TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/9 W114 2177898-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.07.2020
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Entscheidungsdatum

09.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W114 2177898-1/24E

schriftliche Ausfertigung des am 30.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 13.10.2017, Zahl: 1071459607-150587284, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 mit Fortsetzung am 30.06.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30.06.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX , geboren am XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und – nach eigenen Ausführungen – ehemaliger schiitischer Moslem, stellte am 30.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der am 01.06.2015 erfolgten Erstbefragung vor der Landespolizeidirektion Burgenland – Stadtpolizeikommando Eisenstadt, führte der Beschwerdeführer aus, ledig zu sein und keine Kinder zu haben. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe sechs Jahre lang eine Grundschule besucht. Er stamme aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt Nahoor, in der afghanischen Provinz Ghazni befinde. Sein Vater sei seit drei Jahren verschwunden. Seine Familie besitze ein Wohnhaus und ein Grundstück. Seine Mutter und seine jüngeren Geschwister würden sich noch in seinem Heimatdorf befinden. Er habe als Landwirt und zuletzt als Taxilenker gearbeitet. Vor etwa vier Monaten sei er aus Ghazni schlepperunterstützt über Pakistan und den Iran nach Österreich gereist. Die Kosten der Reise hätten USD 4.000,- betragen.

Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, Afghanistan aus Angst vor den Taliban verlassen zu haben. Sein Vater sei Eigentümer eines Restaurants im Basar in XXXX gewesen. Vor etwa drei bis dreieinhalb Jahren wären sechs Taliban von der Nationalarmee in seinem Restaurant festgenommen worden. Daraufhin habe sein Vater Probleme mit den Taliban bekommen und sei aus Afghanistan geflüchtet. Der Beschwerdeführer sei vor etwa eineinhalb Jahren von zwei Taliban entführt und geschlagen worden. Dabei wären seine linke Hand und seine Nase gebrochen worden. Die Taliban hätten ihn gefragt, ob er der Sohn seines Vaters sei. Erst nachdem er diese Frage verneint und seine wahre Identität verschwiegen habe, sei er von den Taliban freigelassen worden. Nach diesem Vorfall habe der BF Afghanistan verlassen und sei in den Iran gereist. Nach eineinhalb Jahren sei er nach Afghanistan zurückkehrt. Etwa vier Monate nach seiner Rückkehr, sei er nachts in seinem Haus von den Taliban angegriffen worden. Während des Angriffes habe er flüchten können und sei erneut aus Afghanistan ausgereist.

3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 25.09.2017 gab der BF an, gesundheitliche Probleme mit seiner Hand und seiner Nase zu haben. Er nehme jedoch keine Medikamente und befinde sich in keiner Therapie. Er führte aus, im Iran als Wachmann und als Fliesenleger gearbeitet zu haben. Sein Vater sei auf der Flucht nach Australien im Meer ertrunken. Seine Mutter und seine Geschwister würden sich bei seinem Onkel mütterlicherseits befinden, welcher in der Stadt XXXX , im Bezirk Ghodsang lebe. Der Beschwerdeführer führte aus, dass sich ein weiterer Onkel väterlicherseits, zu welchem er in Kontakt stehe, in der Stadt XXXX befinde. Er habe noch weitere Tanten, zu welchen jedovh kein Kontakt bestehe. Mit seiner Mutter habe er zuletzt vor etwa einem Jahr telefoniert, mit seinem Onkel telefoniere er fast jeden Monat.

Der Beschwerdeführer führte aus, dass er Afghanistan zum ersten Mal im Oktober 2012, auf Wunsch seines Onkels, verlassen habe. Die letzte Nacht vor seiner Ausreise habe der BF bei dem Kommandanten XXXX in der Stadt Ghazni verbracht. Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der BF aus, dass sein Vater Eigentümer eines Hotels am Markt in XXXX gewesen sei. Unter den Hotelgästen hätten sich auch Taliban befunden. Sein Vater habe die Taliban der Polizei gemeldet, die daraufhin festgenommen worden wären. Eine Woche nach der Festnahme hätten die Taliban einige Personen im Hotel getötet. Sein Vater habe sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt Ghazni befunden und sei umgehend aus Afghanistan ausgereist. Etwa sechs Monate nach dem Angriff auf die Personen im Hotel, sei der Beschwerdeführer während einer Fahrt mit dem Taxi in der Stadt Ghazni gemeinsam mit drei anderen Personen von Taliban entführt und bewusstlos geschlagen worden. Durch die Misshandlungen habe der BF Verletzungen an seiner Hand und an seiner Nase erlitten. Die Taliban hätten insbesondere nach seinem Vater gefragt. Der Beschwerdeführer sei einige Stunden später an einem anderen Ort aufgewacht. Die Taliban hätten den BF und die anderen drei Personen gegen von Kommandant XXXX festgenommene Talibanmitglieder getauscht. Der Beschwerdeführer sei umgehend in den Iran geflüchtet. Der BF konnte nicht angeben, was mit dem Hotel seines Vaters, nach dessen Flucht, geschehen ist.

Der Beschwerdeführer sei nach etwa eineinhalb Jahren vom Iran nach Afghanistan zurückgekehrt, da Schiiten von der iranischen Polizei in den syrischen Krieg geschickt worden wären. Er habe etwa vier Monate in seinem Herkunftsdorf verbracht, bevor er erneut aus Afghanistan ausgereist sei. Etwa zwei Jahre nach dem Vorfall im Hotel sei das Wohnhaus seiner Eltern in seinem Herkunftsdorf angezündet worden. Seine Mutter sei in diesen zwei Jahren nie von Taliban bedroht worden. Als fluchtauslösendes Ereignis führte der BF den Erhalt eines Drohbriefes und den Brand seines Wohnhauses an.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, aufgrund seiner Religion und seiner Volksgruppenzugehörigkeit in Afghanistan mit den Taliban Probleme gehabt zu haben. Er sei jedoch nie persönlich bedroht worden.

Hinsichtlich seiner Integration in Österreich führte der Beschwerdeführer aus, eine Lehre als Koch begonnen zu haben. Diesbezüglich legte er einen Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) XXXX , hinsichtlich der Beschäftigungsbewilligung als Kochlehrling, vor. Der BF legte weiters eine Änderung des Lehrvertrages gemäß § 8b BAG vom 10.08.2017 vor.

4. Mit Bescheid des BFA, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 13.10.2017, Zl. 1071459607-150587284, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen nicht habe glaubhaft darlegen können. Die Angaben des BF in der Erstbefragung würden seinen Angaben in der Einvernahme vor dem BFA widersprechen. Der Beschwerdeführer habe zwar ein ähnliches Fluchtvorbringen angegeben, jedoch hätten sich einige Details widersprochen. Beispielsweise habe der BF in der Erstbefragung angegeben, dass sein Vater ein Restaurant gehabt habe. Dass es sich um ein Hotel gehandelt habe, sowie, dass sein Vater die Taliban bei der Polizei gemeldet habe, erwähnte der BF jedoch nicht. Weder die Entführung selbst noch, dass sich diese Entführung während einer Taxifahrt ereignet habe, habe bei der Erstbefragung nicht erwähnt. Auch von einem Drohbrief oder vom abgefackelten Hausbrand habe der BF in der Erstbefragung nichts berichtet. Es würden Widersprüche vorliegen. Aufgrund der zahlreichen Widersprüche sei dem BF die Glaubwürdigkeit abgesprochen worden. Hinsichtlich des Vorbringens des BF, aufgrund seiner Religion bzw. Volksgruppenzugehörigkeit in Afghanistan verfolgt worden zu sein bzw. verfolgt zu werden, habe er seine diesbezüglichen Angaben lediglich auf allgemeine Aussagen gestützt. Insbesondere führte der Beschwerdeführer aus, aus diesen Gründen nie persönlich bedroht oder verfolgt worden zu sein, sodass jedenfalls keine asylrelevante, persönliche Verfolgung oder Bedrohung festgestellt werden konnte. Aufgrund der volatilen Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz Ghazni, könne der BF nicht dorthin zurückkehren. Er könne sich jedoch in der Provinz Kabul niederlassen.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 17.10.2017 zugestellt.

5. Gegen diese Entscheidung erhob der BF, vertreten durch die XXXX , mit Schriftsatz vom 13.11.2017, eingebracht am 14.11.2017, Beschwerde.

Begründend führte der BF aus, dass sein Vater für den Tod mehrerer Taliban verantwortlich sei. Er selbst wäre deswegen von den Taliban verfolgt worden. Aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie drohe dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung durch die Taliban. Die Feststellung der Unglaubwürdigkeit des BF basiere auf einer mangelhalten Sachverhaltsermittlung und einer unschlüssigen Beweiswürdigung durch das BFA. Hinsichtlich der vorgehaltenen Widersprüche führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater Eigentümer eines Restaurants mit der Möglichkeit zu übernachten, gewesen wäre. Er habe die Taxifahrt, den Drohbrief und das abgefackelte Haus bei der Erstbefragung nicht erwähnt, da er von den Polizisten aufgefordert worden wäre, sich bezüglich seines Fluchtgrundes kurz zu halten. Zum Vorhalt des Widerspruches betreffend seine Freilassung, führte der BF aus, dass er sowohl aufgrund des Verschweigens seines Verwandtschaftsverhältnisses zu seinem Vater, als auch im Zuge eines Gefangenenaustausches freigelassen worden wäre. Hätten die Taliban seine wahre Identität gekannt, wäre er sofort getötet worden. Bei den Taliban handle es sich um eine landesweit vernetzte Organisation, sodass eine innerstaatlich Fluchtalternative nicht zur Verfügung stehe. Der Beschwerdeführer sei jedenfalls aufgrund seiner Religion und seiner Volksgruppenzugehörigkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan von einer asylrelevanten Verfolgung betroffen. Auf den BF würden mehrere Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien zutreffen. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung und aufgrund seiner „Verwestlichung“ verfolgt werden. Er befinde sich zudem im wehrfähigen Alter, sodass er bei einer Rückkehr von Zwangsrekrutierung bedroht sein wäre. Der afghanische Staat sei weder willens noch fähig, dem BF Schutz zu gewähren. Hinsichtlich der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, verwies der Beschwerdeführer auf die schlechte allgemeine Sicherheitslage und führte aus, dass ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative jedenfalls nicht zumutbar sei.

6. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 27.11.2017, mit Schreiben des BFA vom 22.11.2017, zur Entscheidung vorgelegt.

7. Am 06.11.2019 übermittelte der Beschwerdeführer sein Jahreszeugnis der Berufsschule Altmünster aus dem Schuljahr 2018/2019 vom 05.09.2019.

8. Am 03.01.2020 legte die XXXX , ihre Vertretungs- und Zustellvollmacht zurück.

9. Am 09.01.2020 übermittelte der Beschwerdeführer, nunmehr vertreten von XXXX , den Lehrvertrag mit der XXXX vom 23.02.2017 sowie eine Änderung des Lehrvertrages vom 10.08.2017.

Der BF erstattete ebenfalls am 09.01.2020 beim BFA die Mitteilung eines Lehrverhältnisses bei einem Asylwerber gemäß § 55a FPG und § 125 Abs. 31-34 FPG.

10. Gemeinsam mit der Ladung zur Beschwerdeverhandlung vom 22.10.2019 wurden dem Beschwerdeführer Länderinformationen zu Afghanistan zugänglich gemacht und ihm die Möglichkeit geboten, dazu eine Stellungnahme abzugeben.

11. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 14.01.2020 wurde der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen befragt. Die Verhandlung fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und einem Vertreter des BFA, Regionaldirektion Oberösterreich, statt.

Zu seinem Gesundheitszustand führte der BF aus, dass er Probleme mit seinem linken Arm und seiner Nase habe. An seinem linken Arm konnte das erkennende Gericht eine sichtbare Deformation erkennen. Der Beschwerdeführer führte aus, sich aufgrund von „Nasenproblemen“ in Behandlung zu befinden.

Der Beschwerdeführer bestätigte ausdrücklich, arbeitsfähig zu sein. Der ebenfalls anwesende Lehrherr des Beschwerdeführers XXXX bestätigte, dass der BF zu seiner Zufriedenheit die Lehre absolviere und absolvieren könne.

Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der BF erneut aus, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban verfolgt werden würde. Der BF legte diesbezüglich diverse Fotos vor, welche einen Angriff der Taliban auf ein Gefängnis in Ghazni sowie verschiedene Taliban, welche angeblich Straßenblockaden durchführen, zeigen sollen. Befragt zu jenen Taliban, die aufgrund des Anrufes seines Vaters festgenommen worden wären, führte er aus, dass er diese Männer nicht selbst gesehen habe und auch über ihren Verbleib keine Angaben machen könne. Der Drohbrief sei nicht an den BF selbst, sondern an seinen Onkel gesendet worden. Darin sei der BF jedoch aufgefordert worden, Informationen über seinen Vater an die Taliban weiterzugeben. Bei einer Weigerung hätten die Taliban den Beschwerdeführer mit der Ermordung bedroht. Der BF gab an, zum Zeitpunkt des Erhalts des Drohbriefes etwa 14 bis 15 Jahre alt gewesen zu sein. In seinem Herkunftsdorf würde es keine Taliban geben. Ein Dorfbewohner habe den Taliban verraten, dass sein Vater einen erwachsenen Sohn habe, sodass die Taliban nunmehr den BF verfolgen würden. Als der BF aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt sei, hätten die Taliban die Verfolgung des Beschwerdeführers fortgesetzt. Dabei sei sein Wohnhaus angezündet worden. Der Beschwerdeführer behauptete, dass man eine Tazkira benötige, um innerhalb Afghanistans reisen zu können. Bei einer Anhaltung durch die Taliban, würden die Taliban den BF anhand seiner Tazkira sofort identifizieren und töten. Befragt zum Vorfall im Hotel, führte der Beschwerdeführer aus, dass er die Geschehnisse nur von Erzählungen seines Onkels kenne. Mit seinem Vater habe er darüber nicht mehr sprechen können, zumal dieser umgehend aus Afghanistan geflüchtet sei. Der Beschwerdeführer habe ebenfalls von seinem Onkel erfahren, dass er im Zuge eines Gefangenentausches befreit worden wäre. Den Kommandanten XXXX kenne er nicht.

Befragt zu seiner Familie führte der Beschwerdeführer aus, dass sich sein Bruder seit etwa einem Jahr und seine Mutter und seine Schwester seit etwa sechs Monaten in Pakistan befinden würden. Mit seiner Familie stehe er regelmäßig in Kontakt. Seine Mutter sei bereits alt und könne ihn bei einer Wiederansiedelung nicht unterstützen. Ein Onkel mütterlicherseits sei bereits verstorben. Der zweite Onkel mütterlicherseits würde sich ebenfalls in Pakistan befinden, da die Taliban seine Werkstatt zerstört hätten.

Befragt zu seinem Religionsbekenntnis, führte der Beschwerdeführer aus, kein Moslem mehr zu sein. Diesbezüglich führte der BF weiters aus, ebenfalls aufgrund seines Glaubensabfalles bei einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban und von der afghanischen Bevölkerung verfolgt zu werden. Für Moslems wäre der Konsum von Alkohol und Schweinefleisch verboten. Da er beides konsumiere, sei es offensichtlich, dass er kein Moslem sei. In Afghanistan habe er dreimal täglich gebetet und sei wöchentlich in die Moschee gegangen, wo er den Koran gelesen habe. Der Beschwerdeführer konnte in der mündlichen Verhandlung das Glaubensbekenntnis eines Moslems in arabischer Sprache rezitieren. In Afghanistan sei es eine Pflicht an Freitagen in die Moschee zu gehen. Jeder Afghane, der diese Pflicht nicht einhalte, müsse mit Konsequenzen rechnen. Würde der Beschwerdeführer, wie in Österreich, in Afghanistan Alkohol trinken, würde er dafür von der Bevölkerung belangt werden. Die Frage, wie der BF seinen Glauben in Afghanistan ausgeübt habe, wollte der Beschwerdeführer zunächst nicht beantworten. Sollten die Afghanen in Österreich erfahren, dass er in Afghanistan den Koran nicht nur gelesen, sondern auch unterrichtet habe und jetzt in Österreich Alkohol und Schweinefleisch konsumiere, würde er Schwierigkeiten bekommen. Der Beschwerdeführer bezeichne sich selbst nicht mehr als Moslem, er glaube nicht mehr an die Religion, sondern nur noch an „die Menschlichkeit“ und an Gott. Er habe seinen muslimischen Glauben verlassen, da aufgrund des Islams Menschen getötet und Selbstmordanschläge durchgeführt werden würden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Beschwerdeführer nicht zum Schein die Moschee besuchen, außer er würde sich in unmittelbarer Gefahr befinden. Diesbezüglich würde er jedoch umgehend flüchten, um den Schein nicht aufrecht erhalten zu müssen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 zugänglich gemacht und eine Frist bis zum 14.02.2020 für eine Stellungnahme eingeräumt.

Mit den Parteien wurde vereinbart, dass eine allfällige Protokollberichtigung binnen 14 Tagen eingebracht wird sowie, dass sämtliche Parteien zu einem weiteren Termin für die Rückübersetzung eingeladen werden.

12. In einer Stellungnahme vom 06.02.2020, eingelangt am 07.02.2020, führte der BF aus, dass die Länderfeststellungen unvollständig wären und teilweise ein zu positives Bild der Sicherheitslage in Afghanistan zeichnen würden. Der Beschwerdeführer verwies auf diverse Länderberichte, welche bestätigen würden, dass der Großteil, der von den Taliban getöteten Zivilisten, von ihnen verdächtigt worden wären, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Diesbezüglich verwies der Beschwerdeführer auf sicherheitsrelevante Vorfälle aus den Jahren 2016 und 2017. Der Beschwerdeführer wäre den Racheakten der Taliban früher oder später auch in einer Großstadt ausgesetzt, zumal soziale Überwachung in Afghanistan sehr ausgeprägt sei. In Afghanistan habe sich die Sicherheitslage verschlechtert, insbesondere habe sich die Anzahl der zivilen Opfer erhöht. In der Provinz Ghazni wären die Taliban sehr präsent. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung. Die Sicherheitslage habe sich auch in Mazar-e Sharif und Herat verschlechtert. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan über kein soziales Netzwerk und würde bei einer Rückkehr keine Unterstützung erhalten. Aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation könne nicht davon ausgegangen werden, dass der BF seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte.

Der BF legte dem Gericht eine Niederschrift über einen vor der Bezirkshauptmannschaft XXXX erklärten Religionsaustritt vom 20.01.2020 vor.

13. Gemeinsam mit der Ladung zur Fortsetzung der Beschwerdeverhandlung vom 19.02.2020 wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan zugänglich gemacht und ihm die Möglichkeit geboten, dazu eine Stellungnahme abzugeben.

14. In einer Stellungnahme vom 22.06.2020, eingelangt am 23.06.2020, verwies der Beschwerdeführer auf das allgemeine schlechte Gesundheitswesen in Afghanistan. Landesweit fehle es an verfügbaren Krankenhausbetten, Beatmungsgeräten, Schutzausrüstungen und geschultem medizinischen Personal. Die genaue Anzahl der an Covid-19 infizierten Personen könne aufgrund der geringen Testmöglichkeit nicht ermittelt werden. Viele Afghanen wären auf tägliche Arbeit angewiesen, sodass die angeordneten Ausgangsbeschränkungen nicht flächendeckend eingehalten werden würden. Die mangelhaften hygienischen Bedingungen würden die Eindämmung des Virus unmöglich machen. Die hohe Arbeitslosigkeit und die akute Nahrungsmittelknappheit würden die Situation in Afghanistan weiters verschärfen, sodass derzeit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei.

Der Beschwerdeführer übermittelte sein Jahreszeugnis der Berufsschule Altmünster für das Schuljahr 2019/2020 vom 06.05.2020.

15. Am 30.06.2020 wurde die mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG fortgesetzt. Die Verhandlung fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. An der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nahm kein Vertreter des BFA teil.

Mit den anwesenden Parteien wurde die wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund der Covid-19 Pandemie besprochen. Es wurden insbesondere die damit in Verbindung stehenden Themenbereiche, wie etwa der Lockdown in Afghanistan, die Unmöglichkeit eine Unterkunft bzw. eine Arbeit zu finden, die Erhöhung der Nahrungsmittelpreise, die ernsthafte Gefahr einer drohenden Hungersnot, die Situation von Rückkehrern sowie, dass derzeit ein Ende der Pandemie nicht vorhersehbar ist, erörtert.

Der Beschwerdeführer führte aus, dass sich sämtliche Familienmitglieder in Pakistan befinden würden. Mit seiner Mutter und seinen Geschwistern stehe er regelmäßig in Kontakt. Er habe noch einen Onkel, mit welchem jedoch kein Kontakt bestehe. Der Beschwerdeführer verwies, dass er in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, das ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan unterstützen würde oder unterstützen könnte, verfügen würde.

Nach Schluss der Verhandlung verkündete der erkennende Richter das Erkenntnis. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wurde abgewiesen. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde stattgegeben und dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30.06.2021 erteilt. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wurden ersatzlos behoben.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer weder im Asyl- noch im Beschwerdeverfahren eine drohende Verfolgung bei Rückkehr nach Afghanistan habe glaubhaft darlegen können. Ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie wäre einem jungen, gesunden, alleinstehenden Mann, welcher über Schulbildung, Berufserfahrung und einen Lehrabschluss in Österreich verfügt, der mit den afghanischen Verhältnissen vertraut ist und eine in Afghanistan geläufige Sprache spricht, eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar.

Aufgrund der aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, sei dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Der BF könne derzeit weder in Herat oder Mazar-e Sharif noch an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß fassen und sich dort eine Existenz aufbauen.

Trotz internationaler Flughäfen in Herat und Mazar-e Sharif sei die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die Covid-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit stark eingeschränkt. Aufgrund der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen bestehe kaum die Möglichkeit, ohne familiäres und soziales Netzwerk in Afghanistan, eine Arbeit bzw. eine Unterkunft zu finden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation hinsichtlich der großen Anzahl afghanischer Rückkehr aus dem Iran und Pakistan, welche Großteils in den afghanischen Städten siedeln, könne die Versorgung des BF derzeit überall in Afghanistan nicht gewährleistet werden. Der Beschwerdeführer zähle nicht zur Risikogruppe der Covid-19 gefährdeten Personen. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan wären insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung, aufgrund der angespannten Situation und der steigenden Lebensmittelpreise nicht absehbar. Daher könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden, dass der BF in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde.

16. Am 30.06.2020 beantragte das BFA fristgerecht die schriftliche Entscheidungsausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Situation in Afghanistan:

1.1.1. Allgemeines

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019, S. 5).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen unterzeichnet, das den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt. Derweil gab es am 10.04.2020 abends Angriffe in den Provinzen Kandahar und Ghazni, bei denen Regierungsvertreter jeweils die Taliban als Verantwortliche vermuteten. In Kandahar wurden drei Zivilisten getötet und zwei verletzt. Die anhaltende Gewalt weckt Zweifel, wie fruchtbar die innerafghanischen Friedensgespräche sein können, die die USA mit den Taliban vorbereitet haben (Zeit-Online am 11.04.2020).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 26).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, das Personenstands- und Urkundenwesen ist kaum entwickelt. Die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 308).

Medien berichteten auch in der vergangenen Woche von Kämpfen und Anschlägen in zahlreichen Provinzen. Am 07.05.2020 wurde der Polizeichef der östlichen Provinz Khost zusammen mit zwei seiner Leibwächter bei einem Anschlag der Taliban getötet. Bei einer Demonstration gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen der Regierung und die schleppende Verteilung von Hilfsgütern in der zentralafghanischen Provinz Ghor wurden am 09.05.2020 mindestens 20 Menschen getötet und mindestens sechs Menschen verletzt, darunter zwei Polizisten. Eine Auswertung der bestätigten Meldungen über sicherheitsrelevante Vorfälle durch die New York Times ergab, dass im April 2020 mindestens 350 Regierungskräfte und 66 Zivilisten getötet worden sind. Im Mai 2020 wurden 42 getötete Sicherheitskräfte und vier getötete Zivilisten gezählt. Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtsorganisation meldet, dass in den ersten zehn Tagen des Ramadan 43 Zivilisten getötet und 73 verletzt worden seien. Die Provinzen, in denen zivile Opfer festgestellt worden seien, waren Kabul, Ghazni, Logar, Kandahar, Paktia und Helmand (Briefing Notes des BAMF vom 10.05.2020).

1.1.2. Sicherheitslage

Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12.09.2019). Die afghanische Regierung hat wichtige Transitrouten verloren (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 21).

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb - im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019 - weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Für das Jahr 2019 waren 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt; in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 22f.).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Für den Zeitraum vom 08.11.2019 - 06.02.2020 wurden 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 20f.).

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 23).

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen afghanische Verteidigungs- und Sicherheitskräfte und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 24f.).

1.1.2.1. Situation in Kabul (Stadt/Provinz)

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit rund 5 Mio. Einwohnern (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 35). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 36).

Die afghanische Regierung kontrolliert Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 37). Im Jahr 2019 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul dokumentiert. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 39).

Im Vergleich zu Herat und Mazar-e Sharif ist Kabul – hinsichtlich der Nahrungsmittelsicherheit – nicht am stärksten vom Lebensmittelnotstand betroffen, jedoch importiert die Stadt den Großteil des Bedarfes aus umliegenden Regionen und dem Ausland. Es gibt große Schwankungen bei der Lieferung, und es kommt zu Knappheiten bei bestimmten Lebensmitteln. Es gibt keine Speicherkapazität für größere Mengen Getreide, und es gibt keine Maßnahmen wie Preisregulierungen oder Coupons, um vulnerable Haushalte zu schützen. Die Lebensmittelversorgung in Kabul und Mazar-e Sharif ist Stand Dezember 2018 „angespannt“, das bedeutet, dass trotz humanitärer Unterstützung mindestens ein Fünftel der Haushalte einen minimal ausreichenden Lebensmittelkonsum aufweist, aber nicht in der Lage ist, notwendige Ausgaben abseits von Lebensmitteln zu bestreiten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 03.05.2019, S. 3).

Seit dem 15.04.2020 ist die Nutzung von Motorrädern und Rollern in der Stadt Kabul verboten. Damit soll die grassierende Kriminalität eingedämmt und gezielte Tötungen durch Angreifer auf Zweirädern verhindert werden. Eine Ausnahme soll für Lieferdienste gelten, die gerade während der COVID-19-bedingten Sperren stark nachgefragt sind. In letzter Zeit soll es mehrfach zu gezielten Tötungen von Regierungsmitarbeitern durch die Taliban gekommen sein, wobei die Attentäter Motorräder benutzten (z.B. die Ermordung von zwei Leibwächtern des Präsidenten am 03.04.2020). Beobachter bezweifeln allerdings die Effektivität der Maßnahme. Ähnliche Verbote gab es bereits in Städten wie Kandahar, Jalalabad oder Ghazni (Briefing Notes des BAMF vom 20.04.2020).

1.1.2.2. Situation in Herat

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt, die als „sehr sicher“ gilt, und von den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban.

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein UN-Mitarbeiter wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 99).

Das Ausmaß der Gewalt ist im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger. Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Taliban(-anführer) getötet (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 101).

Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand, wo es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen kommt, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 (KP 17.12.2018) und Januar 2019 Operationen in Shindand durch. Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat: Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch sei, sondern sich täglich ändere und sich in einer Pattsituation befinde. Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an, und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften, wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol. Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 101).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat (wie in den anderen Städten Afghanistans auch) für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population leben in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften, doch besteht in Herat grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO Guidance 2019, S. 133).

Was die Nahrungsmittelversorgung anbelangt, ist zu bemerken, dass weit verbreitete Konflikte und die schwere Dürre über 150.000 Menschen gezwungen haben, aus ihren Dörfern im Nordwesten Afghanistans zu fliehen und in der Stadt Herat Schutz zu suchen. Ihr Zustand ist nach wie vor äußerst prekär, da sie mit Nahrungsmittelmangeln und begrenztem Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sind. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind unzureichend und in Bezug auf Unterkünfte, Wasser und sanitäre Einrichtungen besonders schlecht (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.05.2020, S. 14). Das Famine Early Warning System Network (FEWS NET) bewertet die Versorgungslage in der Stadt Herat mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.05.2020, S. 10).

1.1.2.3. Situation in Mazar-e Sharif

Die Provinz Balkh, deren Hauptstadt Mazar-e Sharif ist, gilt nach wie vor als eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Derzeit leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif.

In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Es gibt eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet.

Im Jahr 2019 wurden 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 58 ff.).

Was die Nahrungsmittelversorgung betrifft, bewertet das FEWS NET die Versorgungslage in Mazar-e Sharif mit Phase 3 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen oder nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur, indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.05.2020, S. 10).

1.1.2.4. Situation in Ghazni:

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken. Ghazni hat 1.338.597 Einwohner.

Ghazni gehört zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, Luftangriffen und Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 gab es 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und Kämpfen am Boden (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 82f).

In der Provinz Ghazni reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist (EASO Country Guidance: Afghanistan).

1.1.3. Ethnische Minderheiten

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 275.).

Die schiitische Minderheit der Hazara besiedelt traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt. Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert, vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara repräsentieren mittlerweile in Afghanistan die neue Mittelklasse. Die Hazara- Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an. Im Laufe des Jahres 2019 setzte der IS Angriffe gegen Schiiten, vorwiegend Hazara-Gemeinschaften, fort. Beispielsweise griff der IS einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt wurden. Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen die mutmaßliche schiitische Unterstützung iranischer Aktivitäten in Syrien durchgeführt. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 279 f.).

1.1.4. Religionen

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert. Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert (Bericht des deutschen Außenamtes vom 02.09.2019, S. 11).

1.1.4.1. Apostasie:

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie; auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen – weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte.

Gefahr bis hin zur Ermordung droht insbesondere Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB 13.11.2019).

Laut BBC News, sei für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie „Apostaten“ würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden.

Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN) erläuterte: „Obwohl es sicher einzelne Personen gibt, die zum Atheismus tendieren, besucht selbst der stärkste Säkularist trotz allem hin und wieder die Moschee und nimmt an bestimmten Handlungen nach altem islamischen Brauch teil. So sind Dinge, von denen man gemeinhin annimmt, dass man sie nur tun könne, wenn man vom Islam abfällt (wie z.B. Bier trinken) weiter verbreitet, als man denkt: Man kann Bier trinken und dennoch Moslem sein. Aber Atheismus als Bewegung gibt es in Afghanistan eher nicht. […] Einfach schon zur Tarnung nimmt man weiter an traditionellen religiösen Handlungen teil. Ein Glaubensübertritt lässt sich recht gut verheimlichen, da es ohnehin viele Muslime gibt, die nicht regelmäßig die Moschee besuchen. D.h. wenn jemand nicht in die Moschee geht, kommt er nicht automatisch dadurch in den Verdacht, etwa zum Christentum übergetreten zu sein. Und zu besonderen Anlässen wie Begräbnissen und Hochzeiten geht ohnehin jeder in die Moschee. Derlei Dinge haben dann nicht mehr unbedingt religiösen Charakter. Dies macht es leichter, einen Übertritt geheim zu halten. Doch wenn ein Glaubensübertritt bekannt wird, habe ich keinen Fall gesehen, bei dem dieser toleriert wurde. Die größten Probleme, die auftreten, sind dann häufig solche mit der Familie bzw. Personen in der Nachbarschaft.“.

Auch für strenggläubige Muslime könne es legitime Gründe geben, religiösen Zeremonien fernzubleiben. Ein Vertreter einer örtlichen Menschenrechtsorganisation habe erklärt, dass es Personen im städtischen Raum möglich sei, auf Moscheebesuche oder das Fasten während des Ramadan zu verzichten. Es gebe geografisch bedingte Unterschiede, und solche abweichenden Verhaltensweisen würden im städtischen Raum und in gebildeten Milieus eher toleriert als im ländlichen Raum (ACCORD Anfragebeantwortung zur Situation vom 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017).

1.1.5. Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 251).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungsgesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen. Regierungsfreundliche Kräfte verursachen eine geringere – dennoch erhebliche – Zahl an zivilen Opfern (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 246).

Ob eine Person bedroht ist, kann nur unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten und unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls, wie Ethnie, Konfession, Geschlecht, Familienstand und Herkunft, beurteilt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019, S. 7).

1.1.6. Rekrutierung durch die Taliban

Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert: Die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet. Die Veränderungen des Konfliktschemas wirken sich auf die Rekrutierungsstrategien der Taliban aus, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen als auch auf die Ausbildung der Rekruten. Das Profil hat sich insofern verändert, als es sich nun um Personal handelt, das im direkten Konflikt mit dem Feind stehen wird. Das lässt vermuten, dass die Taliban sich aktiver als bisher bemühen, Personal mit militärischem Hintergrund und/oder militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Mitglieder werden auf der Grundlage ihrer Beziehung, ihres Rufes und ihrer Position von den Kommandanten persönlich rekrutiert. Ohne Zustimmung der Familie, insbesondere des Familienoberhaupts, wird für gewöhnlich nicht rekrutiert. Diejenigen zwischen 15 und 18 Jahren, die den Taliban eingegliedert werden, werden vermutlich nur nach Einsatzfähigkeit und Qualifikationen beurteilt, d.h. man wird mobilisiert, wenn man als tauglich befunden wird (Landinfobericht 2017 zur Rekrutierung durch die Taliban, S. 20 - 27).

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Aufständische Gruppen blieben auch weiterhin die Haupttäter bei der Rekrutierung und dem Einsatz von Kindern. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Die Rekrutierer bedienen sich dabei skrupelloser Herangehensweisen. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung (UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, S. 7f.)

Die Rekrutierung durch die Taliban läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich. In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen. Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 242).

Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit einem fortwährenden Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder auf Grund einer Kombination aus beiden Gründen. Männer im wehrfähigem Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung können je nach spezifischen Umständen des Falls Risikoprofilen entsprechen (UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, S. 59f). Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Bericht des deutschen Außenamtes vom 02.09.2019, S. 22).

Zwangsrekrutierungsversuche der Taliban, nämlich junge Leute zu zwingen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, bleiben lokal beschränkt, wenn es keine Feindschaft zwischen den Taliban und den betroffenen Personen gibt. D.h. In Bezug auf Personen, die vor den Taliban in die Großstädte flüchteten, ist deren Verfolgung für die Taliban uninteressant, weil diese Aktion kostspielig und für die Taliban mit großem Risiko verbunden ist (Auszug aus einem Sachverständigen-Gutachten zu W172 2161730-1/25E und W172 2161730-2/12E).

1.1.7. Rückkehr

1.1.7.1. Rückkehrmöglichkeiten

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (in Kabul, Herat, Mazar e-Sharif und Kandahar); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, S. 217 und 308).

1.1.7.2. Rückkehrsituation

Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 01.01.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019 (LIB vom 13.11.2019, S. 332).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die für sie erforderliche Unterstützung erhalten, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, von den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und von Internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen. Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können. IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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