TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/21 W109 2206389-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.07.2020
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Entscheidungsdatum

21.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W109 2206389-1/37E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BÜCHELE über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 24.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.09.2019 und am 02.03.2020 zu Recht:

A)       

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1.       Am 17.11.2015 stellte der damals minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, nach Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 17.11.2015 gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung im Wesentlichen an, er sei afghanischer Staatsangehöriger und in XXXX geboren, wo er acht Jahre die Schule besucht habe. Zum Fluchtgrund befragt führte er aus, er sei vom Ortsmullah aufgefordert worden, in Pakistan ein terroristisches Ausbildungslager zu besuchen. Der Vater habe daraufhin den Mullah bei der Polizei angezeigt, woraufhin der Mullah festgenommen worden sei. Daraufhin seien sie von den Taliban bedroht worden.

Am 28.12.2017 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der ausgeführt wird, der Beschwerdeführer werde im Herkunftsstaat wegen seiner psychischen Erkrankung wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden psychisch Kranken asylrelevant verfolgt.

Am 29.05.2018 führte der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der Lehrer der Koranschule, die er besucht habe, habe ihn nach Pakistan bringen und von den Taliban unterrichten lassen wollen. Der Vater habe eine Anzeige erstattet, von der die Taliban erfahren hätten. Deshalb hätten sie die Familie bedroht.

2.       Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 24.08.2018, zugestellt am 31.08.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Fluchtvorbringen sei vage und lasse die Schilderung des Beschwerdeführers sämtliche Details vermissen. Es sei auch widersprüchlich. Auch sei nicht nachvollziehbar, warum gerade der Beschwerdeführer ausgewählt worden sei. Der Beschwerdeführer könne zwar nicht nach Kundus zurückkehren. Aber er könne in Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen.

3.       Am 20.09.2018 langte die vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bei der belangten Behörde ein in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer leide an einer psychischen Störung und an chronischer Hepatitis. Auch habe er den westlichen Lebensstil verinnerlicht und sei im Fall der Rückkehr als männlicher Jugendlicher im wehrfähigen Alter mit westlicher Lebensweise ohne familiäre Anbindung in Afghanistan besonders vulnerabel. Die Talibanverfolgung drohe landesweit.

Am 26.09.2019 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in der er ausführt, er sei als Informant für das LKA tätig und hätte aufgrund seiner Aussagen ein im ganzen Bundesgebiet tätiger Drogenring überführt werden können. Seine Identität ziehe unter den Afghanen Kreise und fürchte der Beschwerdeführer bei einer allfälligen Abschiebung nach Afghanistan durch diese Szene um sein Leben.

Am 30.09.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter, eine im Akt namentlich genannte Zeugin, ein Dolmetscher für die Sprache Dari und ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen. Der Beschwerdeführer wurde zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde im Herkunftsstaat wegen der Anzeige seines Vaters gegen den Mullah verfolgt, aufrecht.

Mit Schreiben vom 20.01.2020 forderte das Bundesverwaltungsgericht die Landespolizeidirektion Vorarlberg zur Stellungnahme gemäß § 57 Abs. 2 AsylG auf.

Mit Beschluss vom 21.02.2020 wurde Dr. XXXX zum „Sachverständigen“ zur Erstellung eines Gutachtens zur Plausibilitätsprüfung des Fluchtvorbringens bestellt.

Am 02.03.2020 wurde die öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seiner bevollmächtigten Rechtsvertreterin, des bestellten „Sachverständigen“ und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari fortgesetzt. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

Am 18.03.2020 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der ausgeführt wird, zumindest ein Mitglied einer Drogenhändlergruppe kenne den Beschwerdeführer persönlich, sei aufgrund seiner Aussagen verurteilt und mittlerweile nach Afghanistan abgeschoben worden. Eine Drogenhändlergruppe besitze schon aus Geschäftsgründen eine gute Vernetzung und wäre es somit problemlos möglich, den Ankunftszeitpunkt des Beschwerdeführers am Flughafen Kabul zu erfahren und sich wegen seiner Aussagen im Prozess gegen die Mitglieder der Gruppe an diesem zu rächen. Der Beschwerdeführer sei als Zeuge in einem Strafverfahren gegen eine bestimmte afghanische Drogenhändlergruppe Mitglied einer sozialen Gruppe und habe von Seiten dieser Verbrecherorganisation Verfolgung zu befürchten. Der Beschwerdeführer gelte in der afghanischen Community als Verräter. Ihm werde ein schwerer Verstoß gegen den Ehrenkodex der Paschtunen angelastet. Zur Verfolgung durch die Taliban sei zu bemerken, dass unklar sei, wie der Sachverständige zu der Ansicht komme, dass die Taliban ein anderes Vorgehen anwenden würden. Er benenne seine Quellen nicht. Aus den Kenntnissen des Sachverständigen lasse sich keine Expertise in gewissen Detailfragen ableiten. Das Gutachten sei mangelhaft und als Beweismittel unbrauchbar. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht. Die Versorgungslage sei schlecht. Die derzeitige Pandemie könne auch in Afghanistan nicht ohne Auswirkungen bleiben.

Am 28.05.2020 langte die Stellungnahme der Landespolizeidirektion Vorarlberg am Bundesverwaltungsgericht ein.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Konvolut medizinischer Unterlagen

?        Lehrvertrag des Beschwerdeführers

?        Beschäftigungsbestätigung

?        Bestätigungen für ehrenamtliches Engagement

?        Teilnahmebestätigungen für diverse Kurse

?        verschiedene Empfehlungsschreiben

?        Zeitungsartikel

?        Mitgliedschaftsvertrag für ein Fitnesscenter

?        Unterlagen zum Pflichtschulabschlusskurs

?        einige Fotos

?        Projektteilnahmebestätigung

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zu Person und Lebensumständen Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde im Jahr 2000, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Paschtu.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Anpassungsstörung und war deshalb im Jahr 2017 wiederholt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des XXXX in stationärer Behandlung. Seit 2016 ist der Beschwerdeführer deshalb in psychotherapeutischer und fachärztlicher Behandlung. Zur medikamentösen Behandlung nimmt er Cipralex 10 mg und Lendorm ein.

Der Beschwerdeführer wurde in XXXX geboren und wuchs dort auf. Er hat im Herkunftsstaat acht Jahre die Schule besucht. Zusätzlich hat er die Koranschule besucht. Der Vater des Beschwerdeführers besaß ein Geschäft für Elektro-Artikel.

Der Beschwerdeführer hat sechs jüngere Brüder, alle minderjährig und zwei jüngere Schwestern.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 vom Heimatort aus mit Eltern und Geschwistern in den Iran aus. Während des illegalen Grenzübertrittes in die Türkei wurde der Beschwerdeführer von seiner Familie getrennt, seither besteht kein Kontakt und der Beschwerdeführer hat keine Kenntnis vom Verbleib der Familie.

Ein Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers lebt in Kundus. Zu ihm besteht Kontakt.

Der Beschwerdeführer hat außerdem zwei Onkel väterlicherseits, zu ihnen besteht seit langem kein Kontakt.

Im Bundesgebiet hat der Beschwerdeführer einige Deutschkurse besucht und andere Bildungsangebote wahrgenommen. Zudem hat er eine Lehre als Bäcker angefangen, diese jedoch aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen. Seit Herbst 2019 besucht der Beschwerdeführer einen Vorbereitungslehrgang für die Nachholung des Pflichtschulabschlusses. Er hat auch ehrenamtliche Arbeit geleistet.

Weiter hat der Beschwerdeführer dem LKA Vorarlberg ab dem Frühjahr 2019 als Auskunftsperson hinsichtlich einer afghanisch-stämmigen Tätergruppe (Suchtgifthandel; Marihuana) gedient. In der Folge konnten auch aufgrund der Mitwirkung des Beschwerdeführers mehrere Beschuldigte angezeigt, festgenommen und teilweise strafgerichtlich verurteilt werden. Der Beschwerdeführer sagte auch als Zeuge in einem österreichischen Strafverfahren wegen u.a. § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall und Abs. 2 Z 3 SMG gegen afghanische Staatsbürger aus, wobei es hinsichtlich eines der Beschuldigten bereits zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten gekommen ist.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Es wird nicht festgestellt, dass der Koranlehrer des Beschwerdeführers den Beschwerdeführer nach Pakistan in ein Taliban-Ausbildungscamp schicken wollte und dieser Koranlehrer nach einer Anzeige des Vaters von der Polizei festgenommen wurde. Es wird auch nicht festgestellt, dass die Familie in der Folge von den Taliban bedroht wurde und deshalb ausgereist ist.

Für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen dem Beschwerdeführer keine Übergriffe oder Misshandlungen von Seiten der Taliban, weil er sich der Rekrutierung entzogen hat. Ein spezifisches Interesse der Taliban an der Person des Beschwerdeführers besteht nicht. Im Fall der Rückkehr ist nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer von den Taliban gezwungen würde, für sie zu kämpfen oder zu arbeiten.

Dem Beschwerdeführer drohen im Fall der Rückkehr keine Übergriffe oder Misshandlungen wegen seiner psychischen Erkrankung. Dass der Beschwerdeführer die notwendige Behandlung der Erkrankung allenfalls nicht erhält, resultiert lediglich aus den allgemeinen Unzulänglichkeiten der Gesundheitsversorgung in Afghanistan.

Dem Beschwerdeführer drohen im Fall der Rückkehr keine Übergriffe oder Misshandlungen durch Privatpersonen oder staatliche Stellen, weil er aus dem „westlichen“ Ausland zurückkehrt.

Dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe oder Misshandlungen durch jene Personen drohen, die er in Österreich im Strafverfahren belastet hat, ist nicht zu erwarten.

1. 3.   Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Kundus gehört zu den volatilen Provinzen Afghanistans. In den Jahren 2015, 2016 und 2019 kam es kurzfristig zur Einnahme der Provinzhauptstadt durch die Taliban. Mehrere Distrikte der Provinz stehen unter Kontrolle der Taliban, die übrigen Distrikte sind umkämpft. Die Taliban verfügen in beinahe der ganzen Provinz über starke Präsenzen. Auch der IS ist in der Provinz aktiv. Es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen. Kundus gehört zu den Provinzen mit der höchsten Gewaltbereitschaft der Taliban.

Im Fall der Rückkehr des Beschwerdeführers nach XXXX besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe Aufständischer misshandelt oder verletzt wird bzw. zu Tode zu kommt.

Kabul, Herat und Balkh zählen zu den am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Teilen Afghanistans. Die Krankheit breitet sich im ganzen Land aus. Zur Bekämpfung des Virus wurden im gesamten Land Ausganssperren verhängt, Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste sind eingeschränkt. Davon betroffen sind insbesondere Tagelöhner, die über keine alternativen Einkommensquellen verfügen. Die Lebensmittelpreise sind stark gestiegen. Zuletzt wurden die landesweiten Maßnahmen am 06.06.2020 um drei Monate verlängert. Geschlossen sind alle Schulen und Bildungszentren, Hotels, Parks, Sporteinrichtungen und andere öffentliche Orte.

Der Zugang psychisch Kranker zu angemessener medizinischer Versorgung war bereits zuvor eingeschränkt, es gibt kaum Behandlungsangebote und mangelt an einem Bewusstsein für psychische Erkrankungen. Die Behandlungskosten sind hoch, Medikamente nicht immer erhältlich. Die zusätzliche Überlastung des afghanischen Gesundheitssystems infolge der COVID-19-Pandemie beeinträchtigt das Angebot an Gesundheitsdiensten zusätzlich. Dass der Beschwerdeführer eine adäquate Behandlung seiner psychischen Erkrankung erhalten kann, ist nicht wahrscheinlich.

Die Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan war bereits zuvor schlecht. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Armutsrate und Arbeitslosigkeit sind hoch. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptschlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90 % der Wirtschaftsleistung ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt.

Finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit existiert in Afghanistan nicht. Sozialleistungen gibt es – abseits von Pensionen in sehr wenigen Fällen, kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung – nicht.

Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen zu bestreiten und seine Lebensgrundlage zu erwirtschaften. Mit ausreichender Unterstützung durch seine Angehörigen ist nicht zu rechnen. Ihm wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, Fuß zu fassen. Er liefe Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und seinen Sprachkenntnissen ergeben sich aus seinen gleichbleibenden Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde legte diese Angaben des Beschwerdeführers ihrer Entscheidung zugrunde.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

Die Feststellung zur psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers beruht auf den vorgelegten medizinischen Unterlagen. Zu seinen Klinikaufenthalten im Jahr 2017 hat der Beschwerdeführer im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 29.05.2018 Aufenthaltsbestätigungen und Arztbriefe vorgelegt. Die aktuelle Medikation ist dem in der mündlichen Verhandlung am 02.03.2020 vorgelegten nervenfachärztlichen Befund (Beilage zu OZ 27) zu entnehmen. Zudem hat der Beschwerdeführer im Lauf des Verfahrens medizinische Unterlagen bezüglich einer Hepatitis-Erkrankung vorgelegt. Aktuelle Unterlagen hierzu hat der Beschwerdeführer jedoch nicht vorgelegt und auch kein diesbezügliches Vorbringen erstattet, weswegen das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass dieser Erkrankung nicht mehr aktuell ist.

Die Feststellungen zu Herkunft und Lebenswandel des Beschwerdeführers beruhen auf seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben, die auch die belangte Behörde nicht in Zweifel zog. Die Erwerbstätigkeit des Vaters hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 (OZ 12, s. 6) konkretisiert.

Seine Geschwister hat der Beschwerdeführer durchgehend gleichbleibend angegeben.

Dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie ausreiste und an der iranisch-türkischen Grenze von seiner Familie getrennt wurde, hat der Beschwerdeführer durchgehend angegebenen. So hat der Beschwerdeführer bereits in der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.11.2015 angegeben, im Iran seine Familie verloren zu haben (Erstbefragungsprotokoll, S. 4) und gab auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 29.05.2018 an, seine Familie an der iranisch-türkischen Grenze verloren zu haben und nicht zu wissen, so sie sich befinde (Einvernahmeprotokoll, S. 3). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 schilderte der Beschwerdeführer schließlich lebhaft und überzeugend, wie es zur Trennung von seiner Familie gekommen war (OZ 12, S. 7).

Dass der Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers in Kundus lebt, geht aus den Angaben des Beschwerdeführers in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 29.05.2018 hervor, wo der Beschwerdeführer auch angibt, zu diesem Onkel in Kontakt zu stehen. In der mündlichen Verhandlung am 30.09.2019 behauptete der Beschwerdeführer sodann lapidar, seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu diesem Onkel zu haben (OZ 12, S. 6), jedoch ohne dies weiter zu begründen und ohne merkliches Interesse an diesem Umstand zu zeigen. Der Beschwerdeführer legt allerdings einerseits detailliert und lebendig dar, warum er zur übrigen Familie keinen Kontakt hat. Andererseits hätte der Beschwerdeführer mit dem Onkel den Kontakt zum letzten Familienangehörigen verloren. Daher überzeugt die lapidare Angabe des Beschwerdeführers nicht und geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass zum Onkel nach wie vor Kontakt besteht.

Neben dem Onkel mütterlicherseits führt der Beschwerdeführer ebenso gleichbleibend zwei Onkel väterlicherseits an, wobei der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 angibt, zu diesen keinen Kontakt zu haben. Er habe sie nicht mehr gesehen, seit er zehn Jahre alt gewesen sei (OZ 12, S. 6). Dass Bundesverwaltungsgericht beurteilt diese Angaben des Beschwerdeführers – im Gegensatz zum behaupteten Kontaktabbruch zum Onkel mütterlicherseits – als glaubhaft, weil der Beschwerdeführer zunächst gleichbleibend neben dem Onkel mütterlicherseits auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 29.05.2018 zwei weitere Onkel väterlicherseits in Afghanistan angegeben hat. Der Beschwerdeführer wurde von der belangten Behörde jedoch im Zuge der Einvernahme nicht weiter zum Verbleib der Onkel befragt. Nun macht der Beschwerdeführer allerdings im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme am 29.05.2018 wiederholt aus eigenem und am Rande wiederholt Angaben zum Onkel mütterlicherseits, während die Onkel väterlicherseits ansonsten keinerlei Erwähnung finden. Hierin sieht das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, dass die beiden Onkel des Beschwerdeführers im Leben des Beschwerdeführers – anders als der regelmäßig erwähnte Onkel mütterlicherseits – keine Rolle spielten. Damit sind auch die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 als glaubhaft zu beurteilen.

Die Feststellungen zu den Aktivitäten des Beschwerdeführers im Bundesgebiet beruhen auf den hierzu insbesondere im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 vorgelegten Bestätigungen. Im Hinblick auf die Lehre ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer die Begebenheiten um den Abbruch seiner Lehre in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 nachvollziehbar und lebendig schilderte. Zudem hat der Beschwerdeführer ein umfassendes Konvolut medizinischer Unterlagen vorgelegt.

Die Feststellungen zur Mitwirkung des Beschwerdeführers im Strafverfahren beruhen insbesondere auf dem Bericht der LPD Vorarlberg vom 25.05.2020 (OZ 33) sowie auf dem im Akt einliegenden Protokollsvermerk und gekürzte Urteilsausfertigung vom 10.10.2019, 61 Hv 118/19v (OZ 16).

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Im Hinblick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zum ausreiseauslösenden Vorfall teilt das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis die Einschätzung der belangten Behörde, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft ist. So schildert der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen vage und oberflächlich, widersprüchlich und vor dem Hintergrund der Informationen zur Lage im Herkunftsstaat nicht plausibel.

Zunächst beschränkt sich der Beschwerdeführer in seiner freien Erzählung des Fluchtvorbringens auf oberflächliche Angaben, beschreibt die Ereignisse pauschal und nicht als lebendigen Handlungsablauf.

Zwar hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es zur Berücksichtigung der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung einer besonders sorgfältigen Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen bedarf und dass die Dichte dieses Vorbringens nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden darf. Es müsse sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgt (etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0150). Nun war der Beschwerdeführer im Ausreisezeitpunkt 15 Jahre alt und damit zweifellos minderjährig im Sinne der obigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes. Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 (OZ 12, S. 7) und am 02.03.2020 (OZ 27, S. 9) vermochte der Beschwerdeführer allerdings – trotzdem er in diesem Zeitpunkt wenige Wochen älter war, als im Zeitpunkt des vermeintlich fluchtauslösenden Vorfalles – detailliert, lebendig und Handlungsschritt für Handlungsschritt zu beschreiben, wie er an der pakistanisch-iranischen Grenze von seiner Familie getrennt wurde. Eine vergleichbare Dichte erreicht das Vorbringen des Beschwerdeführers zum angeblich ausreiseauslösenden Vorfall nicht annähernd, sondern zieht sich der Beschwerdeführer lediglich auf vage Gemeinplätze zurück und schildert keinen Ereignisablauf.

Zwar ergibt sich aus der vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung vom 11.09.2019 (OZ 9) in das Verfahren eingebrachten UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in der Folge: UNHCR-Richtlinien), dass regierungsfeindliche Kräfte in Gebieten, in der sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern nutzen, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich widersetzen, seien ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Regierungsfeindliche Kräfte würden weiterhin Kinder rekrutieren, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 3. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung, S. 59 ff., insbesondere Buchstabe a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte [AGEs], S. 59 ff.). Aus der Übereinstimmung der vom Beschwerdeführer gleichbleibend vorgetragenen Rahmenhandlung mit einem Risikoprofil der UNHCR-Richtlinien lässt sich jedoch noch nicht schließen, dass das Fluchtvorbringen glaubhaft ist. Zudem lassen sich den eben zitierten UNHCR-Richtlinien noch keine Informationen hinsichtlich der konkreten Umstände und der konkreten Vorgehensweise der Taliban entnehmen.

Auch die EASO Country Guidance von Juni 2019 (in der Folge: EASO Country Guidance) – vom Bundesverwaltungsgericht ebenso mit Ladung vom 11.09.2019 (OZ 9) in das Verfahren eingebracht – berichtet grundsätzlich von Zwangsrekrutierung durch die Taliban, informiert jedoch, dass es diesen grundsätzlich nicht an freiwilligen Rekruten mangelt, weswegen sie nur in Ausnahmefällen auf Zwangsrekrutierung zurückgreifen. So würden sie etwa Personen mit militärischem Hintergrund rekrutieren sowie in Situationen akuten Drucks. Hinsichtlich der Folgen einer Weigerung ist auch der EASO Country Guidance zu entnehmen, dass diese ernste Konsequenzen bis hin zur Tötung haben kann (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 6. Individuals at risk of forced recruitment by armed groups, insbesondere Buchstabe a. Forced recruitment by the Taliban, S. 53).

Dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, dessen Kenntnis der Beschwerdeführer mit Stellungnahem vom 18.03.2020 (OZ 29) offenbarte, ist zudem zu entnehmen, dass Kundus-Stadt unter anderem im Jahr 2015 von den Taliban eingenommen wurde und von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden konnte (Kapitel 3. Sicherheitslage, Unterkapitel 3.19. Kunduz). Mit Blick auf die Ausreise des Beschwerdeführers im Jahr 2015 und die Kämpfe in der Provinz Kundus in diesem Zeitpunkt, ist eine derartige, von der EASO Country Guidance beschriebene Situation, die zu akutem Bedarf an Kämpfern führt, so wie auch der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme vom 18.03.2020 ausführt (OZ 29, S. 4) grundsätzlich denkbar. So geht auch aus dem vom Beschwerdeführer wiederholt in seiner Beschwerde (S. 51 ff.) zitierten ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Kundus: In welcher Form wird von aktiven Taliban Druck auf Familienmitglieder ausgeübt, sich dem Kampf für die Sache der Taliban anzuschließen?; Gibt es Sanktionen gegen Personen, die sich weigern? [a-10242-3 (10244)] von 25.07.2017 hervor, dass es in Kundus im Zusammenhang mit der Taliban-Großoffensive in Nordafghanistan, die im April 2015 begonnen habe, zu einer Zunahme der Rekrutierung minderjähriger Kämpfer gekommen sei.

Die konkret vom Beschwerdeführer beschriebene Vorgehensweise erweist sich jedoch als nicht plausible, wie sich aus der zitierten ACCORD-Anfragenbeantwortung ergibt. Dieser zufolge hätten die Taliban in der Provinz Kundus zunehmend auf Madrassas zurückgegriffen, um Kinder im Alter von 13 bis 17 militärisch auszubilden, von denen dann viele im Kampf eingesetzt worden seien, diese seien seit mindestens 2012 im Betrieb. Hinsichtlich der Vorgehensweise der Taliban bei der Rekrutierung Minderjähriger wird berichtet, dass sie diese ab einem frühen Alter indoktrinieren würden und sich diese so leicht zum Kampf überreden ließen. Mittels Zwang würden Minderjährige jedoch allgemein nicht rekrutiert. Zudem berichtet die Anfragenbeantwortung von finanziellen Anreizen, die Taliban würden die Kosten für den Madrassa-Besuch übernehmen und die Minderjährigen mit Nahrung und Kleidung versorgen. Damit steht die vom Beschwerdeführer beschriebene Vorgehensweise, dass die Taliban mittels Drohbrief und Todesdrohung die Übergabe des Beschwerdeführers zur Ausbildung erwirken wollten, nicht im Einklang mit den Länderberichten. Der Beschwerdeführer berichtet auch von keinerlei militärischer Ausbildung in der Koranschule, sondern behauptet die Aufforderung des Koranlehrers, an einer Ausbildung in Pakistan teilzunehmen.

Zudem erscheint nicht schlüssig, dass die Taliban die Familie des Beschwerdeführers nach dem Verrat des Vaters durch eine Anzeige an die Polizei nochmals aufforderten, den Beschwerdeführer zu ihnen zu schicken, statt die Familie direkt anzugreifen. So ist dem vom Beschwerdeführer in seiner Stellungnahem vom 18.03.2020 (OZ 29) zitierten Landinfo-Bericht: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23.08.2017 zu entnehmen, dass Kollaborateuere der Regierung als Strafe mit ihrer Ermordung zu rechnen haben, was im Übrigen auch mit der Einschätzung von Dr. XXXX , der zufolge mit einem Angriff und der Ermordung oder Verletzung von ein bis zwei Angehörigen der Familie zu rechnen gewesen sei (Verhandlungsprotokoll, OZ 27, S. 12) übereinstimmt. Auch die UNHCR-Richtlinien berichten, dass regierungsfeindliche Kräfte Zivilisten, die der Zusammenarbeit mit regierungsnahen Kräften, darunter die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte, verdächtigt werden, angreifen (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Buchstabe c) Zivilisten, die mit den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften/regierungsnahen Kräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen, S. 48). Auch hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 02.03.2020 diesbezüglich von Dr. XXXX befragt selbst angegeben, die Taliban hätten ihn auch mitnehmen können, sie hätten tun können, was sie möchten (OZ 27, S. 9). Der Beschwerdeführer gab zudem in der Erstbefragung am 17.11.2015 an, den Herkunftsstaat etwa 20 Tage zuvor (Erstbefragungsprotokoll, S. 4) verlassen zu haben und dies von Kundus aus. Damit hat der Beschwerdeführer Kundus ungefähr im Oktober verlassen und stellt er seine Ausreise so dar, als hätte er mit seiner Familie unmittelbar nach Erhalt des Drohbriefes das Land verlassen (Verhandlungsprotokoll OZ 12, S. 7). Aus dem vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung vom 11.09.2019 (OZ 9) in das Verfahren eingebrachten EASO COI Report: Afghanistan. Security situation von Juni 2019 ergibt sich übereinstimmend mit den Ausführungen des Beschwerdeführers in seiner Stellungnahme vom 18.03.2019 (OZ 29, S. 4), dass Kundus im Herbst 2015, genauer im September 2015, kurzfristig von den Taliban erobert wurde (Kapitel 2.20 Kunduz, Unterkapitel 2.20.2 Conflict background and actors in Kunduz, S. 194). Damit ist aber die in der Stellungnahme vom 18.03.2020 behauptete Rekrutierung des Beschwerdeführers aufgrund der bevorstehenden Frühjahrs-Offensive 2015 in Kundus nicht plausibel und weisen die Ausführungen, denen zufolge nicht klar sei, dass die Taliban sich im Frühjahr 2015 nicht so offen hätten bewegen können, im zeitlichen Kontext des behaupteten ausreiseauslösenden Vorfalles als nicht relevant und zudem als nicht im Einklang mit den Angaben des Beschwerdeführers stehend. Viel mehr war im Ausreisezeitpunkt im Herbst 2015 von einer starken Präsenz der Taliban in Kundus Stadt auszugehen, wie sich übereinstimmend aus den Angaben des Beschwerdeführers, der Einschätzung von Dr. XXXX und den vom Bundesverwaltungsgericht konsultierten schriftlichen Quellen zur Lage im Herkunftsstaat ergibt. Damit ist aber nicht nachvollziehbar, dass die Taliban die Familie trotz starker Präsenz und deren Anzeige nicht direkt angegriffen, sondern lediglich brieflich bedroht haben sollen.

Weiter fügen sich die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente hinsichtlich einer Bedrohung durch die Taliban („Drohbriefe“, „Anzeige“; OZ 36) nicht konsistent in die Schilderung ein. So ist die vorgelegte „Anzeige“ mit 03.03.1394 datiert (=24.05.2015), was mit der vom Beschwerdeführer behaupteten sofortigen Ausreise infolge der Bedrohung durch die Taliban nicht im Einklang steht. So ist der Beschwerdeführer – wie bereits ausgeführt – seinen eigenen Angaben zufolge etwa im Oktober 2015 und damit erst mehrere Monate später ausgereist. Hinsichtlich der Drohbriefe fällt zunächst auf, dass diese mit 27.07.1436 (=18.10.2057) und 19.07.1436 (=10.10.2057) datiert sind und sich damit in keinerlei zeitliche Beziehung zum Fluchtvorbringen setzen lassen. Hierzu wird im Übrigen angemerkt, dass der Beschwerdeführer selbst im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde ebenso hinsichtlich eines Drohbriefes den 27.07.1436 angibt und behauptet, dies sei Frühling/Sommer 2015. Zudem geht aus der Anzeigebestätigung ein anderer Hergang, als ihn der Beschwerdeführer selbst schildert, hervor. So gibt der Beschwerdeführer zunächst in der niederschriftlichen Einvernahme am 29.05.2018 an, der Vater habe Anzeige bei der Polizei erstattet, die Taliban hätten von dieser Anzeige erfahren und dann der ganzen Familie gedroht (Einvernahmeprotokoll, S. 6). Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2019 gab der Beschwerdeführer an, er habe seinem Vater berichtet, dass der Koranlehrer ihn nach Pakistan habe schicken wollen, weswegen der Vater eine Anzeige erstattet habe und der Mullah von der Polizei festgenommen worden sei. Erst danach hätten die Taliban der Familie Zettel geschickt und sie aufgefordert, den Beschwerdeführer zu ihnen zu schicken (OZ 12, S. 7). Aus der „Anzeige“ geht jedoch hervor, dass der Vater Anzeige erstattet haben will, nachdem er Drohbriefe der Taliban erhalten habe. Die Erzählung des Beschwerdeführers und die vorgelegten Dokumente erweisen sich damit als nicht stimmig. Zwar gibt der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung am 30.09.2019 auch an, „Nachdem uns der Zettel geschickt wurde und wir dagegen eine Anzeige gemacht haben, haben wir das Land verlassen“ (OZ 12, S. 7), was auch eine Interpretation des Ablaufes im Sinne der Schilderung in der „Anzeige“ zuließe. Nachdem aber der Beschwerdeführer den Ablauf in derselben Verhandlung noch anders darstellt, ist ein im Kern gleichbleibend geschilderter Handlungsverlauf nicht ersichtlich und erweist sich das Vorbringen des Beschwerdeführers als widersprüchlich.

Mit Stellungnahme vom 18.03.2020 (OZ 29) führt der Beschwerdeführer aus, es sei unklar, wie der Sachverständige zu seiner Ansicht komme, er benenne seine Quellen nicht und verweise lediglich auf Sinneswahrnehmungen im Rahmen seines Besuchs in Afghanistan zuletzt 2018 sowie auf sein Literaturstudium. Der Sachverständige habe zweifellos große Kenntnisse hinsichtlich Kultur und Politik Afghanistans, daraus lasse sich allerdings keine definitive Expertise in gewissen Detailfragen ableiten. Besonders, was die Situation im Frühjahr 2015 betreffe, stütze er seine Antworten auf keinerlei spezifische Quellen. Es sei unklar, wen der Sachverständige in der Verhandlungspause telefonisch konsultiert habe und ob die Quelle in Kundus tatsächlich über diesen Zeitraum berichten könne. Das Gutachten sei im Lichte von Rechtsprechung und Lehre mangelhaft und als Beweismittel unbrauchbar. Es sei daher nicht geeignet, die Unglaubwürdigkeit des konsistenten Vorbringens des Beschwerdeführers schlüssig zu begründen.

Dem ist zunächst entgegen zu halten, dass die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht in das Aufgabengebiet eines Sachverständigen fällt, sondern dem Kernbereich der richterlichen Beweiswürdigung zuzurechnen (VwGH 23.03.2020, Ra 2020/14/0084). Zudem hat der Verwaltungsgerichthof aufgrund der eingeschränkten Ermittlungsmöglichkeiten bzw. besonderen Ermittlungsschwierigkeiten im Asylverfahren eingeräumt, dass es im Sinne des § 46 AVG geeignet und zweckdienlich sein kann, Privatpersonen, die das Vertrauen des Gerichts genießen, mit Erkundigungen im Herkunftsstaat des Asylwerbers zu beauftragen. Bei von diesen Privatpersonen abgegebenen Stellungnahmen und Berichten handelt es sich – so der Verwaltungsgerichtshof – nicht um einen Beweis durch Sachverständige im Sinne des § 52 AVG, sondern um Beweismittel sui generis (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

Bei der Würdigung dieser Ermittlungsergebnisse ist der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zufolge aber stets zu berücksichtigen, dass die Qualifikation und die Vorgangsweise der ermittelnden Privatperson sich einer Kontrolle weitgehend entziehen und sie im Gegensatz zu einem Sachverständigen im Sinn des § 52 AVG auch nicht persönlich zur Verantwortung gezogen werden könne. Darauf ist in der Beweiswürdigung Bedacht zu nehme. Insbesondere ist eine derartige Stellungnahme kein Sachverständigengutachten, sondern ein sonstiges Beweismittel, das der freien Beweiswürdigung unterliegt (VwGH 28.04.2020. Ra 2019/14/0537).

Das Bundesverwaltungsgericht stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es sich bei Dr. XXXX um einen länderkundlichen Experte und Vertrauensperson des Gerichts im Sinne der obigen Judikatur handelt, der dem Verfahren beigezogen wurde. Hier ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer die Integrität und Vertrauenswürdigkeit des länderkundlichen Experten Dr. XXXX nicht in Zweifel zieht und selbst einräumt, dass dieser über große Kenntnisse hinsichtlich Kultur und Politik Afghanistans verfügt (OZ 29, S. 3). Im Hinblick darauf, dass sich aus dieser Expertise keine Expertise in Detailfragen ableiten lasse, ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht die Angaben des Dr. XXXX als Baustein einer breiten Beweiswürdigung heranzieht (Vgl. VwGH 03.06.2020, Ra 2020/20/0161). Seine Expertise steht – wie bereits oben im Detail dargelegt – im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht außerdem konsultierten zum Teil vom Beschwerdeführer selbst eingebrachten schriftlichen Quellen zur Lage im Herkunftsstaat (UNHCR, EASO, ACCORD, Länderinformationsblatt, etc.), neben die das Bundesverwaltungsgericht Dr. XXXX als länderkundlichen Experten gestellt wissen will. Zudem haben sich die inhaltlichen Einwände, zu deren Beleg der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme keine länderkundlichen Quellen benennt (OZ 29, S. 4) – wie bereits ausgeführt – als nicht haltbar erwiesen.

Insgesamt kommt das Bundesverwaltungsgericht in einer Gesamtschau zu dem Schluss, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zu den ausreiseauslösenden Umständen nicht glaubhaft ist.

Im Hinblick auf eine Zwangsrekrutierungsgefahr im Fall der Rückkehr ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer – wie bereits ausgeführt – nicht glaubhaft machen konnte, dass er in der Vergangenheit bereits von Zwangsrekrutierung betroffen war. Vor dem Hintergrund der oben umfassend zitierten Berichte – denen zufolge die Taliban bei der Rekrutierung nur in Ausnahmefällen auf Gewalt und Zwang zurückgreifen – in Zusammenschau damit, dass der Beschwerdeführer nicht über Fähigkeiten oder Erfahrungen verfügt, die ihn für die Taliban interessant machen, ist auch im Fall der Rückkehr nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer von den Taliban gezwungen würde, für sie zu kämpfen oder zu arbeiten.

Im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Beschwerdeführers führt dieser in seiner Stellungnahme vom 28.12.2017, sowie in seiner Beschwerde (S. 30 f.) auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass in Afghanistan die Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht in ausreichendem Maße stattfinde und diese nicht selten unter unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ würden. Dazu ist den UNHCR-Richtlinien zu entnehmen, dass Personen, die an Behinderungen, insbesondere Personen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, Misshandlungen durch Mitglieder der Gesellschaft ausgesetzt seien, darunter auch die Angehörigen ihrer eigenen Familie. Die Krankheit würde als Bestrafung für von den Betroffenen oder ihren Eltern begangene Sünden betrachtet werden. Diese Personen würden diskriminiert und hätten nur eingeschränkten Zugang zu Erwerbstätigkeit, Bildung und angemessener medizinischer Betreuung (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 9. Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, und Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, S. 91). Damit übereinstimmend enthalten auch die EASO Country Guidance ein Risikoprofil, dass sich auf Personen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen bezieht (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 15. Persons living with disabilities and persons with severe medical issues, S. 67 f.). Die EASO Country Guidance berichtet zwar von fehlender adäquater medizinischer Versorgung, dies erfolge jedoch nicht intentional und durch konkrete Akteure. Diskriminierung und Misshandlung bzw. deren Häufigkeit und Intensität würden von individuellen Faktoren abhängen, wobei insbesondere die Natur und Sichtbarkeit der Erkrankung als relevante Faktoren angeführt werden. Die beim Beschwerdeführer festgestellte psychische Erkrankung (Anpassungsstörung) erweist sich weder als an sich schwer, noch als spezifisch sichtbar. Zudem ergibt sich aus den eben zitierten Berichten lediglich ein erhöhtes Übergriffsrisiko für psychisch Erkrankte, jedoch nicht, dass jeder psychisch Erkrankte im Herkunftsstaat automatisch und ohne Hinzutreten weiterer individueller Umstände Misshandlungen und Übergriffen ausgesetzt ist. So referiert UNHCR in Fußnoten einige konkrete Berichte, die von Einzelfällen berichten, ein systematisches Vorgehen, dass jeden Erkrankten beinahe automatisch zum Betroffenen macht, lässt sich dem jedoch nicht entnehmen. Auch der Einschätzung von UNHCR zufolge hängt das Risiko der Betroffenen, Opfer von Misshandlungen oder Übergriffen zu werden, mit den Umständen des Einzelfalles zusammen (S. 92). Folglich wurde mangels anderer konkreter Anhaltspunkte festgestellt, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr keine Übergriffe oder Misshandlungen wegen seiner psychischen Erkrankung drohen, sowie, wenn der Beschwerdeführer die notwendige Behandlung der Erkrankung im Herkunftsstaat allenfalls nicht erhält, dies lediglich aus den allgemeinen Unzulänglichkeiten der Gesundheitsversorgung in Afghanistan resultiert.

In seiner Beschwerde führt der Beschwerdeführer zudem aus, „verwestlichte“ Rückkehrer seien Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte ausgesetzt und verweist hierzu auf die UNHCR-Richtlinien, Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Buchstabe i) Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen, S. 52-53). Die UNHCR-Richtlinien erwähnen zwar Vorfälle, dass Rückkehrer aus westlichen Ländern von regierungsfeindlichen Gruppierungen bedroht, gefoltert oder getötet wurden, weil sie sich vermeintlich die diesen Ländern zugeschriebenen Werte zu eigen Gemächt hätten und „Ausländer“ geworden seien. UNHCR stellt dies jedoch nicht als „Massenphänomen“ dar. Die EASO Country Guidance berichten ebenso davon, dass Personen, die aus westlichen Staaten zurückkehren Ziel von Aufständischen werden können, weil sie als unislamisch wahrgenommen werden könnten. Für Männer wird allerdings berichtet, dieses Risiko sei minimal und von den spezifischen Umständen abhängig (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 13. Individuals perceived as ‘Westernised’, S. 65-66). Zudem äußert der Beschwerdeführer selbst keine Rückkehrbefürchtungen im Hinblick auf eine vermeintliche Verwestlichung und hieraus resultierender Übergriffsgefahr, sondern ist dieses Vorbringen im Wesentlichen auf die von seinem Rechtsvertreter verfassten Schriftsätze beschränkt und pauschalierend vorgebracht. Damit ist jedoch nicht konkret dargetan, inwiefern dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr Übergriffe oder Misshandlungen durch Privatpersonen oder staatliche Stellen drohen sollten, weil er aus dem „westlichen“ Ausland zurückkehrt.

Erstmals mit Schreiben vom 25.09.2019 bringt der Beschwerdeführer vor, er sei als Informant für das LKA Vorarlberg tätig und werde seine Identität im Zuge seiner Zeugenaussage in der Hauptverhandlung gegen einen der Täter bekannt werden und unter den Afghanen Kreise ziehen. Durch diese Szene habe der Beschwerdeführer um sein Leben zu fürchten (OZ 11). Im Zuge der mündlichen Verhandlung am 30.09.2019 gab der Beschwerdeführer (bzw. sein Rechtsvertreter) hierzu an, die akute Gefährdungslage entstehe erst in der Hauptverhandlung, die Personen würden mit großer Wahrscheinlichkeit nach Afghanistan abgeschoben und er habe große Angst. Sie könnten ihn leicht in Afghanistan finden (OZ 12, S. 9-10). Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 02.03.2020 wurde der Beschwerdeführer nochmals näher zur behaupteten Gefahr befragt, wobei er kaum nähere Angaben zu seinen behaupteten Verfolgern machen konnte. Zwar berichten die UNHCR-Richtlinien, dass gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellung bei einer Blutfehde – einer in erster Linie paschtunischen Tradition, die im Paschtunwali verwurzelt ist – die Mitglieder einer Familie die Mitglieder einer anderen Familie töten und diese durch unterschiedliche Taten ausgelöst werden können (etwa Mord, Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen, ungelöste Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum). Die Rache sei gegen den Täter selbst zu richten (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 14. In Blutfehden verwickelte Personen, S. 110-111). Der Beschwerdeführer kann jedoch nur die Namen seiner behaupteten Verfolger nennen (OZ 27, S. 3-4), vermag jedoch etwa nicht anzugeben, zu welchen paschtunischen Stämmen sie gehören (OZ 27, S. 4) und macht auch keine näheren Angaben zu deren Familien- und Vermögensverhältnissen im Herkunftsstaat. Damit ist weder ersichtlich, wie die Behauptung des Beschwerdeführers, einer seiner behaupteten Verfolger sei „so stark/mächtig“ (OZ 27, S. 5) begründet sein soll, noch ist nachvollziehbar dargelegt, welcher Netzwerke sich der behauptete Verfolger bedienen sollte, um den Beschwerdeführer zu finden. Im Wesentlichen beschränkt sich der Beschwerdeführer in seinem diesbezüglichen Fluchtvorbringen auf vage und unkonkrete Angaben, die er oberflächlich in allgemeinen Länderberichten verankert. Bereits dafür, dass die bereits verurteilten Personen überhaupt Rache an ihm nehmen wollen, liefert der Beschwerdeführer keinerlei konkreter Anhaltspunkte. Insgesamt ist die vom Beschwerdeführer behauptete Gefahr damit zu vage, um von einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Gefährdung des Beschwerdeführers auszugehen.

2.3.    Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Die Feststellung zum innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in Afghanistan beruht auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 29.06.2020 (in der Folge: Länderinformationsblatt), der EASO Country Guidance und dem auch deren Grundlage bildenden EASO COI Report. Afghanistan. Security situation von Juni 2019, sowie den UNHCR-Richtlinien.

Die Feststellungen zur Sicherheitslage in der Provinz Kundus beruhen auf dem Länderinformationsblatt, Kapitel 2. Sicherheitslage, Unterkapitel 2.19. Kunduz, auf dem EASO COI Report: Afghanistan. Security situation von Juni 2019, Kapitel 2.20 Kunduz, S. 193 ff., sowie auf der EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel III. Subsidiary protection, Unterkapitel Article 15(c) QD, Unterabschnitt Kunduz, S. 106-107.

Aufgrund der eben dargestellten Berichten hinsichtlich der Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe Aufständischer misshandelt oder verletzt zu werden bzw. zu Tode zu kommen. Auch EASO geht im Übrigen davon aus, dass die Gewalt in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers ein hohes Niveau erreicht (EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel III. Subsidiary protection, Unterkapitel Article 15(c) QD, Unterabschnitt Kunduz, S. 106-107).

Die Feststellungen zur COVID-19-Situation im Herkunftsstaat beruhen auf dem UNOCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19 von 12.07.2020 und der ACCORD, Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) von 05.06.2020, die die Lage im Wesentlichen in Übereinstimmung mit dem Länderinformationsblatt schildern (Abschnitt Länderspezifische Anmerkungen, Unterabschnitt COVID-19).

Zur medizinischen Versorgung psychisch Kranker lässt sich den bereits zitierten UNHCR-Richtlinien entnehmen, ihr Zugang zu angemessener medizinischer Betreuung sei eingeschränkt (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 9. Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, und Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, S. 91). Auch das Länderinformationsblatt berichtet von Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, einem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung und falschen Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen. Psychisch Erkrankte seien oftmals einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt (Kapitel 21. Medizinische Versorgung, Unterkapitel 21.1. Psychische Erkrankungen). Die Feststellungen zu den negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die afghanische Gesundheitsversorgung beruhen auf dem UNOCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19 No. 61 von 12.07.2020. Damit erscheint nicht wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer eine Behandlung erhalten kann und wurde eine entsprechende Feststellung getroffen.

Die Feststellungen zur Wirtschafts- und Versorgungslage beruhen auf dem Länderinformationsblatt, Kapitel 20. Grundversorgung. Dort wird auch berichtet, dass es finanzielle oder sonstige Unterstützung in Afghanistan nicht existiert.

Die Feststellung zu den Folgen einer Niederlassung des Beschwerdeführers in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ergibt sich insbesondere aus einer Zusammenschau der individuellen Umstände und Merkmale, die der Beschwerdeführer in seiner Person vereint.

Maßgebliche Faktoren für die Frage, ob sich der Beschwerdeführer im Fall einer Rückführung nach Herat (Stadt) oder Mazar-e Sharif eine Lebensgrundlage wird aufbauen können, sind insbesondere Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, ethnischer und sprachlicher Hintergrund, Religion, das Vorhandensein von Identitätsdokumenten, Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, sozialer und ökonomischer Hintergrund, Bildungshintergrund, Zugang zu einem sozialen Unterstützungsnetzwerk und Religion (EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel V. Internal protection alternative, Unterabschnitt Reasonableness to settle, S. 135 ff.). Damit übereinstimmend stellen nach den UNHCR-Richtlinien insbesondere Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, Verwandtschaftsverhältnisse sowie Bildungs- und Berufshintergrund (UNHCR-Richtlinien, Kapitel III. Internationaler Schutzbedarf, Unterkapitel C. Interne Flucht-, Neuansiedlungs- oder Schutzalternative, Unterkapitel 2. Analyse der Zumutbarkeit, Buchstabe a) Die persönlichen Umstände des Antragstellers, S. 122) relevante Faktoren dar, wobei neben der Berücksichtigung dieser spezifischen persönlichen Umstände den UNHCR-Richtlinien zufolge auch darauf Bedacht zu nehmen ist, ob der Betreffende seine grundlegenden Menschenrechte wird ausüben können sowie ob er im für die Neuansiedelung in Betracht gezogenen Gebiet Möglichkeiten für ein wirtschaftliches Überleben (Zugang zu Unterkunft, Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur [Trinkwasser, sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung], Lebensgrundlage) unter würdigen Bedingungen vorfindet (UNHCR-Richtlinien, Kapitel III. Internationaler Schutzbedarf, Unterkapitel C. Interne Flucht-, Neuansiedlungs- oder Schutzalternative, Unterkapitel 2. Analyse der Zumutbarkeit, Buchstabe c) Achtung der Menschenrechte und wirtschaftliches Überleben, S. 123 f.).

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig, spricht mit Dari eine im Herkunftsstaat verbreitete Sprache. Zudem verfügt er über im Herkunftsstaat erworbene Schulbildung und hat auch im Bundesgebiet Bildungsangebote wahrgenommen. Er gehört als Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zur im Herkunftsstaat mit 80 bis 89,7 % der Gesamtbevölkerung mehrheitlich vertretenen Religionsgemeinschaft (Länderinformationsblatt, Kapitel 15. Religionsfreiheit) und als Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen zur größten Volksgruppe des Herkunftsstaates (Länderinformationsblatt, Kapitel 16. Relevante Ethnische Minderheiten, Unterkapitel 16.1. Paschtunen). Insbesondere wird hinsichtlich dieser Volksgruppe nicht von spezifischen Diskriminierungen oder Gefahren berichtet. An körperlichen Vorerkrankungen leidet der Beschwerdeführer nicht, weswegen er hinsichtlich COVID-19 nicht zur Risikogruppe gehört.

Der Beschwerdeführer verfügt jedoch nicht über Berufserfahrung und ebenso nicht über Familienangehörige oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Damit verfügt der Beschwerdeführer nicht über ein soziales Netzwerk, dass dem Länderinformationsblatt zufolge für das Überleben in Afghanistan wichtig und für Rückkehrer bei der Anpassung an das Leben in Afghanistan besonders ausschlaggebend ist. Insbesondere stelle ein Mangel an Netzwerken eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar (Kapitel 22. Rückkehr). Auch EASO schätzt ein Unterstützungsnetzwerk per se als essentiell für die Ansiedelung ein (EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel V. Internal protection alternative, Abschnitt Reasonableness to settle, Unterabschnitt Individual circumstances, S. 136). Aktuell ist das wirtschaftliche Leben in den drei Städten zudem bedingt durch Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie eingeschränkt, insbesondere Tagelöhner sind hiervon betroffen. Der ACCORD, Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) von 05.06.2020 zufolge gibt es aufgrund der landesweiten COVID-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit. Dies treffe insbesondere den informellen Arbeitsmarkt, auf den ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte angewiesen sei. Bei Arbeitsmangel biete dieser kein Sicherheitsnetz. Zudem ist es auch zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise gekommen und wurden Hotels geschlossen. Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in der Lage ist, Arbeit zu finden, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, erscheint unter diesen Bedingungen – insbesondere nachdem Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten, als formelle Qualifikation (Kapitel 20. Grundversorgung, Abschnitt Arbeitsmarkt) – als nicht wahrscheinlich. Auch verfügt der Beschwerdeführer nicht über Berufserfahrung, was seine Chancen, Arbeit zu finden zweifellos weiter beeinträchtigt. Zudem ist dem Bericht, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener von Friederike Stahlmann vom 27.03.2020 zu entnehmen, dass insbesondere Rückkehrer stigmatisiert werden, weil sie primär für die Gefahr durch Corona verantwortlich gemacht werden. Das Stigma, Seuchenüberträger zu sein, treffe auch aus Europa Eingereiste (S. 2). Dadurch würde die Niederlassung des Beschwerdeführers zusätzlich erschwert. Hierdurch würde eine Suche des Beschwerdeführers nach Arbeit und Unterkunft zweifellos weiter behindert.

Außerdem ist dem Bericht, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener von Friederike Stahlmann vom 27.03.2020 auch zu entnehmen, dass die Teehäuser ebenso als Gegenmaßnahme geschlossen wurden (S. 3). Der Beschwerdeführer wäre daher mangels Verfügbarkeit von Unterkünften von Obdachlosigkeit bedroht. Insbesondere gibt es auch keine staatliche Unterbringung von Rückkehrern (Länderinformationsblatt, Kapitel 22. Rückkehr). Nachdem der Beschwerdeführer in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif nicht über soziale Anknüpfungspunkte verfügt, durch die ihm allenfalls Unterkunft gewährt werden könnte, wäre er im Fall der Rückkehr unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht.

Hinsichtlich einer allfälligen Unterstützung durch die Familie ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer, seit er auf der Flucht von seiner Familie getrennt wurde, keinen Kontakt mehr aufnehmen konnte, weswegen mit deren Unterstützung nicht zu rechnen ist. Zu den Onkeln väterlicherseits besteht ebenso kein Kontakt. Im Hinblick auf den Onkel mütterlicherseits ist anzumerken, dass dem Länderinformationsblatt zufolge aus der bereits schlechten wirtschaftlichen Lage im Herkunftsstaat – wobei sich diese Informationen auf einen Zeitpunkt vor Ausbrechen der Pandemie beziehen – und individuellen Faktoren resultiert, dass Unterstützung durch die Familie nur temporär und nicht immer gesichert erfolgt (Kapitel 22. Rückkehr). Hinsichtlich des Onkels mütterlicherseits haben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben, die eine dauerhafte Unterstützung des Beschwerdeführers erwarten lassen. Zudem ist auch der Onkel des Beschwerdeführers zweifellos von der jüngsten Anspannung der Versorgungs- und Wirtschaftslage infolge der COVID-19-Maßnahmen betroffen. Von ausreichender Unterstützung durch die Familie ist damit nicht auszugehen. Staatliche Unterstützung existiert dagegen nicht und wird hinsichtlich Rückkehrunterstützung berichtet, dass ein koordinierter Mechanismus nicht existiert. Insbesondere wird Rückkehrhilfe nur temporär und kurzfristig gewährt und funktioniert eine allfällige Anschlussunterstützung nicht lückenlos (Länderinformationsblatt, Kapitel 22. Rückkehr).

Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass es dem Beschwerdeführer im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen zu bestreiten und seine Lebensgrundlage zu erwirtschaften, dass er mit ausreichender Unterstützung seiner Familie nicht zu rechnen hat und insbesondere, dass es ihm nicht möglich wäre, Fuß zu fassen und er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Zur Plausibilität und Seriosit

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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