Traumata gilt als einer der wesentlichsten Mängel im öffentlichen Gesundheitswesen Afghanistans. Medizinische Einrichtungen werden zunehmend zum Ziel militärischer Angriffe (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.5.2020, S. 16).

1.1.8.4 COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Mit Stand 3.6.2020 wurden in Afghanistan 15.451 COVID-19 Fälle bestätigt (297 Tote). Insgesamt wurden 42.273 Personen getestet. (ACCORD COVID-19 Informationen vom 5.6.2020).

Die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle steigt an. Positiv getestete Personen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Die höchste Anzahl an Fällen weist Kabul auf, gefolgt von Herat, Kandahar und Balkh. Der landesweite Lockdown gilt in unterschiedlichem Maße weiterhin bis zum 24.5.2020. Die Provinzen Kandahar, Helmand und Ghazni haben inzwischen aber einige Lockerungen zugelassen. So wurden Bewegungsbeschränkungen aufgehoben und Geschäfte dürfen zu bestimmten Tageszeiten öffnen. Auch die Provinzregierung von Balkh kündigte Lockerungen an, während sich in Herat aufgrund mangelhaft durchgeführter Vorsichtsmaßnahmen das Virus schnell weiter ausbreitet. Zwischen 26.4. und 2.5.2020 kehrten aus Iran 5.801 Personen zurück, 42 % weniger als in der Vorwoche. 3.526 Personen waren freiwillige Rückkehrer, 2.275 Personen wurden abgeschoben. Die Mehrheit der freiwilligen Rückkehrer, von denen zunächst viele nach Herat gehen, gab an, ihre Arbeitsstelle in Iran verloren zu haben, 29 % nannten auch die Furcht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, als Rückkehrgrund. Die Grenzübergänge zu Pakistan (Torkham und Spin Boldak) bleiben weiterhin grundsätzlich nur für Warenverkehr und Hilfslieferungen (Montag bis Freitag) geöffnet. Eine begrenzte Anzahl von Personen kann jeweils samstags die Grenze zu Fuß passieren (Briefing Notes des BAMF vom 11.5.2020). Aufgrund der COVID-19-Krise stiegen die Nahrungsmittelpreise und sanken die finanziellen Möglichkeiten von Tagelöhnern infolge geringerer Gelegenheitsarbeit (ACCORD COVID-19 Informationen vom 5.6.2020).

Aller Voraussicht nach wird COVID-19 Afghanistan aufgrund mehrerer Faktoren besonders hart treffen: einerseits die schlechte Gesundheit, unter der viele Afghanen auch zu normalen Zeiten leiden – ansteckende Krankheiten wie Typhus oder Tuberkulose sind virulent; die Kinder- und Müttersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt; auch sind viele Kinder in den Provinzen unterernährt, was sie anfällig für Infekte macht. Nach jahrzehntelangem Krieg gibt es Hunderttausende, die durch Verletzungen dauerhafte Schäden davongetragen haben. Unter Berufung auf die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert das afghanische Gesundheitsministerium: 16 Millionen von mehr als 30 Millionen Einwohnern könnten an COVID-19 erkranken. Im schlimmsten Fall müssten 700.000 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden; 220.000 davon müssten möglicherweise auf Intensivstationen behandelt werden – von diesen könnten 110.000 Menschen an den Folgen von COVID-19 sterben. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. In der Provinz Herat, die die höchste Anzahl an bestätigten COVID-19-Fällen zu verzeichnen hat, wird die Zahl der Beatmungsgeräte auf nur 12 Stück geschätzt. In der an den Iran angrenzenden Provinz Herat hat sich die Anzahl positiver Fälle des COVID-19 beim Gesundheitspersonal verstärkt. Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patienten mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patienten mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (Kurzinformation der Staatendokumentation vom 9.4.2020). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (LIB 13.11.2019 idF 18.5.2020, S. 8).

Nach dem Tod eines Arztes aus dem „Amiri Medical Complex“ in Kabul aufgrund von COVID-19, wurde die Klinik geschlossen. Neben diesem Arzt wurde eine Reihe von Angestellten desselben Krankenhauses positiv auf COVID-19 getestet. Auch in einem anderen Krankenhaus in Kabul hat sich ein Arzt mit COVID-19 angesteckt; 15 weitere Beschäftigte befinden sich in Quarantäne. Am 7.4.2020 wurde in Kandahar ein weiteres Labor eröffnet, um Verdachtsfälle des COVID-19 zu testen. In diesem Labor sollen täglich bis zu 100 Verdachtsfälle innerhalb von 24 Stunden getestet werden. Außerdem sollen auch Verdachtsfälle aus den angrenzenden Provinzen Helmand, Uruzgan und Zabul in dieser Einrichtung getestet werden. Sowohl in Kabul als auch in der nah der iranischen Grenze gelegenen Stadt Herat gelten inzwischen Ausgangssperren, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. In der Stadt Kabul dürfen sich nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel-)VerkäuferInnen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen (Kurzinformation der Staatendokumentation vom 9.4.2020). Rückkehrer sind aufgrund der COVID-19-Krise mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert, da Teehäuser und Hotels durch den Lockdown geschlossen seien. Die regelmäßige Verweigerung von Familien, Betroffene aufzunehmen, könnte im Zweifelsfall Rückkehrern das in Krankheitsfällen essentielle Betreuungsnetzwerk nehmen (ACCORD COVID-19 Informationen vom 5.6.2020).

1.1.8.5 Exkurs: UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und EASO-Country Guidance vom Juni 2018 zu internen Schutzalternativen in afghanischen Städten:

Nur wenige Städte bleiben von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. […] Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018).

Nach den EASO-Guidelines könnte eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif für alleinstehende erwachsene Männer und verheiratete kinderlose Paare, welche über sonst keinerlei schutzwürdige Merkmale verfügen - trotz gewisser Härten - durchaus zumutbar sein, wenn sie in arbeitsfähigem Alter sind, an keinen ernsthaften Krankheiten leiden, über Berufserfahrung und/oder Bildung sowie finanzielle Mittel verfügen, vertraut sind mit den afghanischen sozialen Normen sind und Erfahrungen in einem urbanen Umfeld haben. Ein Netzwerk, dass sie mit Wissen über die lokalen Gegebenheiten zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse informiert, ist erforderlich, wenn sie außerhalb Afghanistans geboren wurden oder für eine sehr lange Zeit gelebt haben, wobei auch ihr Hintergrund, insbesondere ihre Bildung, Arbeitserfahrung und die Erfahrung eines auf sich alleingestellten Lebens außerhalb von Afghanistan relevant ist (EASO Guidance 2018, S. 135-139].

1.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Hazara bzw. Sayyid an. Er spricht Dari und ist Schiit. Seine Ehefrau und seine beiden minderjährigen Kinder sowie seine Eltern und seine vier Schwestern (im Alter von 14 bis 28 Jahren) leben im Iran in der Stadt XXXX . Seine Eltern arbeiten in einer Ziegelei. In der Schweiz lebt ein Bruder des Beschwerdeführers, in Österreich ein Cousin mit seiner Familie. Ob in Afghanistan Verwandte des Beschwerdeführers leben, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren, wo er bis zu seinem siebten Lebensjahr lebte. Dann übersiedelte er mit seiner Familie nach Afghanistan, wo er zwei Jahre lang die Schule besuchte. Nach fünf Jahren verließ die Familie mit dem Beschwerdeführer Afghanistan, um 12 Jahre lang in Pakistan zu leben, bevor sie wieder in den Iran zogen. Im Laufe seines bisherigen Lebens arbeitete der Beschwerdeführer in den genannten Ländern u.a. als Schweißer, in der Landwirtschaft, in einer Kohlenmine, als Motorradmechaniker, als Teppichweber, im Baubereich sowie in einer Ziegelei.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre. Es kann daher auch nicht festgestellt werden, dass er in Afghanistan von den Taliban oder anderen Personen verfolgt werden würde.

Der Beschwerdeführer ist gesund und unbescholten. In Österreich hat er sich immer wieder in seiner Heimatgemeinde ehrenamtlich betätigt.

2. Diese Feststellungen gründen auf folgender Beweiswürdigung:

2.1. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation basiert auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen und gewährleistet einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte, die sowohl von staatlichen Stellen, wie dem deutschen Außenamt, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen stammen, zu zweifeln; ihnen wurde auch in der Verhandlung nicht entgegen getreten (S. 13 der Verhandlungsniederschrift).

2.2. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen:

2.2.1. Die Feststellungen zur Nationalität, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seinen Aufenthalten in Afghanis

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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