TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/21 W187 2189532-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.07.2020
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Entscheidungsdatum

21.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W187 2189532-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Gregor KLAMMER, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis 21.7.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, ledig zu seinen und keine Kinder zu haben. Er sei am XXXX in Mazar-e Sharif in Afghanistan geboren, Angehöriger der Volksgruppe der Qizilbasch und schiitischer Moslem. Sein Vater sei bereits verstorben, die restliche Familie lebe nach wie vor in Mazar-e Sharif. Ein Bruder des Beschwerdeführers lebe in Österreich. Als Beweggrund für seine Ausreise gab er an, er habe Afghanistan wegen der Taliban verlassen. Diese hätten vom Beschwerdeführer verlangt, dass er mit ihnen zusammen kämpfe. Andernfalls würde man ihn töten. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er um sein Leben.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX , XXXX , wurde die Obsorge über den (zum damaligen Zeitpunkt) minderjährigen Beschwerdeführer in vollem Umfang an den Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , übertragen.

4. Am XXXX langte eine Urgenz des Beschwerdeführers, vertreten durch seinen Obsorgeberechtigten, beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein.

5. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte der Beschwerdeführer der belangten Behörde eine Bestätigung über den Besuch der XXXX , Höhere technische Bundeslehr- und Versuchsanstalt, und ersuchte neuerlich um Anberaumung eines Termins für die Einvernahme.

6. Bei der belangten Behörde langte ein Schreiben der Volksanwaltschaft vom XXXX gerichtet an den Bundesminister für Inneres, ein, wonach sich der Beschwerdeführer betreffend die Dauer seines Verfahrens beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an die Volksanwaltschaft gewandt habe.

7. Am XXXX übermittelte das Bezirksgericht XXXX der belangten Behörde den Obsorgebeschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX , XXXX .

8. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein seines Obsorgeberechtigten und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen zusammengefasst aus, sein ältester Bruder, XXXX , habe eine Apotheke in einem Dorf außerhalb von Mazar-e Sharif eröffnet und diese sieben Jahre lang betrieben. Der Beschwerdeführer habe die Schule besucht und seinem Bruder nebenbei in der Apotheke geholfen. In einem zehn Minuten von der Apotheke entfernten Dorf hätten Leute gewohnt, die Taliban seien. Die Taliban hätten Verletzte regelmäßig zum Bruder des Beschwerdeführers zur Behandlung gebracht und dem Beschwerdeführer Koranunterricht in einer Moschee gegeben. Ihr Ziel sei es gewesen, aus dem Beschwerdeführer einen Talibankämpfer zu machen. Ungefähr drei Wochen vor seiner Flucht habe der „Chef“ der Taliban vom Beschwerdeführer verlangt, dass er sich ihnen anschließe und für die Taliban kämpfe. Er habe ihm ein Handy und 500 Afghani gegeben und gemeint, der Beschwerdeführer solle immer erreichbar sein. Man würde ihn anrufen und ihm sagen, was er machen solle. Der „Chef“ der Taliban sei bewaffnet gewesen und habe gemeint, der Beschwerdeführer solle seinem Bruder nichts erzählen. Ansonsten würde man ihn töten. Zurück in Mazar-e Sharif habe der Beschwerdeführer im Fernsehen gesehen, dass die Taliban unschuldige Menschen umbrachten. Er habe große Angst gehabt, eines Tages selbst eine Bombe transportieren zu müssen. Am nächsten Tag habe der Beschwerdeführer seinen Mitschülern davon erzählt. Zu Hause habe der Beschwerdeführer einen Anruf bekommen und sei gefragt worden, wann er wieder im Dorf sei. Der Beschwerdeführer habe gesagt, dass er krank sei. Am nächsten Tag habe er den Vater eines Freundes aufgesucht, der Anwalt sei, und ihm alles erzählt. Dieser habe ihn zu Polizisten gebracht, denen der Beschwerdeführer ebenfalls alles erzählt habe. Die Polizei hätten gemeint, der Beschwerdeführer solle sich melden, sollte er nochmals angerufen werden. Am nächsten Tag habe der Beschwerdeführer einen neuerlichen Anruf erhalten und auf Verlangen der Polizei einen Treffpunkt mit den Taliban ausgemacht, sei jedoch nicht hingegangen. Stattdessen sei die Polizei zum Treffpunkt gegangen und es sei zum Kampf gekommen. Am nächsten Tag hätten die Taliban den Beschwerdeführer gesucht. Auch sein Bruder, XXXX , habe an diesem Abend einen Anruf von den Taliban erhalten. Die Taliban würden dem Beschwerdeführer die Schuld für den Tod ihrer Angehörigen beim Kampf mit der Polizei geben und sich rächen wollen. Die Apotheke sei in dieser Nacht gestürmt und niedergebrannt worden. Auch die Polizei habe dem Beschwerdeführer und seiner Familie nicht helfen können und ihnen empfohlen, wegzuziehen. Am nächsten Tag seien sie in den östlichen Teil der Stadt Mazar-e Sharif gezogen. Die Taliban hätten den Bruder des Beschwerdeführers nochmals angerufen und mitgeteilt, dass sie die Familie überall finden und sie umbringen würden. Sein Bruder und seine Mutter hätten daraufhin gemeint, dass der Beschwerdeführer das Land verlassen müsse.

9. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch Dr. Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensfehlern.

11. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Entscheidung vorgelegt. Unter einem verzichtete die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

12. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an und übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan.

13. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX ein Empfehlungsschreiben betreffend den Beschwerdeführer.

14. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Sonst geht es mir gut. Nur wenn ich lange rede, bekomme ich Kopfschmerzen. Gegen Kopfschmerzen nehme ich auch Tabletten ein. Ja, ich kann Ihre Fragen beantworten.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Ich nehme meistens Kopfschmerztabletten ein. Manchmal bekomme ich diese vom Arzt verschrieben und manchmal bringt mir mein Bruder welche. Mein Bruder ist auch selbst ein Arzt. Wegen meinem Magen nehme ich auch Tabletten ein. Weiters kann ich in der Nacht nicht gut schlafen oder ich wache mit Angst auf. Ich stehe deshalb unter psychischer Behandlung und zwar seit einem Jahr. Diesbezüglich habe ich auch ein Schreiben. Das haben Sie bereits. Es wurde Ihnen zugesendet.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Das, was ich dort gesagt habe, ist wahr. Aber sie haben mir dort nicht genügend Zeit gegeben um alles zu erzählen. Ich habe dort nicht alles vollständig erzählt. Dann ist die Polizei gekommen.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in Mazar-e Sharif geboren.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Meine Muttersprache ist Dari. Früher konnte ich gut lesen und schreiben, aber jetzt habe ich seit fünf Jahren nicht mehr Dari geschrieben, deshalb habe ich das Schreiben verlernt. Ich kann jetzt nicht so gut schreiben. Farsi kann ich ein wenig. Deutsch und Englisch kann ich auch. Englisch aber nur ein wenig, mittelmäßig.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin Qizilbash, schiitischer Moslem und ledig.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe immer schon in Mazar-e Sharif gelebt. Ich war einmal mit meinem Bruder, der jetzt hier lebt, für circa zwei oder drei Monate in XXXX . Damals habe ich meinen Bruder begleitet. Ich war sehr klein.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: In unserem Haus.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe noch die Schule besucht und habe von meinem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr in der Apotheke meines Bruders XXXX mitgearbeitet.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Bis zur neunten Klasse.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie. Ich habe einmal gehört, dass meine Familie Afghanistan verlassen hat. Ob sie im Iran oder Pakistan leben, weiß ich nicht.

Richter: Haben Sie in Afghanistan weitere Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Ein Cousin mütterlicherseits von uns lebte noch in Afghanistan. Mein Bruder hatte im Jahr XXXX mit ihm per Facebook Kontakt, aber danach nicht mehr.

Richter: Wollen Ihre Eltern und Geschwister auch nach Österreich kommen?

Beschwerdeführer: Ihr Leben ist in Gefahr. Wir haben jetzt keinen Kontakt zu ihnen und wissen nicht wo sie sind.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich habe den Pflichtschulabschluss gemacht. Ich bin in der Schule. Ich habe Deutschkurse besucht in verschiedenen Kursen. Im Sommer habe ich freiwillig bei der XXXX gearbeitet. Ich gehe auch in die Schule. Ich war auch ein Jahr in der Tagesschule. Jetzt gehe ich in die Abendschule. Ich konnte nicht in Ruhe schlafen. Ich hatte immer Angst. Deshalb bin ich an die Abendschule gegangen. Alle Dokumente sind da.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer auf Deutsch: Ja, ich habe auch Freude, Schulfreunde und wir gehen gemeinsam ins Kino oder spielen Tischtennis.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer auf Deutsch: Ich gehe in den XXXX wegen lernen. Manchmal machen wir auch Ausflüge. Ich lerne, was ich brauche. Sonst spielen wir manchmal im Park Fußball oder Volleyball.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer auf Deutsch: Nein.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Bis zu meinem fünfzehnen Lebensjahr habe ich in der Apotheke meines Bruders mitgeholfen. Ich bin auch deshalb hingegangen damit ich beschäftigt bin. Wir müssen auch um zu beten in die Moschee gehen, weil die Menschen in der Umgebung und auch die Taliban es so wollten. Die Dorfbewohner waren auch selbst Taliban. Als ich circa 14,5 Jahre alt war und in die Moschee ging, wurde über den Islam und Dschihad mit uns gesprochen. Die letzten fünf oder sechs Monate circa als ich noch in Afghanistan war, wurde mit mir und anderen Jugendlichen in der Moschee über den Islam und Dschihad gesprochen. Das letzte Mal, nach dem Gebet vor dem Sonnenuntergang in der Moschee, sagte mir der Anführer von den Taliban namens XXXX , dass ich in der Moschee bleiben soll. Die anderen gingen weg. Er hat mir ein Handy gegeben und 500 Afghani und sagte mir, wenn ich angerufen werde und die Taliban meine Hilfe brauchen, soll ich helfen. Da er bewaffnet war, konnte ich nicht nein sagen, weil ich Angst hatte. Außerdem wollte ich auch selbst irgendwie ihnen helfen, weil sie mit mir selbst zuvor viel darüber gesprochen haben. Am nächsten Tag hat mich XXXX angerufen und fragte mich, wann ich ins Dorf komme. Er habe mit mir zu tun. Er sagte mir, er würde mir dann etwas geben, dieses solle ich dann in die Stadt bringen. Ich hatte ein Moped. Mit diesem habe ich auch für meinen Bruder ab und zu Medikamente transportiert. Am Abend habe ich zuhause im Fernsehen einen Bericht gesehen. Dort wurde gezeigt, dass die Taliban den Kindern eine Bombe geben, um diese irgendwo zu platzieren. Dadurch sterben unschuldige Menschen. Ich habe Angst bekommen. Am nächsten Tag, als ich dann in der Schule war, habe ich mit meinem besten Freund darüber gesprochen. XXXX sagte mir am Telefon auch, dass ich meinem Bruder und meiner Familie nichts sagen soll. Wenn ich das tue, würde er meinen Bruder und auch mich töten. Deshalb habe ich mit meinem Freund darüber gesprochen. Mein Freund hat mich dann nach der Schule zu seinem Vater gebracht. Sein Vater war in der Stadt als Staatsanwalt tätig. Der Vater von diesem Freund hat mich dann zu Beamten der nationalen Sicherheit gebracht. Ich wurde dort befragt. Sie fragten mich, wo die Taliban sich mit den anderen Menschen treffen. Ich sagte ihnen die Stellen. Sie haben auch mein Handy kontrolliert. Die Beamten sagten mir, ich solle jetzt nach Hause gehen und wenn ich das nächste Mal von den Taliban angerufen werde, soll ich sagen, dass ich krank bin und ich soll dann sofort die Beamten informieren. Als ich dann zuhause war, am Nachmittag, wurde ich wieder angerufen. Ich wurde gefragt wo ich bin. Ich habe ihnen gesagt, dass ich krank bin und habe dann sofort die Beamten angerufen. Die Beamten kamen dann zu uns nachhause. Sie kamen nicht ins Haus, sondern vors Haus. Sie haben mir mein Handy abgenommen. Sie waren zwei oder drei Beamte in Zivil gekleidet. Sie sagten mir, ich solle zuhause bleiben. Am Abend, als mein Bruder dann zuhause war, wurde er vom Dorf angerufen, dort wo er die Apotheke hatte. Ihm wurde gesagt, dass er morgen nicht ins Dorf kommen soll, weil die Regierung dort gegen die Taliban kämpft. Am nächsten Tag ist mein Bruder dann nicht in die Apotheke gegangen. Am Abend rief ihn sein Freund dann noch einmal an und sagte, dass die Taliban nach meinem Bruder und nach mir fragten. In der Nacht wurde dann unsere Apotheke in Brand gesetzt. Die Taliban riefen dann meinen Bruder an und sagten ihm, dass wir sie bei der Regierung verraten haben und deshalb haben die Regierung die Taliban im Dorf angegriffen. Es seien vier Taliban dabei ums Leben gekommen. Diese Taliban waren die Dorfbewohner. Sie sagten, dass sie sich für den Tod von den vier Taliban an uns rächen würden. Mein Bruder hat dann gleich die Polizei angerufen, aber die Polizei sagte, dass sie in der Nacht nichts zu können. Als am nächsten Tag mein Bruder einkaufen gehen wollte, hat er ein paar Leute aus dem Dorf mit Motorrädern in unserer Gasse gesehen. Er kam sofort wieder ins Haus und rief die Polizei an. Als die Polizei kam, waren diese Leute schon wieder weg. Die Polizei sagte dann, dass sie uns nicht bewachen können. Wir sollen unsere Wohnadresse wechseln. Wir sind dann in der gleichen Nacht in ein anderes Haus östlich von Mazar-e Sharif gezogen. Die Taliban haben dann meinen Bruder viel bedroht und ihm gesagt, dass sie sich für den Tod von diesen vier Taliban rächen würden und dass sie uns in ganz Afghanistan finden und töten würden. Diese vier getöteten Taliban waren auch Dorfbewohner. Mein Bruder XXXX organisierte mir dann einen Reisepass und ein iranisches Visum. Er sagte, dass er jetzt nicht genug Geld für die Ausreise der ganzen Familie hat. Deswegen sollte ich Afghanistan verlassen und sie würden dann nachkommen. Ich bin dann in den Iran geflogen.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Von den Taliban aus diesem Dorf, wo mein Bruder seine Apotheke hatte. Sie sagten meinem Bruder, dass sie uns in ganz Afghanistan finden würden. Sie haben ihre Leute in ganz Afghanistan und werden uns dort leicht finden. Sie sagten meinem Bruder auch, dass sie ein Foto von ihm haben.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: In den Iran bin ich legal geflogen. Von dort fuhr ich schlepperunterstützt über die Türkei nach Griechenland. Von Griechenland kam ich mit vielen anderen Flüchtlingen durch die offenen Grenzen über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Mein großer Bruder XXXX hat das bezahlt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: In meiner Niederschrift steht geschrieben, dass ich Farsi spreche. Ich spreche nicht Farsi, sondern Dari. Es gibt einige Fehler im Protokoll. Mein Bruder hat meine Niederschrift gelesen und hat diese Fehler festgestellt. Auch ich habe Fehler festgestellt.

Richter: Da steht überall Dari.

Beschwerdeführervertreter: Es war für ihn schwer zu verstehen.

Beschwerdeführer: Es war ein Missverständnis. Die Reihenfolge meiner Aussagen waren nicht richtig protokolliert. Zum Beispiel steht dort geschrieben, dass ich nachdem als die Taliban mir das Handy gab zur Polizei gegangen wäre. Das stimmt nicht. Richtig sind die Angaben, die ich heute gemacht habe. Dort steht, dass ich niemanden hier habe. Aber mein Bruder ist da und er ist auch mein Obsorgeberechtigter. Im Bescheid stand geschrieben, dass ich in Kabul leben könnte. Ich war damals minderjährig und kenne mich in Kabul nicht aus. Ich könnte dort nicht leben. Wenn ich dort gelebt hätte, müsste ich meine Tazkira überall herzeigen und bekanntgeben wer mein Vater ist und wo ich herkomme. Dadurch hätten die Taliban erfahren wo ich bin. Ich hätte auch keine Unterkunft gefunden als alleinstehender junger Mann. Da ich ein Qizil-bash bin, kann ich in Städten, wo Paschtunen leben, nicht wohnen, weil sie meistens auch Taliban sind.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Die Taliban würden überall durch meine Tazkira, meinen Vor- und Nachnamen finden und mich töten. Ohne Bekanntgabe meiner Daten könne ich nirgendwo in Afghanistan leben und ohne meine Familie kann ich alleine auch nirgendwo leben. Ich habe auch sonst niemanden dort bei dem ich leben könnte. Die Taliban aus diesem Dorf sind aus einem Stamm und sie sagten dann, dass sie sich für den Tod an diesen Taliban rächen wollen, also Blut gegen Blut.

Beschwerdeführervertreter: Ich habe keine Fragen. Ich habe nur Unterlagen vorzulegen. Erste Ergänzung zur Beschwerde: Er beantragt auch einen Aufenthaltstitel wegen guter Integration.

[…]

Beschwerdeführer: Ich habe vorher Ihre Frage, ob ich persönlich bedroht wurde, nicht richtig verstanden. Bedroht wurde ich schon, telefonisch. Auch in der Moschee wurde mir damals gesagt, dass ich, wenn ich nicht das mache, was sie sagen, mein Leben in Gefahr wäre. Sie würden mich töten.

[…]

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte in der Beschwerdeverhandlung eine Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien aus März 2018 sowie einen Bericht von OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) vom 14.6.2020 betreffend die COVID-19-Situation in Afghanistan vor. Weiter brachte er vor, der Beschwerdeführer sei auch in Kenntnis des Länderinformationsblattes aus Mai 2020. Zudem wurde in der Verhandlung noch ein Konvolut an Integrationsunterlagen samt Inhaltsverzeichnis betreffend den Beschwerdeführer vorgelegt. Diese Unterlagen wurden zum Akt genommen.

15. Mit Schreiben vom XXXX teilte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers dem Bundesverwaltungsgericht mit, dass er mit XXXX in den Ruhestand gehe und seine Arbeit ab diesem Tag von Dr. Gregor KLAMMER, Rechtsanwalt weitergeführt werde.

16. Am XXXX forderte das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid vom XXXX , XXXX , mit welchem dem Bruder des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, bei der belangten Behörde an. Mit E-Mail vom XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem erkennenden Gericht den angeforderten Bescheid.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, durch Einsicht in den Bescheid vom XXXX , XXXX , betreffend den Bruder des Beschwerdeführers, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben im Iran

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Qizilbasch an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari, die er in Wort und Schrift beherrscht. Weiter spricht der Beschwerdeführer Farsi, Deutsch und ein wenig Englisch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Balkh in der Stadt Mazar-e Sharif geboren und lebte dort im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, zwei Brüdern und drei Schwestern. Er lebte an keinem anderen Ort in Afghanistan. Sein Vater starb, als der Beschwerdeführer ungefähr sieben Jahre alt war. Sein ältester Bruder, XXXX , betrieb eine Apotheke und finanzierte den Lebensunterhalt der Familie. Der Beschwerdeführer besuchte in Mazar-e Sharif neun Jahre die Grund- und Mittelschule und half seinem ältesten Bruder nebenbei ungefähr zwei bis drei Jahre in der Apotheke. Er verfügt über keine sonstige Berufserfahrung.

Zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan im XXXX kam die Vormundschaft über den Beschwerdeführer nach afghanischem Recht seinem ältesten Bruder, XXXX , zu.

Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seiner Familie. Es ist nicht bekannt, ob die Familie nach wie vor in Afghanistan lebt oder sich zwischenzeitlich im Iran oder in Pakistan aufhält. Der Aufenthaltsort der Familie des Beschwerdeführers kann daher nicht festgestellt werden. In Afghanistan lebt ein Cousin mütterlicherseits des Beschwerdeführers, zu dem jedoch kein Kontakt besteht. Es leben keine sonstigen (allenfalls entfernten) Familienangehörigen oder sonstige Bezugspersonen des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsstaat. Insgesamt verfügt der Beschwerdeführer über kein unterstützungsfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan. Ein Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , lebt in Österreich in XXXX und ist asylberechtigt.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält er sich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Seit XXXX wohnt der Beschwerdeführer in einem Zweibettzimmer im Jugendwohnheim XXXX , wo er durch sein Einfühlungsvermögen und große Selbständigkeit auffällt. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.

Seit seiner Einreise nahm der Beschwerdeführer an mehreren Basisbildungs-, Deutsch- und Integrationskursen teil. Zuletzt besuchte der Beschwerdeführer im XXXX einen Deutsch-Intensivkurs auf Niveau B1/1. Ab dem Schuljahr XXXX besuchte der Beschwerdeführer laufend die Schule. Im Schuljahr XXXX war der Beschwerdeführer außerordentlicher Schüler einer öffentlichen Neuen Mittelschule mit Schwerpunkt Informatik. Anschließend besuchte er im Schuljahr XXXX die Öffentliche Polytechnische Schule XXXX und zeigte dort große Lernbereitschaft. Der damalige Klassenvorstand des Beschwerdeführers lobt in einem Empfehlungsschreiben aus XXXX vor allem seine erkennbare Leistungssteigerung. Im Schuljahr XXXX besuchte der Beschwerdeführer die Übergangsstufe an der XXXX Höhere technische Bundeslehr- und Versuchsanstalt, wo er vor allem durch sein großes Interesse am Unterricht und sein Engagement auffiel. Im XXXX schloss der Beschwerdeführer die Übergangsklasse ab und ist seit XXXX Schüler der Höheren technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt „ XXXX “. Im Rahmen dieses Schulbesuchs nahm der Beschwerdeführer im XXXX auch an einer viertägigen Wallfahrt nach XXXX teil. Aktuell besucht er die zweite Klasse des Aufbaulehrgangs im Schuljahr XXXX . Neben seinem Schulbesuch nimmt der Beschwerdeführer seit XXXX regelmäßig am XXXX des XXXX der XXXX , einem Programm zur Lernbegleitung für engagierte Jugendliche mit Migrationshintergrund, teil. Im Schuljahr XXXX arbeitete er im Rahmen des XXXX zwei Mal wöchentlich intensiv an seinem schulischen Fortschritt und der Optimierung seiner Deutschkenntnisse. Weiter nahm der Beschwerdeführer im Rahmen des XXXX an Workshops und Ausflügen teil und erhielt Einblicke in Forschung und Wissenschaft. Seit XXXX nutzt der Beschwerdeführer die individuelle Unterstützung durch einen Studierenden als Lernbuddy. Dabei zeigt der Beschwerdeführer insbesondere auch in Deutsch außergewöhnliche Lernerfolge. Zudem besucht er auch den offenen Lernbetrieb des XXXX , um auch an seinen Englischkenntnissen und anderen Fächern zu arbeiten.

Der Beschwerdeführer leistete seit seiner Einreise nach Österreich regelmäßig ehrenamtliche Arbeit. Im XXXX engagierte sich der Beschwerdeführer an zwei Veranstaltungstagen freiwillig beim Projekt „ XXXX “ der XXXX . Unter anderem half er beim Auf- und Abbau, übersetzte die wissenschaftliche Vorlesung für die Kinder (Dari – Deutsch), assistierte bei der Vermittlung kindgerechter Experimente und unterstützte den Infopoint. Weiter wirkte der Beschwerdeführer im XXXX freiwillig bei der Projekt-Aktion „ XXXX “ an der XXXX mit und übersetzte wiederum Lehrveranstaltungen für Kinder (Dari – Deutsch). Auch in den Sommern XXXX unterstützte der Beschwerdeführer die XXXX als freiwilliger Mitarbeiter und erwies sich als engagiert und verlässlich. Unter anderem brachte er Kinder in die richtigen Hörsäle und half ihnen beim Finden verlorengegangener Rucksäcke. Aufgrund seiner zahlreichen freiwilligen Einsätze wurde dem Beschwerdeführer seitens der XXXX im XXXX bei Erlangen einer Beschäftigungsbewilligung eine Anstellung als Assistenz in der Eventabwicklung in Aussicht gestellt.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. Er legte ein Konvolut an Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben vor, die den Beschwerdeführer übereinstimmend als äußerst interessiert an österreichischen Traditionen und der Kultur sowie der deutschen Sprache, ehrgeizig, aufgeschlossen, selbständig, verlässlich, hilfsbereit und wissbegierig beschreiben. Seitens seiner Mitmenschen wird dem Beschwerdeführer eine positive Zukunftsprognose gestellt. In seiner Freizeit trifft sich der Beschwerdeführer gerne mit Freunden, geht ins Kino oder spielt Tischtennis.

In Österreich lebt ein Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , zu dem der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt hat.

Abgesehen von seinem Bruder leben in Österreich keine weiteren Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich, noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer leidet an einer psychischen Erkrankung, die mit Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsproblemen sowie dem Gefühl der Verzweiflung und Ratlosigkeit einhergeht. Zudem treten weitere Stresssymptome wie Appetitlosigkeit und starke Kopf- und Magenschmerzen auf. Der Beschwerdeführer nahm zunächst ungefähr ab dem Jahr XXXX psychologische Beratung im XXXX der XXXX bei XXXX , Klinische- und Gesundheitspsychologin, in Anspruch. Aus Sicht der Psychologin ist insbesondere auch die Anbindung an seinen in XXXX lebenden Bruder für die Stabilisierung des Beschwerdeführers wichtig. Seit XXXX befindet sich der Beschwerdeführer in psychotherapeutischer Behandlung im XXXX . Aus Sicht des behandelnden Psychotherapeuten konnte durch regelmäßige therapeutische Sitzungen, die Erarbeitung von Selbsthilfekonzepten, Gedächtnistraining und Ressourcenaktivierung eine gewisse Stabilisierung sowie Reduktion der psychischen Symptomatik erreicht werden. Aus therapeutischer Sicht sind weitere psychotherapeutische Sitzungen sowie regelmäßige fachärztliche Kontrolltermine im Fall des Beschwerdeführers erforderlich. Der Beschwerdeführer nimmt regelmäßig Kopfschmerztabletten und Tabletten wegen Magenproblemen ein. Durch seine Krankheit ist auch die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers eingeschränkt.

Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die Taliban wegen (unterstellter) oppositioneller Gesinnung sowie mit der allgemeinen Sicherheitslage.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Insbesondere hatten bzw haben die Taliban kein Interesse daran, den Beschwerdeführer für ihre Zwecke zu rekrutieren. Der Beschwerdeführer erhielt daher kein Mobiltelefon von den Taliban und auch keine Weisung, stets erreichbar zu sein. Er verständigte nicht die Polizei und es kam zu keinen Kämpfen zwischen der Polizei und den Taliban, im Zuge derer einige Mitglieder der Taliban getötet wurden. Die Taliban drohten dem Beschwerdeführer daher auch nicht mit Rache und es kam zu keinem Überfall auf die Apotheke des Bruders des Beschwerdeführers. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen, Zwangsrekrutierung oder Verfolgung durch die Taliban etwa aufgrund unterstellter politischer Gesinnung ausgesetzt wäre, ist nicht zu erwarten. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen hat, ist nicht ersichtlich.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Balkh) gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Mazar-e Sharif steht unter Regierungskontrolle. Die Stadt verfügt über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden kann.

Die Provinz Balkh war von einer Dürre betroffen. Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif grundsätzlich gegeben. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet.

Aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus ist der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif zwar vorhanden, jedoch beschränkt. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns wegen des Corona-Virus kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt zusätzlich eingeschränkt sein. Die Versorgungslage ist angespannt und der Zugang zum Arbeitsmarkt ist aufgrund der herrschenden COVID-19-Pandemie zusätzlich beschränkt.

Für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif jedoch nicht möglich, wieder Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Der Beschwerdeführer leidet an einer psychischen Erkrankung, hat keine abgeschlossene Berufsausbildung und verfügt lediglich über Arbeitserfahrung in der Apotheke seines Bruders, sohin im geschützten Familienbereich. Er hat keine Erfahrung bei der Arbeitssuche. Aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Arbeitsmarktsituation äußerst angespannt, viele Tagelöhner finden keine bzw. nur unzureichende Arbeit. Der Beschwerdeführer verfügt über kein Vermögen und ist mittellos. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer über kein Unterstützungsnetzwerk (mehr) in Mazar-e Sharif verfügt, welches ihn allenfalls zu Beginn unterstützen könnte. Im Fall einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif liefe der Beschwerdeführer, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuell bestehenden COVID-19-Pandemie und seiner psychischen Erkrankung, Gefahr, mangels sozialer und familiärer Unterstützung sowie mangels ausreichender (leistbarer) Unterkunftsmöglichkeiten grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Auch wäre die ärztliche Behandlung des an einer psychischen Erkrankung leidenden Beschwerdeführers im Fall einer Infektion mit COVID-19 nicht gewährleistet.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 18.5.2020, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolati-ons- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor „harten Maßnahmen“ der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

1.4.1.2 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

1.4.1.3 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach w

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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