TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/19 W261 2203120-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2020
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Entscheidungsdatum

19.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W261 2203120-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, Außenstelle Innsbruck vom 09.07.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.     Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und der Beschwerdeführerin wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Afghanistans, stellte am 09.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand ihre Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen an, sie habe das Land wegen des Krieges in Afghanistan, der unsicheren Lage, und weil sie ihren Mann im Krieg dort verloren habe und nicht wolle, dass ihre jetzige Familie ebenfalls gefährdet werde, verlassen. Seitens der Regierung habe sie wahrscheinlich keine Sanktionen zu befürchten, doch sie besitze nichts mehr in Afghanistan und könne dort nicht mehr überleben, sie habe in Afghanistan keine Verwandten mehr.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangten Behörde) fand am 14.05.2018 statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu ihren persönlichen Umständen im Wesentlichen an, sie sei Tadschikin und sunnitische Muslima. Sie stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt Hissa Awal Kuhestan in der Provinz Kapisa. Sie habe keine Schule besucht, sei Analphabetin und immer Hausfrau gewesen. Sie sei verwitwet, ihr Mann sei vor ca. 20 Jahren von den Taliban getötet worden. Die Beschwerdeführerin habe eine in Österreich lebende Tochter und einen im Iran lebenden Sohn und vier Enkel. Zwei ihrer Enkelinnen würden mit ihr in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt leben. In Afghanistan würden im Heimatdorf noch ihre zwei Brüder und zwei Schwestern leben, zu diesen habe sie aber keinen Kontakt. Im Rahmen der Einvernahme legte sie Integrations- und medizinische Unterlagen vor.

Zu ihren Fluchtgründen gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, nach dem Tod ihres Mannes habe sie bei ihrer Schwiegerfamilie gelebt. Sie und ihre Kinder hätten sich dort immer anpassen müssen, die Brüder ihres Mannes hätten alles bestimmt. Als ihr Sohn 22 Jahre alt geworden sei, hätten sie sie sich von der Schwiegerfamilie trennen wollen. Ihr Sohn sei zu seinem Onkel gegangen und habe den Anteil seines Vaters verlangt. Der Onkel habe ihn daraufhin brutal geschlagen und hätte ihnen gedroht, er werde sie fertigmachen, damit sie nie mehr Ansprüche stellen könnten. Wenig später sei in den Hof ihres Hauses eine Handgranate geworfen worden, wobei ihre Enkelin XXXX verletzt worden sei. Danach habe der Onkel zu ihrem Sohn gesagt, dass sie diesmal alle überlebt hätten, nächstes Mal werde es nicht mehr so sein. Ein paar Jahre später habe der Bruder ihres Mannes plötzlich gesagt, ihre Tochter müsse einen Verwandten seiner Frau heiraten, er habe das beschlossen und arrangiert. Ihre Tochter habe das abgelehnt, habe ihrem Onkel gesagt, dass sie nicht jemanden heiraten könne, den sie nicht kenne und liebe, und sei deshalb von diesem ebenfalls brutal geschlagen worden. Nach diesem Vorfall hätten sie alle einfach nur weggewollt, aber sie hätten nicht gewusst, wann und wie. Ungefähr drei Jahre später hätten sie das Land dann verlassen. Im Fall einer Rückkehr würde sie getötet werden, die Brüder ihres Mannes würden sie umbringen, weil sie ihrer Tochter und ihrem Sohn geholfen habe zu gehen.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 09.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde der Beschwerdeführerin kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die von der Beschwerdeführerin angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sie durch ihre Schwiegerfamilie bedroht bzw. verfolgt werde oder worden sei. Fest stehe, dass sie Afghanistan aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Die Sicherheitslage in ihrer Heimatprovinz Kapisa sei relativ sicher und diese sei von Kabul aus sicher erreichbar. Im Fall einer Rückkehr würde sie in keine ausweglose Lage geraten, zumal sie gesund und arbeitsfähig sei und über Familienangehörige in Afghanistan, nämlich ihren Sohn, ihre Geschwister und ihre Schwiegerfamilie verfüge, die sie unterstützten könnten.

4. Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Bescheid durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 06.08.2018 fristgerecht Beschwerde. Sie brachte darin im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie eine nähere Auseinandersetzung mit der individuellen Verfolgung der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und insbesondere der alleinstehenden Frauen, unter Umständen mit „westlicher Orientierung“, unterlassen habe. Die Länderfeststellungen seien in Bezug auf die Situation von Frauen und besonders von alleinstehenden Frauen unvollständig. Gänzlich unterlassen habe es die Behörde, sich mit der Situation von Witwen in Afghanistan auseinanderzusetzen. Unter Verweis auf diverse Länderberichte zu diesen Themen wurde ausgeführt, Frauen seien in Afghanistan generell einem hohen Maß an Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, wobei Witwen besonders betroffen seien. Es sei von einer Gruppenverfolgung von Witwen auszugehen. Jedenfalls aber mache die Beschwerdeführerin eine wohlbegründete Furcht vor individueller Verfolgung, einerseits seitens „der Familie der Schwiegertochter“, andererseits aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Witwen, geltend. Im Fall der Rückkehr würde sich die Beschwerdeführerin zudem in einer derart schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage wiederfinden, dass ihre Existenz massiv gefährdet wäre. Sie sei eine Frau ohne Schuldbildung und wäre als Witwe praktisch rechtlos und ohne Aussicht auf Unterstützung. Auch die Sicherheitslage lasse eine Rückkehr nicht zu. Mit der Beschwerde wurden Integrationsunterlagen vorgelegt.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 06.08.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 09.08.2018 in der Gerichtsabteilung W263 einlangte.

6. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.01.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 27.01.2020 einlangte.

7. Mit Eingabe vom 25.05.2020 erstattete die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie zunächst bekanntgab, dass ihr die alleinige Obsorge über ihre beiden Enkeltöchter XXXX und XXXX übertragen worden sei. Sie beantragte die Führung eines Familienverfahrens iSd § 34 AsylG bzw. zumindest die Führung eines gemeinsamen Verfahrens für sich und ihre Enkeltöchter. Dies wäre aufgrund der Konnexität der Fluchtgründe dienlich, wenn auch nach § 34 AsylG nicht zwingend erforderlich. Aus demselben Grund ersuchte sie auch um Verbindung ihres Verfahrens mit dem ihrer Tochter XXXX .

Ergänzend zur Beschwerde brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, bei ihr handle es sich um eine verwitwete, ältere Frau ohne Schul- und Berufsbildung und ohne Berufserfahrung, die bisher von männlichen Angehörigen versorgt worden sei. In Österreich regle sie den Alltag für sich und ihre Enkelinnen selbstbestimmt. Sie erziehe die beiden Enkelinnen zu selbstbewussten Frauen fernab der traditionellen afghanischen Werte und vermittle ihnen, frei über ihr Leben und ihre beruflichen Möglichkeiten bestimmen zu können. Eine Zwangsheirat lehne sie entschieden ab. Diese Aspekte eines selbstbestimmten Lebens der Beschwerdeführerin stünden in Widerspruch zu den in Afghanistan bestehenden gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Erwerbstätigkeit von Frauen, weshalb ihr asylrelevante Verfolgung drohe. Sie gehöre zudem der sozialen Gruppe der alleinstehenden, verwitweten Frauen an und unterliege damit einer speziellen Verfolgungsgefahr. In gesundheitlicher Hinsicht sei der Beschwerdeführerin die Schilddrüse entfernt worden, weshalb sie lebenslang Schilddrüsenhormone einnehmen müsse. Sie befinde sich auch in psychologischer Behandlung. Schließlich wurde auf ergänzende Länderberichte zur Lage von Mädchen und Frauen und zur COVID-19-Situation in Afghanistan verwiesen. Mit der Stellungnahme wurden medizinische Unterlagen vorgelegt.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.07.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen und der Situation im Falle ihrer Rückkehr befragt wurde. Die Tochter der Beschwerdeführerin, XXXX , wurde als Zeugin zu den Fluchtgründen einvernommen. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

9. Mit Eingabe vom 16.07.2020 erstattete die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen ausführte, für sie sei eine Lebensweise, in der die Anerkennung und Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie kleide sich „westlich“ und nach ihren eigenen Vorstellungen. Sie organisiere ihr Leben und das ihrer Enkelinnen in Österreich selbst, besuche Deutschkurse und möchte sobald wie möglich einer Arbeit nachgehen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ihre Angaben zu Problemen mit ihrer Schwiegerfamilie würden sich mit den Länderinformationen zur Situation von Witwen decken. Die Beschwerdeführerin habe glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass ihr aufgrund ihres gelebten westlich orientierten Lebensstils im Fall einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe. Zudem stehe ihr angesichts der allgemeinen Sicherheits-, Versorgungs- und Gesundheitslage, unter Berücksichtigung der COVID-19-Situation, keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Muslima. Ihre Muttersprache ist Dari. Die Beschwerdeführerin ist verwitwet und hat zwei Kinder.

Die Beschwerdeführerin wurde im Dorf XXXX im Distrikt Hissa Awal Kuhestan in der Provinz Kapisa geboren, wo sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern aufwuchs. Sie hat keine Schule besucht, keinen Beruf erlernt und ist Analphabetin. Sie war ihr Leben lang Hausfrau. Ihr verstorbener Ehemann war Metzger und wurde vor über 20 Jahren von den Taliban getötet. Nach seinem Tod lebte sie bis zur Ausreise bei ihrer Schwiegerfamilie.

Der Ehe entstammen zwei Kinder. Ihr Sohn XXXX , ca. 35 Jahre alt, ist verheiratet und hat vier Kinder, er lebt mit seiner Ehefrau und seinen beiden Söhnen im Iran. Seine beiden Töchter und somit die Enkelinnen der Beschwerdeführerin, XXXX und XXXX , leben mit dieser in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Sie wurden auf der Flucht von ihren Eltern getrennt. Ihre Tochter XXXX , ca. 28 Jahre alt, lebt ebenfalls in Österreich, sie ist verheiratet und hat einen ca. zwei Jahre alten Sohn.

In Afghanistan leben noch zwei Brüder und zwei Schwestern der Beschwerdeführerin, die alle verheiratet sind und mit ihren Familien im Heimatdorf leben. Auch die Schwiegerfamilie der Beschwerdeführerin, bestehend aus den Eltern und zwei Brüdern ihres verstorbenen Ehemannes, lebt noch in Afghanistan. Zu all diesen Angehörigen hat sie keinen Kontakt mehr.

Die Beschwerdeführerin stellte am 09.12.2015 nach gemeinsamer Einreise mit ihrer Tochter und ihren beiden Enkelinnen einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Beschwerdeführerin leidet an einem schnellenden Finger III der rechten Hand, Varikositas am rechten Bein, den Folgen einer Thyreoidektomie wegen Struma multinodosa, Spannungskopfschmerzen, Cervicalgie, Lumbalgie, einem Cervicalsyndrom, Schwindel und einer depressiven Angststörung. Sie ist in ärztlicher Behandlung.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

1.2.1. Die Beschwerdeführerin hat Afghanistan aufgrund von Streitigkeiten mit ihrer Schwiegerfamilie, bei der sie nach dem Tod ihres Mannes lebte, verlassen. Sie war jedoch persönlich keiner Gewalt durch ihre Schwiegerfamilie ausgesetzt und wurde durch diese auch nicht bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen der Beschwerdeführerin individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder ihrer Schwiegerfamilie oder durch andere Personen.

1.2.2. Die Beschwerdeführerin war in Afghanistan allein deshalb, weil sie eine alleinstehende und verwitwete Frau ist, konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt. Auch im Fall einer Rückkehr droht ihr aus diesen Gründen konkret und individuell keine Gewalt.

1.2.3. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die Beschwerdeführerin hat in Österreich keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung in Österreich ist nicht zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden.

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt wegen „westlicher“ Orientierung.

1.3.    Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführerin in Österreich:

Die Beschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Sie ist nach ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom 09.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Die Beschwerdeführerin besuchte in Österreich einen Alphabetisierungskurs, einen Deutschkurs A0 und einen Malkurs. Sie hat bislang keine Deutschprüfung abgelegt.

Die Beschwerdeführerin war in Österreich nicht ehrenamtlich tätig und nicht erwerbstätig. Sie lebt von der Grundversorgung und ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert. Sie verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

In Österreich leben zwei minderjährige Enkelinnen der Beschwerdeführerin, XXXX , ca. 15 Jahre alt, und XXXX , ca. 13 Jahre alt, mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 02.05.2019 wurde ihr die Obsorge über ihre Enkelinnen übertragen. Ebenfalls in Österreich lebt, in einem eigenen Haushalt, die Tochter der Beschwerdeführerin, XXXX , mit ihrem Ehemann und ca. zweijährigem Sohn. Sowohl die Enkelinnen als auch die Tochter der Beschwerdeführerin sind Asylwerberinnen, ihre Beschwerdeverfahren sind derzeit am Bundesverwaltungsgericht anhängig.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführerin könnte bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Kapisa aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführerin ist auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat, aufgrund ihrer individuellen Umstände in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation nicht zumutbar.

Die Beschwerdeführerin verfügt als alleinstehende Witwe in Afghanistan über keine unterstützungsfähigen und -willigen Angehörigen oder sonstige Kontakte und somit kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung sie sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Die Beschwerdeführerin hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat keinerlei Angehörige oder Kontakte.

Die Beschwerdeführerin ist 55 Jahre alt. Sie hat keine Schule besucht, keinen Beruf erlernt, ist Analphabetin und hat noch nie in ihrem Leben außerhalb des Haushalts gearbeitet. Sie ist grundsätzlich arbeitsfähig, leidet aber an einem schnellenden Finger III der rechten Hand, Varikositas am rechten Bein, den Folgen einer Thyrodektomie wegen Struma multinodosa, Spannungskopfschmerzen, Cervicalgie, Lumbalgie, einem Cervicalsyndrom, Schwindel und einer depressiven Angststörung. Angesichts ihrer persönlichen Umstände wäre es ihr schon vor der COVID-19-Pandemie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich gewesen, in Afghanistan eine Arbeit zu finden. Jedenfalls wäre sie aber im Fall einer Rückkehr auf geringqualifizierte Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten verwiesen.

Diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, Teehäuser und Hotels sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen derzeit geschlossen. Es wäre der Beschwerdeführerin, die 55 Jahre alt ist, keine Schulbildung oder Berufserfahrung hat, an diversen gesundheitlichen Problemen leidet und in Mazar-e Sharif und Herat niemanden kennt, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden.

Die Beschwerdeführerin wäre bei einer Neuansiedlung in einer der genannten afghanischen Großstädte aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme, ihrer fehlenden Aussicht auf Arbeit und der Tatsache, dass sie eine alleinstehende, seit über 20 Jahren verwitwete Frau ist, in besonderem Maße auf ein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk angewiesen, das ihr aber wie bereits dargelegt in Afghanistan nicht zur Verfügung steht.

Die bei der Beschwerdeführerin vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihr möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe die Beschwerdeführerin vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020

-        World Food Programme (WFP): Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 13 (Covering 2nd week of August 2020) - 12 August, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-weekly-market-price-bulletin-issue-13-covering-2nd-week, abgerufen am 12.08.2020 (WFP).

1.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Infolge der COVID-19-Pandemie und damit verbundener Importeinschränkungen sowie gestiegener Nachfrage sind die Preise für Lebensmittel in Afghanistan, insbesondere für Grundnahrungsmittel, seit Mitte März 2020 stark gestiegen. So stiegen die Preise zwischen 14. März und 12. August 2020 für Weizenmehl um 11 %, für Weizen um 12 %, für Speiseöl um 30 %, für Hülsenfrüchte um 28 %, für Zucker um 22 % und für Reis um 8 % bzw. 18 % (niedrige bzw. hohe Qualität) (WFP).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.4. Relevante Bevölkerungsgruppen

1.5.4.1. Frauen

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 17.1).

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 17.1).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27 % erhöht. Für das Jahr 2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7 % angegeben. Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (LIB, Kapitel 17.1).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z. B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (LIB, Kapitel 17.1).

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (LIB, Kapitel 17.1).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (LIB, Kapitel 17.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (LIB, Kapitel 17.1).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10 % reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42 % der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (LIB, Kapitel 17.1).

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25 % aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (LIB, Kapitel 17.1).

Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (LIB, Kapitel 17.1).

1.5.5. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten.

Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt.

Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30 % der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

1.5.6. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

1.5.7. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.8.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.9.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.5.10. Relevante Provinzen und Städte

1.5.10.1. Herkunftsprovinz Kapisa

Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben. Die Provinz hat 479.875 Einwohner (LIB, Kapitel 2.16).

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Es werden auch Luftangriffe ausgeführt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 124 zivile Opfer (49 Tote und 75 Verletzte) in der Provinz Kapisa. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffe (LIB, Kapitel 2.16).

In der Provinz Kapisa kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.10.2. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10-15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.5.10.3. Provinz bzw. Stadt Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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