TE Vwgh Erkenntnis 1997/10/3 96/19/2173

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Veröffentlicht am 03.10.1997
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

ABGB §1294;
AVG §69 Abs1 Z1;
AVG §69 Abs1 Z2;
AVG §69 Abs3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Zens,

Dr. Bayjones, Dr. Schick und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Ferchenbauer, über die Beschwerde der 1977 geborenen SM in W, vertreten durch den zur Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalt Dr. Karl Zach in 1230 Wien, Häckelstraße 10, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 12. Jänner 1996, Zl. 109.752/3-III/11/96, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens i.A. einer Aufenthaltsbewilligung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerium für Inneres) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin beantragte am 25. Mai 1994 die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 5. September 1994 wurde dieser Antrag gemäß § 6 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufG) abgewiesen. Begründend führte der Landeshauptmann von Wien aus, der gegenständliche Antrag sei durch den Ehegatten der Antragstellerin von Wien aus an die österreichische Botschaft in Ankara gesendet worden. Mit dieser Vorgangsweise werde das gesetzliche Erfordernis einer Antragstellung vor der Einreise nach Österreich vom Ausland aus nicht erfüllt, zumal auch keinerlei Grund zur Annahme bestehe, daß sich die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Antragstellung im Ausland befunden habe.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin am 20. September 1994 Berufung. Sie brachte vor, sie halte sich nicht in Österreich auf und habe sich auch früher nie im Bundesgebiet aufgehalten. Sie habe daher ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vor ihrer Einreise nach Österreich gestellt.

Aus dem bei der belangten Behörde angelegten Berufungsakt ging hervor, daß der Beschwerdeführerin von der österreichischen Botschaft in Ankara am 3. Oktober 1994 ein Touristensichtvermerk mit Geltungsdauer bis 3. Jänner 1995 erteilt wurde.

Ohne weitere Erhebungen über den Aufenthaltsort der Beschwerdeführerin zu pflegen, gab die belangte Behörde mit Bescheid vom 29. August 1995 der Berufung der Beschwerdeführerin gemäß § 66 Abs. 4 AVG statt und änderte den erstinstanzlichen Bescheid dahingehend ab, daß der Beschwerdeführerin eine Aufenthaltsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Österreichern" vom 1. September 1995 bis 31. August 1996 erteilt wurde. Begründend führte die belangte Behörde aus, im Hinblick auf das Berufungsvorbringen lägen keine Indizien dafür vor, daß die Regelung des § 6 Abs. 2 AufG umgangen werden sollte.

Anläßlich des Versuches des Ehegatten der Beschwerdeführerin, die Aufenthaltsbewilligungsvignette bei der österreichischen Botschaft in Ankara im Reisedokument der Beschwerdeführerin anbringen zu lassen, wurde seitens der österreichischen Vertretungsbehörde festgestellt, daß die Beschwerdeführerin das Bundesgebiet nach Ablauf ihres Touristensichtvermerkes nicht verlassen hatte, sondern sich weiterhin unrechtmäßig in Österreich aufhielt. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 12. Jänner 1996 wurde gemäß § 69 Abs. 3 AVG das Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung wiederaufgenommen und der Bescheid der belangten Behörde vom 29. August 1995 "gem. § 68 Abs. 2 AVG" dahingehend abgeändert, daß die Berufung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 5. September 1994 gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 AufG und § 10 Abs. 1 Z. 4 und 6 des Fremdengesetzes (FrG) abgewiesen wurde.

Begründend führte die belangte Behörde aus, nach Stattgebung der Berufung der Beschwerdeführerin durch den Bescheid vom 29. August 1995 habe sich im Zuge der Erteilung der Aufenthaltsvignette bei der österreichischen Botschaft in Ankara herausgestellt, daß sich die Beschwerdeführerin seit Ablauf ihres Touristensichtvermerkes mit 3. Jänner 1995 unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Sodann heißt es im angefochtenen Bescheid wörtlich:

"Gemäß § 69 Abs. 3 AVG kann eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen verfügt werden, wenn der Bescheid u.a. durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist.

Im Hinblick auf Ihren im nachhinein bekannt gewordenen illegalen Aufenthalt im Bundesgebiet war daher der zweitinstanzliche Bescheid spruchgemäß abzuändern."

Darüberhinaus sei die Beschwerdeführerin mit einem Touristensichtvermerk in das Bundesgebiet eingereist und habe ihren damit begonnenen Aufenthalt mit dem vorliegenden Antrag auf Aufenthaltsbewilligung verlängern wollen. Es lägen daher die Sichtvermerksversagungsgründe des § 10 Abs. 1 Z. 4 und 6 FrG vor. Die Erteilung einer Bewilligung sei gemäß § 5 Abs. 1 AufG ausgeschlossen.

Eine auf § 5 Abs. 1 AufG in Verbindung mit § 10 Abs. 1 Z. 6 FrG gestützte Entscheidung stelle einen zulässigen Eingriff in das durch Art. 8 MRK geschützte Grundrecht dar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof. Die Beschwerdeführerin macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes mit dem Antrag geltend, den angefochtenen Bescheid aus diesem Grunde aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 68 Abs. 2 AVG lautet:

"(2) Von Amts wegen können Bescheide, aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist, sowohl von der Behörde oder vom unabhängigen Verwaltungssenat, die oder der den Bescheid erlassen hat, als auch in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde aufgehoben oder abgeändert werden."

§ 69 Abs. 1 und 3 AVG lauten auszugsweise:

"§ 69. (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten oder

3. ...

(2) ...

(3) Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 Z 1 stattfinden."

Der von der belangten Behörde zitierte § 68 Abs. 2 AVG bot - worauf die Beschwerdeführerin zutreffend hinweist - vorliegendenfalls keine Grundlage für eine Abänderung des Bescheides vom 29. August 1995, weil der Beschwerdeführerin aus der Erteilung der Aufenthaltsbewilligung an sie bereits ein Recht erwachsen war.

Die Beschwerdeführerin beruft sich in ihren Beschwerdeausführungen darauf, daß ihre Angaben in der Berufung gegen den Bescheid vom 5. September 1994 objektiv richtig gewesen seien. Die Ausstellung des Touristensichtvermerkes und die folgende Einreise in das Bundesgebiet seien erst nach Erstattung dieses Berufungsvorbringens erfolgt.

Ein "Erschleichen" eines Bescheides im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG liegt dann vor, wenn dieser in der Art zustandegekommen ist, daß bei der Behörde von der Partei objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht wurden und diese Angaben dann dem Bescheid zugrundegelegt worden sind, wobei Verschweigung wesentlicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Dabei muß die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen sein und eine solche Lage bestehen, daß ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere, der Feststellung der Richtigkeit der Angaben dienliche Erhebungen zu pflegen. Wenn es die Behörde verabsäumt, von den ihr im Rahmen der Sachverhaltsermittlung ohne besondere Schwierigkeiten offenstehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen, schließt dieser Mangel es aus, auch objektiv unrichtige Parteiangaben als ein Erschleichen des Bescheides im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG zu werten. Zusammengefaßt müssen daher drei Voraussetzungen vorliegen: Objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung, ein Kausalitätszusammenhang zwischen der unrichtigen Angabe der Partei und dem Entscheidungswillen der Behörde und Irreführungsabsicht der Partei, nämlich eine Behauptung wider besseres Wissen in der Absicht, daraus einen Vorteil zu erlangen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. April 1995, Zl. 94/20/0779).

Tatsachenfeststellungen, aus denen sich ableiten ließe, die Beschwerdeführerin habe den Bescheid vom 29. August 1995 erschlichen, sind dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen.

Die belangte Behörde stützte den angefochtenen Bescheid aber jedenfalls auch darauf, daß der unrechtmäßige Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Anschluß an den Ablauf ihres Touristensichtvermerkes im nachhinein bekannt geworden sei. Die Voraussetzung, daß die neuen Tatsachen ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten (§ 69 Abs. 1 Z. 2 AVG), kann sinnvollerweise für die amtswegige Wiederaufnahme nicht ohne die Modifikation gelten, daß statt des Wortes "Partei" das Wort Behörde zu setzen ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 1959, Slg. Nr. 5008/A). Bei dem (auch bei der amtswegigen Wiederaufnahme beachtlichen) Verschulden der Behörde im Sinn des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG handelt es sich um ein Verschulden im Sinne des § 1294 ABGB (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 1996, Zl. 94/08/0290). Die amtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens wegen des Hervorkommens neuer Tatsachen ist immer dann ausgeschlossen, wenn die Behörde die "neuen" Sachverhaltselemente bereits im bisherigen Verfahren hätte erheben können (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Februar 1963, Slg. Nr. 5969/A, u.a.).

Im vorliegenden Fall erließ die belangte Behörde den Bescheid vom 29. August 1995 nahezu ein Jahr nach Einlangen der Berufung der Beschwerdeführerin vom 20. September 1994. Nach der Aktenlage war der belangten Behörde bei Erlassung des Berufungsbescheides überdies bekannt, daß der Beschwerdeführerin, die - wie dargestellt - in ihrer Berufung vom 20. September 1994 behauptet hatte, sich nie im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, kurz danach ein Touristensichtvermerk mit Geltungsdauer vom 3. Oktober 1994 bis 3. Jänner 1995 erteilt worden war.

Die belangte Behörde wäre daher durchaus in der Lage gewesen, in Wahrnehmung der öffentlichen Interessen vor Erlassung des Berufungsbescheides vom 29. August 1995 zu erheben, ob die Beschwerdeführerin das Bundesgebiet nach Ablauf ihres Touristensichtvermerkes wieder verlassen hatte oder nicht. Das seinerzeitige fehlerhafte Ermittlungsverfahren steht der Annahme einer unverschuldeten Unkenntnis der Tatsache des unrechtmäßigen Aufenthaltes der Beschwerdeführerin auf Seiten der Behörde und damit der Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter Berufung auf § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG entgegen.

Aus diesen Erwägungen war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Schlagworte

Neu hervorgekommene entstandene Beweise und Tatsachen nova reperta nova producta Verschulden

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1997:1996192173.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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