Entscheidungsdatum
19.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W248 2220974-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland vom 29.05.2019, Zl. 1156364801 – 170705354 / BMI-BFA_BGLD_RD, in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.07.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , geb. XXXX , eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 19.08.2021 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1 Verfahrensgang:
1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ist afghanischer Staatsbürger und stellte am 14.06.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Landespolizeidirektion Wien – Abteilung Fremdenpolizei und Anhaltevollzug am 15.06.2017, gab der Beschwerdeführer an, aus dem Distrikt XXXX in der Provinz Parwan zu stammen. Seine Muttersprache sei Dari. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, am XXXX geboren zu sein, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er sei ledig und habe keine Kinder. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Kernfamilie bestehe aus seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, zu welchen er jedoch nicht in Kontakt stehe. Er sei Analphabet und habe zuletzt als Hilfsarbeiter gearbeitet. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen, habe der Beschwerdeführer vor etwa sieben Monaten gefasst. Ein afghanischer Freund des Beschwerdeführers habe den Schlepperkontakt hergestellt. Der Beschwerdeführer habe selbst die Schleppung organisiert und die Kosten in Höhe von etwa € 4.000,- bezahlt. Das Geld habe er sich ausgeborgt.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass es in seiner Heimatprovinz Probleme mit den Taliban gegeben hätte. Sein Vater sei von Taliban angehalten und getötet worden. Sein Leben sei daher in Gefahr. Als zweiten Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass er mit einem paschtunischen Mädchen eine Beziehung geführt habe und deshalb von ihren Brüdern mit dem Tod bedroht worden wäre. Aus diesen Gründen könne er nicht nach Afghanistan zurückkehren.
3. Bei der am 01.08.2017 durchgeführten Altersfeststellung wurde vom Sachverständigen XXXX festgestellt, dass das Mindestalter des Beschwerdeführers zum Asylantragsdatum XXXX Jahre betrug, sodass sein Geburtsdatum mit dem XXXX festgesetzt wurde. Diesbezüglich wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer wegen Nierenproblemen bereits in ärztlicher Behandlung gewesen sei. Er habe ein „Schrumpfniere“ rechts, welche schmerzhaft sei. Bei Bedarf nehme er Schmerzmittel. Seine diesbezüglichen Probleme hätten begonnen, als er vor etwa vier oder fünf Jahren einen Tritt in die rechte Nierengegend erhalten habe.
4. Am 28.01.2018 übermittelte der Beschwerdeführer ein Konvolut an medizinischen Unterlagen vom 22.09.2017, 27.09.2017 und 26.10.2017.
Die behandelnden Ärzte des Krankenhaus XXXX , Abteilung Kinder- und Jugendheilkunde diagnostizierten beim Beschwerdeführer eine Obstipation (K59.0) und ein Schrumpfniere rechts (N26). Weiters bestehe ein fraglicher serologischer Hinweis auf eine Zöliakie. Als Medikation wurden XXXX für zwei Wochen, XXXX und XXXX bei Bedarf, empfohlen.
5. Am 25.01.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.
Der Beschwerdeführer gab an, aus dem Dorf XXXX , welches sich in der Provinz Parwan befindet, zu stammen. Das BFA stellte fest, dass der Beschwerdeführer am linken Handgelenk ein Skorpion – Tattoo und am gesamten linken Arm frische Schnittwunden aufweise.
Befragt zu seiner Arbeitserfahrung führte er aus, seinem Vater bei der Arbeit in dessen Lebensmittelgeschäft geholfen zu haben, als dieser noch gelebt habe. Anschließend habe er auf der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet. Er habe Kartoffelfelder, Bohnen und Weizenfelder bestellt. Durch seine Arbeit habe er etwa 100.000 bis 200.000 Afghani jährlich verdient. Der Beschwerdeführer habe etwa mit zehn Jahren zu arbeiten begonnen. Seine Mutter und sein Bruder würden sich noch in seinem Heimatdorf befinden und von den Erträgen der eigenen Agrarflächen leben. Er habe in Afghanistan keine Schule besucht. Der Beschwerdeführer gab weiters an, nicht streng gläubig zu sein. Er faste zwar regelmäßig, er konsumiere jedoch Alkohol. Zu seiner Mutter bestehe etwa einmal monatlich Kontakt. Einen Teil der Fluchtkosten habe er sich von seiner Mutter ausgeborgt. € 100 habe er ihr bereits über einen Freund zukommen lassen. In seinem Heimatdorf lebe noch ein Onkel mütterlicherseits. Weitere Verwandte habe er nicht.
Zu seinem Gesundheitszustand führte der Beschwerdeführer aus, seit zweieinhalb Jahren an einer Schrumpfniere und an Bauchschmerzen, aufgrund von Verstopfung und Nahrungsmittelunverträglichkeit zu leiden. Er befinde sich diesbezüglich nicht in dauernder medizinischer Behandlung und benötige nur im Bedarfsfall Medikamente. In Afghanistan sei im Jahr 2014 sein Blinddarm entfernt worden. Der Beschwerdeführer führte aus, sich große Sorgen um seine Familie und bezüglich der Befragung durch das BFA gemacht zu haben und zornig gewesen zu sein. Vor drei Tagen habe er sich aus diesen Gründen selbst mit einer Rasierklinge zahlreiche Schnittverletzungen am linken Arm zugefügt. Er habe sich bereits im Jahr 2017 in Mödling an der selben Stelle selbst verletzt. Aktuell nehme er Schlaftabletten, da er schlecht schlafe. Diese Tabletten habe er jedoch nicht von einem Arzt verschrieben bekommen, sondern von einem Betreuer erhalten.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater vor etwa sechs Jahren auf dem Weg nach Kabul von den Taliban angehalten, ausgeraubt und getötet worden sei. Details könne er diesbezüglich nicht angeben. Als zweiten Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, mit einer Paschtunin namens XXXX eine Beziehung geführt zu haben. Dieses Mädchen habe er in einem Krankenhaus kennengelernt. Sie habe im Nachbarort XXXX gelebt. Etwa zwei bis dreimal wöchentlich hätten sie sich für 10 bis 20 Minuten auf den Feldern getroffen und miteinander gesprochen. Eine körperliche Beziehung hätten sie nicht geführt. Als sie nach etwa sechs Monaten von den Brüdern seiner Freundin gesehen worden wäre, hätten zwei Brüder den Beschwerdeführer mehrmals geschlagen. Der Beschwerdeführer äußerte die Vermutung, dass er aufgrund dessen eine Schrumpfniere habe. Seine Freundin habe sich vor die Füße ihrer Brüder geworfen und inständig um das Leben des Beschwerdeführers gebeten. Er sei in weiterer Folge von diesen Brüdern mit der Ermordung bedroht worden. Sie wären auch Mitglieder der Taliban. Der Beschwerdeführer führte aus, dass bereits die Tatsache, dass er ein Hazara sei, für diese paschtunische Familie ausreiche, um ihn zu töten. Nachdem er den Vorfall seiner Mutter berichtet habe, hätten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen werde. Bis zur Ausreise sei etwa ein halbes Jahr vergangen, da der Beschwerdeführer noch arbeiten habe müssen, um genügend Geld für die Flucht zu verdienen. Der Beschwerdeführer führte ausdrücklich aus, dass die Brüder nicht im Haus seiner Familie gewesen wären.
Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer diverse Teilnahmebestätigungen an Kursen der Caritas – Deutsch als Fremdsprache A1.1, A1.2, Alpha 1, Deutsch als Fremdsprache (Lesen und Schreiben 1), der Volkshochschule Bregenz – IFS Sommerschule – Mathe 1, Deutsch 1, Exkursion, IFS Deutschkurs Sunnahof, der ors service gmbh - Deutschkurs, IFS – Liebe verdient Respekt, sowie diverse Empfehlungsschreiben vor.
Der Beschwerdeführer übermittelte weiters einen Ambulanzbefund des Landesklinikum XXXX , Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, vom 21.07.2017. Von den behandelnden Ärzten wurde eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD F43.1) diagnostiziert.
6. Am 29.01.2019 übermittelte das XXXX , in welcher der Beschwerdeführer wohnhaft ist, eine Stellungnahme vom 22.01.2019 sowie eine Kopie seiner Taskira. In der Stellungnahme berichteten die Betreuer, dass bereits Anfragen bei einem Facharzt für Psychiatrie sowie bei einer Psychotherapeutin gestellt worden wären. Aufgrund langer Wartezeiten sei eine Terminvereinbarung noch nicht möglich gewesen. Für den Beschwerdeführer konnte eine Mitgliedschaft in einem Volleyball Verein in XXXX für das Jahr 2019 vereinbart werden. Abschließend wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer stets höflich, wertschätzend und zuvorkommend sei, die an ihn gestellten Aufgaben vorbildlich umsetze und großes Bemühen zeige, sich in seinem Umfeld zu integrieren.
7. Mit Stellungnahme zu den Länderinformationen der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 05.02.2019 führte der Beschwerdeführer betreffend seine Taskira aus, dass seine Mutter eine neue ausgestellt bekommen habe. Ob seine Mutter seine ältere Taskira verloren habe oder ob es gar keine ältere Taskira gegeben habe, könne der Beschwerdeführer nicht angeben.
Der Beschwerdeführer berichtete, dass die Vorgehensweise des BFA während seiner Einvernahme, insbesondere die Einvernahme per Video, keine geeignete Form dargestellt habe. Im Fall des Beschwerdeführers wäre aufgrund der Beweismittel die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung nicht zulässig gewesen. Das BFA hätte sich ein persönliches Bild vom Beschwerdeführer und seiner Situation machen müssen.
Der Beschwerdeführer wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte ergänzend aus, dass sich die Treffen des paschtunischen Mädchens mit dem Beschwerdeführer für die Brüder als Ehrverletzung darstellen würden. Da diese Brüder Mitglieder der Taliban wären, könnten sie den Beschwerdeführer in ganz Afghanistan ausfindig machen. Weiters entspreche der Beschwerdeführer, aufgrund seiner Flucht nach Europa, nicht mehr den afghanischen Wert- und Traditionsvorstellungen. Er habe die europäischen Werte vollkommen verinnerlicht. Durch den Konsum von Alkohol, seinen nicht strengen Glauben, seine psychische und physische Beeinträchtigung sowie dadurch, dass er der Minderheit der schiitischen Hazara angehöre, bestehe im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan massive Verfolgungsgefahr. Auf den Beschwerdeführer würden daher mehrere individuelle Risikofaktoren im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr zutreffen. Zudem würde der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf seine Kernfamilie und seinen Onkel gefährden. Sein Heimatdistrikt sei von Paschtunen und Taliban dominiert. Dass sein Vater auf dem Weg nach Kabul von den Taliban getötet worden wäre, mache die Gefahr für schiitische Hazara deutlich.
Der Beschwerdeführer verwies weiters auf die UNHCR- Richtlinien vom 30.08.2018 sowie auf diverse Länderberichte betreffend die Situation der Hazara und Rückkehrer, die Gesundheitsversorgung sowie die allgemeine schlechte Sicherheitslage.
8. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen worden sei. Betreffend das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Ermordung des Vaters durch die Taliban vor etwa sechs Jahren führte das BFA aus, dass dieses Vorbringen mangels Aktualität nicht asylrelevant sei. Insbesondere könne der Beschwerdeführer sein diesbezügliches Fluchtvorbringen nicht beweisen. Er vermute lediglich, dass die Taliban für die Ermordung seines Vaters verantwortlich gewesen wären. Vor dem Landesklinikum XXXX habe der Beschwerdeführer angegeben, dass sein Vater „im Krieg erschossen“ worden wäre. Diese Aussage stehe jedenfalls in Widerspruch zu jener in der Einvernahme vor dem BFA. Hinsichtlich des zweiten Fluchtvorbringens führte das BFA aus, dass die Behauptung des Beschwerdeführers, er sei beim Antreffen der Brüder während eines Gespräches mit seiner Freundin lediglich geschlagen und nicht umgehend aufgrund der Ehrverletzung getötet worden, unplausibel sei. Daher sei dieses Vorbringen völlig unglaubwürdig. Dass der Beschwerdeführer, trotz der Bedrohungen durch die Familie des Mädchens, ein weiteres halbes Jahr in seinem Elternhaus wohnhaft gewesen sei, spreche für das Vorliegen anderer Gründe, die zur Ausreise aus Afghanistan geführt hätten. Der Beschwerdeführer habe daher wissentlich Falschangaben gemacht, um einen Asylgrund zu konstruieren. Das BFA führte weiters aus, dass der Beschwerdeführer betreffend seine Schrumpfniere im Zuge der Altersfeststellung vom 01.08.2017 angegeben habe, dass seine Schrumpfniere aufgrund eines Trittes vor vier oder fünf Jahren entstanden wäre. In der Einvernahme vor dem BFA habe er dem widersprechend angegeben, dass diese durch einen Tritt der paschtunischen Brüder seiner Freundin vor zweieinhalb Jahren entstanden wäre. Zusätzlich hätten die Recherchen des BFA ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Schrumpfniere durch die Einwirkung stumpfer Gewalt bei lediglich einem Prozent liege. Auch den medizinischen Befunden könne keine Entstehung der Schrumpfniere durch stumpfe Gewalt entnommen werden. Hinsichtlich der vorgebrachten Verwestlichung werde entgegnet, dass seine behauptete abgeminderte Gläubigkeit nicht nach außen erkennbar wäre, zumal der Beschwerdeführer selbst angeführt habe, regelmäßig zu fasten. Eine allgemein vorgebrachte Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines Religionsbekenntnisses finde in Afghanistan nicht statt. Eine punktuell stattfindende Diskriminierung werde jedoch nicht in Abrede gestellt. Insbesondere könne aufgrund des kurzen Aufenthaltes des Beschwerdeführers in Europa von keiner ausgeprägten verinnerlichten Verwestlichung ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer habe bereits in Afghanistan an einer Schrumpfniere und Zöliakie gelitten und sei trotzdem bis zu seiner Ankunft in Österreich ungehindert zurechtgekommen. Da der Beschwerdeführer keine Medikamente benötige, liege keine physisch oder psychisch asylrelevante Beeinträchtigung vor.
Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seine Herkunftsprovinz Parwan zurückkehren und dort im Wohnhaus seiner Familie leben könne. Es sei nicht ersichtlich, dass die Familie dort einer Gefährdung wegen der schlechten Sicherheitslage unterliege, obwohl die Provinz als volatil bewertet werde. Dem Beschwerdeführer wäre es ebenso möglich, sich in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif niederzulassen.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 31.05.2019 zugestellt.
9. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 29.05.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.
10. Mit Schreiben vom 28.06.2019 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.
Der Beschwerdeführer wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte erneut aus, aus wohlbegründeter Flucht vor Verfolgung durch die Taliban sowie aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und seiner Volksgruppenzugehörigkeit seinen Heimatstaat verlassen zu haben. Die Minderheit der Hazara werde vom afghanischen Staat benachteiligt, unterdrückt und diskriminiert. Der Beschwerdeführer würde im Falle einer Rückkehr insbesondere von den Brüdern seiner paschtunischen Freundin verfolgt werden. Diese Brüder wären auch Mitglieder der Taliban. Da die Polizei korrupt sei und mittellosen Männern keine Unterstützung anbiete, habe sich der Beschwerdeführer nicht an die staatlichen Sicherheitsbehörden gewandt. Insbesondere würde die Polizei nicht gegen Mitglieder der Taliban vorgehen. In Afghanistan bestünden faktisch keine Schutzmechanismen, um Zivilisten vor Übergriffen nichtstaatlicher terroristischer Gruppierungen effektiv zu schützen. Der Beschwerdeführer würde daher im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Situation geraten. Ihm wäre jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. Aufgrund der volatilen Sicherheitslage könne er nicht in seinen Herkunftsdistrikt zurückkehren. Eine innerstaatliche Fluchtalternative wäre für den Beschwerdeführer aufgrund der allgemein schlechten Sicherheitslage und seiner persönlichen Situation nicht zumutbar.
11. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 08.07.2019 mit Schreiben vom 03.07.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
12. Am 21.07.2020 übermittelte der XXXX die Niederlegung der Vollmacht und teilte mit, dass sich der Beschwerdeführer für eine Vertretung durch die XXXX , entschieden habe. Eine Vertretungsvollmacht für die genannte Organisation wurde ebenfalls übermittelt, wobei diese keine Zustellvollmacht umfasst.
13. Mit Stellungnahme vom 24.07.2020 wurde vom Beschwerdeführer ausgeführt, dass er sich seit 26.02.2019 in psychotherapeutischer Behandlung befinde. Psychische Ausnahmesituationen würden beim Beschwerdeführer massive Stressreaktionen auslösen, welche zu neuerlichem selbstverletzendem Verhalten führen würden. Durch seine Zöliakie und seine Schrumpfniere müsse der Beschwerdeführer, um schmerzfrei zu sein bzw. zu bleiben, einen strengen Ernährungsplan einhalten. Daher könne er Lebensmittel nicht uneingeschränkt konsumieren. Dies würde im Hinblick auf die Nahrungsmittelknappheit in Afghanistan zu einer konkreten individuellen akuten Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr führen. Seine Schrumpfniere bedürfe regelmäßiger medizinischer Kontrollen, um insbesondere sicherzustellen, dass die verbleibende Niere funktioniere, sodass es nicht zu einer Niereninsuffizienz komme.
Hinsichtlich seines Fluchtvorbringens habe der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleichbleibend vorgebracht, dass er aufgrund einer Beziehung zu einer Paschtunin von deren Brüdern, welche Mitglieder der Taliban wären, verfolgt werde. Gemäß den UNHCR – Richtlinien falle der Beschwerdeführer unter mehrere Risikoprofile. Ihm würde vorgeworfen werden, vermeintlich gegen islamische Grundsätze, Normen und gegen die sozialen Sitten verstoßen zu haben. Zusätzlich gehöre der Beschwerdeführer der ethnischen Minderheitengruppe der schiitischen Hazara an. Eine begründete Furcht vor Verfolgung könne insbesondere aus einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen resultieren.
Die Sicherheitslage in seinem Herkunftsdistrikt habe sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Die Provinz Parwan sei auch nicht sicher erreichbar, sodass eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz eine Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK darstellen würde. Aufgrund der aktuellen COVID-19 Pandemie sei jedenfalls keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer zumutbar. Beim Beschwerdeführer handle es sich keinesfalls um einen gesunden Afghanen, da er durch seine psychischen und physischen Beeinträchtigungen bei einer Rückkehr in eine unzumutbare und hoffnungslose Lage geraten würde. Sein psychischer Zustand habe sich nur durch die intensive Betreuung seiner österreichischen Patenfamilie stabilisiert. Zudem verfüge der Beschwerdeführer über kein familiäres oder soziales Unterstützungsnetzwerk in einer afghanischen Großstadt. Seine Kernfamilie habe Afghanistan bereits verlassen. Durch die COVID-19 Pandemie könne er sich auch nicht mehr auf die traditionell bestehenden Unterstützungnetzwerke verlassen, da im Falle einer Krise die eigene Kernfamilie primär versorgt werde. Junge, unverheiratete Männer hätten im Allgemeinen die Verantwortung, ihre Familien zu unterstützen, sodass eine umgekehrte Unterstützung jedenfalls nicht ohne Anhaltspunkte angenommen werden könne. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer keinen Zugang zu Arbeit oder Obdach erhalten. Der Beschwerdeführer könne auch keine Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Den Länderinformationen könne entnommen werden, dass IOM seit April 2019 keine temporären Unterkünfte für zwangsrückgeführte Afghanen zur Verfügung stelle. Ebenso wäre das Projekt Restart II bereits seit Ende des Jahres 2019 ausgelaufen. Die von IOM organisierte „Reception Assistance“ umfasse lediglich Hilfe bei Formalitäten am Flughafen und bei der Weiterreise und biete keine Unterstützung nach der Ankunft. Auch die Unterstützungsmöglichkeiten durch die afghanische Regierung könne der Beschwerdeführer nicht in Anspruch nehmen, da er diesbezüglich einen Antrag in seiner Herkunftsprovinz stellen müsste.
Der Beschwerdeführer verwies weiters auf diverse Länder- und Medienberichte, insbesondere hinsichtlich der aktuellen COVID-19 Pandemie, und übermittelte ein Gutachten von Friederike Stahlmann vom 27.03.2020 sowie die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown- Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020.
Der Beschwerdeführer übermittelte weiters eine Psychotherapiebestätigung vom 21.07.2020, worin bestätigt wird, dass er seit 26.02.2019 bei XXXX in laufender psychotherapeutischer Behandlung ist.
14. Am 28.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.
Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes führte der Beschwerdeführer aus, dass er etwa ein Monat lang Schlaftabletten eingenommen habe. Aktuell nehme er jedoch keine Medikamente ein. Aufgrund von psychischen Problemen und Depressionen befinde er sich aktuell in psychotherapeutischer Behandlung. Seine Niere müsse regelmäßig von einem Arzt kontrolliert werden. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, keine glutenhaltigen Lebensmittel zu vertragen. In Afghanistan habe er noch nicht unter Zöliakie gelitten.
Der Beschwerdeführer berichtigte, dass das Geld in angegebener Höhe von 100.000 – 200.000 Afghani nicht von ihm, sondern von seinem Vater angespart worden wäre. Im Iran sei er sechs Monate aufhältig gewesen.
Seine Mutter und sein Bruder würden sich noch in Afghanistan in seinem Heimatdorf befinden. Er stehe etwa einmal im Monat mit seiner Kernfamilie in Kontakt. Seinem Bruder gehe es gut, seine Mutter sei jedoch krank. Festhalten wurde durch den Beschwerdeführer und seine Vertretung, dass die diesbezügliche Angabe in der Stellungnahme vom 24.07.2020, dass seine Familie Afghanistan bereits verlassen habe, auf einem Kopierfehler beruhen müsse. Seine Kernfamilie arbeite auf den Feldern und versuche, sich davon zu ernähren. Noch könne sich seine Familie durch die Erträge der eigenen Landwirtschaft selbst ernähren. Seitdem seine Mutter krank wäre, habe der Beschwerdeführer bereits Geld, etwa € 200,- zur Unterstützung nach Afghanistan gesendet. Weiters habe er noch einen Onkel in Afghanistan. Befragt zu seiner Schulbildung führte der Beschwerdeführer aus, in der Moschee ein wenig lesen und schreiben gelernt zu haben. Über eine Berufsausbildung verfüge der Beschwerdeführer ebenfalls nicht, zumal er lediglich seiner Familie auf den Feldern geholfen habe.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er die Ermordung seines Vaters nicht persönlich gesehen, sondern nur von anderen Personen davon erfahren habe. In seiner Herkunftsprovinz wären tagsüber Sicherheitsorgane der Regierung tätig, nachts jedoch nicht. Der Beschwerdeführer selbst habe, abgesehen von den Begebenheiten mit dem paschtunischen Mädchen, keinen Kontakt mit Taliban gehabt. Zu seiner Liebesbeziehung mit dem paschtunischen Mädchen führte der Beschwerdeführer aus, mit ihr keine körperliche Beziehung gehabt zu haben, da er erst 15 oder 16 Jahre alt gewesen sei. Er gab an, sie in einem kleinen Krankenhaus kennengelernt zu haben. Sie hätten sich daraufhin bei einer Pilgerstätte namens XXXX getroffen und wären anschließend in den Feldern bzw. im Wald gesessen und hätten sich unterhalten. Die Treffen hätten etwa einmal in der Woche stattgefunden. Seine Freundin habe für die Treffen mit dem Beschwerdeführer eine Ausrede benützt, damit ihre Familie keinen Verdacht schöpfe. Als die Brüder die beiden entdeckt hätten, sei sowohl der Beschwerdeführer als auch seine Freundin geschlagen worden. Hätten die Brüder Waffen gehabt, wäre der Beschwerdeführer mit Sicherheit sofort getötet worden. Der Beschwerdeführer habe jedoch flüchten können. Seine Behauptung in der Einvernahme vor dem BFA, er habe weitere sechs Monate in seinem Wohnhaus gelebt und weiterhin gearbeitet, sei falsch protokolliert worden. Er sei zu einem Bekannten gelaufen, welcher etwa eine Stunde von seinem Wohnhaus entfernt gewohnt habe. Dort habe er die nächsten sechs Monate gearbeitet, um genügend Geld für die Flucht zu verdienen. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er nur einmal nach dem Vorfall in sein Wohnhaus zurückgekehrt sei, um noch Geld von seiner Mutter zu holen. Dabei sei er von seinem Freund begleitet worden, welcher zuerst das Haus betreten und überprüft habe, ob Taliban in der Nähe wären. Seine Mutter habe ihm berichtet, dass die Taliban bereits zwei Mal bei der Familie zu Hause gewesen wären und nach dem Beschwerdeführer gefragt hätten. Die Taliban hätten sowohl seine Mutter, als auch seinen Bruder bedroht. Kontakt zu dem Mädchen habe der Beschwerdeführer seit diesem Vorfall keinen mehr gehabt, und er wisse auch nicht, was aus ihr geworden sei.
Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer jedenfalls getötet werden, da die Brüder des Mädchens schnell erfahren würden, dass sich der Beschwerdeführer wieder in Afghanistan aufhalte. Wenn ein paschtunisches Mädchen mit einem Hazara eine Beziehung führe, stelle dies eine Ehrverletzung dar. Die Ehre könne erst wieder hergestellt werden, wenn beide tot wären. Da die Brüder Mitglieder der Taliban wären, würden sie den Beschwerdeführer auch in einer weit entfernten Großstadt finden.
Betreffend seine Integration führte der Beschwerdeführer aus, vor etwa einem Jahr die Familie XXXX kennengelernt zu haben. XXXX sei wie eine Mutter für ihn. Trotz der Covid-19 Pandemie sei sie mit ihm aus Vorarlberg nach Wien gekommen, um als Zeugin seine gute Integration in Österreich zu bezeugen. XXXX bestätigte im Zuge ihrer zeugenschaftlichen Einvernahme, den Beschwerdeführer fast täglich zu sehen. Er wohne zwar nicht bei ihnen, er sei jedoch willkommen bei der Familie zu übernachten, wenn er möchte. XXXX sehe den Beschwerdeführer als ihren afghanischen Sohn, eine Adoption odgl. sei jedoch nie ein Thema gewesen. Sie führte aus, dass der Beschwerdeführer sehr hilfsbereit und sozial sei.
Weiters spiele er in einem Volleyball-Verein und arbeite in einer Fahrradwerkstatt, wo er für seine Arbeit € 110,- im Monat verdiene. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er sobald wie möglich den B1-Deutschkurs besuchen und anschließend eine Lehre absolvieren möchte. Die A2-Deutschprüfung habe er bereits absolviert, er habe allerdings das Ergebnis noch nicht erfahren. Der Beschwerdeführer legte ein umfangreiches Konvolut an Integrationsunterlagen samt zahlreicher Unterstützungsschreiben vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2 Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Stellungnahmen, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2018, letzte KI vom 21.07.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019), das Dossier der Staatendokumentation: Stammes- und Clanstruktur (2016), das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 08.02.2017 betreffend die Situation von Personen mit Tätowierungen, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan vom 16.03.2018: Tattoo-Studios in Kabul, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, das Gutachten zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan vom 27.07.2009 von Mag. Zerka MALYAR, sowie die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan - OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 60 (9 July 2020) werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Parwan befindet. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder. Sein Vater ist bereits seit einigen Jahren verstorben. Die Familie besitzt ein Wohnhaus und landwirtschaftlich genutzte Grundstücke.
Der Beschwerdeführer verfügt über keine Schulbildung. Er lernte jedoch in der Moschee ein wenig lesen und schreiben. Er verfügt über geringe Berufserfahrung als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft.
Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Er leidet allerdings an einer Schrumpfniere, die regelmäßig medizinisch kontrolliert werden muss. Er leidet ebenfalls an einer posttraumatischen Belastungsstörung und ist seit 26.02.2019 in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung. Beim Beschwerdeführer wurde Zöliakie festgestellt, sodass er keine glutenhaltigen Nahrungsmittel verträgt. Medikamente benötigt der Beschwerdeführer derzeit nicht.
Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der Beschwerdeführer hat einen Skorpion und diverse Buchstaben auf seinem linken Arm tätowiert. Es handelt sich nicht um religiöse Tattoos. Sein linker Arm weist zahlreiche Narben von Schnittverletzungen auf.
Der Beschwerdeführer ist unbescholten.
2.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es konnte nicht festgestellt werden, ob und wie der Vater des Beschwerdeführers gestorben ist bzw. ob er von Taliban getötet wurde.
Der Beschwerdeführer führte in Afghanistan eine Freundschaft zu einem paschtunischen Mädchen namens XXXX . Ob der Beschwerdeführer von den Brüdern dieses Mädchens geschlagen und bedroht wurde, konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan nicht aus Furcht vor diesen Brüdern verlassen. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Brüder Mitglieder der Taliban waren oder mit den Taliban zusammenarbeiteten.
Die Familie des Beschwerdeführers wurde nicht von Taliban bedroht.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen.
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan als Minderjähriger und reiste schlepperunterstützt nach Europa.
2.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit drei Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 14.06.2017 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht und die Deutschprüfung A2 absolviert, er hat jedoch diesbezüglich noch kein Ergebnis erhalten. Er besuchte weitere Integrations- bzw. Alphabetisierungskurse.
Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem Volleyball-Verein.
Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung. Weiters geht er einer Erwerbstätigkeit in einer Fahrradwerkstatt nach und erhält dafür etwa € 110,- im Monat.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten. Er führt in Österreich keine Beziehung. Der Beschwerdeführer verfügt über österreichische Freunde. Er hat eine enge soziale Bindung zu XXXX und deren Familie.
2.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von den Brüdern des paschtunischen Mädchens wegen einer Ehrverletzung verfolgt werden.
Der Beschwerdeführer wäre auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara oder aufgrund seines schiitischen Glaubens einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.
Der Beschwerdeführer kann daher grundsätzlich nach Afghanistan zurückkehren.
In seiner Herkunftsprovinz Parwan ist die allgemeine Sicherheitslage volatil. Es kann ebenfalls keine sichere Erreichbarkeit der Herkunftsprovinz gewährleistet werden. Es kann daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Parwan, aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht, sodass eine Rückkehr in die Provinz Parwan nicht möglich ist.
Die Stadt Kabul steht dem Beschwerdeführer nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
Die Mutter und der jüngere Bruder des Beschwerdeführers befinden sich noch in seinem Herkunftsdorf. Zu seiner Kernfamilie steht der Beschwerdeführer regelmäßig in Kontakt. Der Beschwerdeführer hat einen weiteren Onkel in seinem Herkunftsdorf. Seine Kernfamilie kann den Beschwerdeführer nicht finanziell unterstützen. Aufgrund der aktuellen Nahrungsmittelknappheit und der angespannten wirtschaftlichen Situation kann der Beschwerdeführer nicht mit finanzieller Unterstützung seines Onkels rechnen oder auf sonstige traditionelle Unterstützungsnetzwerke zurückgreifen. Der Beschwerdeführer verfügt jedenfalls über kein soziales Netzwerk in Herat oder Mazar-e Sharif oder einer anderen afghanischen Großstadt.
Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Insbesondere sind durch die weltweite COVID-19-Pandemie exzeptionelle Umstände gegeben, die annehmen lassen, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfindet und von ihm die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Es ist dem Beschwerdeführer nicht möglich in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.
Auch ohne die Berücksichtigung der COVID-19 Pandemie wäre die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zu verneinen, da er insbesondere über keine Schulbildung verfügt und lediglich geringe Arbeitserfahrung als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter vorweisen kann, welche ihm in einer Großstadt nicht helfen könnte. Der Beschwerdeführer ist zwar jung, volljährig und arbeitsfähig, er kann jedoch nicht als gesund bezeichnet werden und verfügt über keine finanzielle Unterstützung durch seine Kernfamilie oder sonstige Verwandte.
Die aktuellen COVID-19 Fallzahlen haben sich in den letzten Wochen massiv erhöht, wobei diesen aufgrund der geringen Testkapazitäten nur sehr eingeschränkte Aussagekraft beigemessen wird. Vielmehr ist von einer sehr hohen Dunkelziffer an sowohl mit dem Covid-19 Virus infizierten Personen als auch bereits daran Verstorbenen auszugehen. Alle verfügbaren Länderinformationen stimmen dahingehend überein, dass die durch die COVID-19 Pandemie verursachte Situation sich noch weiter verschärfen wird und eine Verbesserung innerhalb der nächsten Monate auszuschließen ist.
Sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif wurde insbesondere seit Anfang 2020 ein erheblicher Anstieg von Kriminalität und sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet.
Die angeführten Städte verfügen zwar jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese zumindest nach Mazar-e Sharif weitgehend gefahrfrei erfolgen könnte, jedoch ist die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die Covid-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit stark eingeschränkt. Der Inlandsflugverkehr wurde noch nicht wiederaufgenommen. Obwohl die internationalen Verbindungen in eingeschränktem Maße von den Fluggesellschaften Turkish Airlines und Emirates sowie den afghanischen Ariana Airlines und Kam Air bedient werden, kann ein Trend zur Normalisierung der globalen Reisefreiheit derzeit nicht erkannt werden.
Zudem bestehen in ganz Afghanistan derzeit auch pandemiebedingte Einschränkungen und damit zusammenhängend kaum Möglichkeiten für einen Afghanen, der in Mazar-e Sharif oder Herat weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügt, eine Arbeit und/oder eine Unterkunft zu finden. Beides ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert.
Die Situation ist insbesondere in Herat durch die zigtausenden Rückkehrer aus dem von der Covid-19 Pandemie besonders stark betroffenen Iran sehr angespannt. Die afghanischen Grenzen zum Iran wurden nach Ausbruch des Corona-Virus im Iran regelrecht von Rückkehrern überrannt. Seit 01.01.2020 sind 337.871 Personen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt.
Die Grundversorgung war vor der Covid-19 Pandemie in Afghanistan generell – und so auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat – grundlegend gesichert. Aufgrund der erschwerten Importsituation und der höheren Nachfrage sind die Lebensmittelpreise um bis zu 19% gestiegen. Insbesondere steigen die Kosten der Grundnahrungsmittel um einen hohen, oft zweistelligen Prozentsatz, sodass die Grundversorgung der Bevölkerung in ganz Afghanistan generell nicht mehr gewährleistet ist.
Die Versorgungslage betreffend die Nahrungsmittelversorgung wird in Mazar-e Sharif und Herat mit Stufe 3 „Krise“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) klassifiziert, wonach Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen bzw. nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken.
Die Wohnraum-, die Arbeitsmarkt- und die Versorgungslage in Herat und Mazar-e Sharif waren bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Es war am Arbeitsmarkt zwar schwierig, da eine große Anzahl an Menschen aus verschiedensten Regionen insbesondere nach Mazar-e Sharif kommen, die größtenteils ebenfalls auf Arbeitssuche sind, aber insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeiten ohne besondere Vorkenntnisse möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und auf diese Weise ein Einkommen auf dem dort üblichen Niveau zu erzielen.
Seit Beginn der COVID-19 Pandemie ist der Zugang zum Arbeitsmarkt in den beiden Städten sehr beschränkt, da es nur sehr begrenzt offizielle Arbeitsplätze gibt. Da die Aufnahmegemeinden hier mit den gleichen Problemen konfrontiert sind und für sich beanspruchen würden, vorrangig behandelt zu werden, ist es für manche Rückkehrende noch schwieriger, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten, sodass es fast unmöglich erscheint, ohne ein soziales Netzwerk in den genannten Städten, sowohl eine Unterkunft als auch eine Arbeit zu finden.
Das erkennende Gericht geht weiters davon aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan vermutlich nicht in der Lage wäre, eine Unterkunft zu finden, zumal die Teehäuser in den Städten geschlossen sind.
Der Beschwerdeführer hat Afghanischen als Minderjähriger verlassen. Er ist zwar anpassungsfähig, jedoch mangelt es ihm an der notwendigen Arbeitserfahrung, in der noch schwierigeren Situation, welche durch die COVID-19 Pandemie verursacht wurde, sich in einer fremden Großstadt selbstständig eine Arbeit zu beschaffen und seine grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er besitzt keine lokalen Kenntnisse von Herat oder Mazar-e Sharif.
Auch wenn es sich bei einigen der aktuellen Einschränkungen, wie etwa dem Flugverkehr, um vorübergehende Einschränkungen handelt, kann auf Grundlage der aktuellen Länderinformationen prognostiziert werden, dass sich die wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere die noch angespanntere Arbeitsmarkt- und Versorgungslage, nicht nur vorübergehend als dramatisch darstellen werden. Das Gericht geht davon aus, dass es sich in Afghanistan nicht nur um eine vorübergehende Verschlechterung insbesondere der wirtschaftlichen Situation im zeitlichen Ausmaß von wenigen Monaten handelt.
Der Beschwerdeführer zählt nicht zur Risikogruppe der Covid-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw. Menschen mit einschlägigen Vorerkrankungen), sodass für den Beschwerdeführer Lebensgefahr zwar nicht ausgeschlossen werden kann, zumal auch junge Menschen aufgrund einer Infektion mit dem Covid-19 Virus sterben könnten. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan sind aber insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung aufgrund der nunmehr angespannten Situation und der steigenden Preise von Lebensmittel nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde, wobei die beim Beschwerdeführer diagnostizierte Zöliakie und die dadurch bedingte Notwendigkeit, sich streng glutenfrei zu ernähren, zusätzlich zu beachten ist. Das fragile Gesundheitssystem ist bereits durch Vorfälle mit großen Opferzahlen, wiederkehrende Ausbrüche übertragbarer Krankheiten sowie durch eine hohe Inanspruchnahme durch nicht übertragbare Krankheiten und Unterernährung überlastet. Beim Beschwerdeführer besteht zudem ein höheres Risiko als bei gesunden Männern, dass im Falle eines medizinischen Notfalles, etwa einer auftretenden Niereninsuffizienz aufgrund seiner Schrumpfniere, die medizinische Grundversorgung aufgrund der bereits eingetretenen Überlastung des Gesundheitssystems nicht gewährleistet werden könnte.
In einer Zusammenschau der aus den spezifischen individuellen Merkmalen des Beschwerdeführers (Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, fehlendes soziales Netzwerk in den Großstädten, fehlende finanzielle Unterstützung seiner Familie, fehlende lokale Kenntnisse, fehlende Schulbildung, nur geringe Arbeitserfahrung, Zöliakie, psychische und physische Beeinträchtigungen) resultierenden Erschwernissen unter Berücksichtigung der aufgrund der durch die Covid-19 Pandemie verursachten angespannten und nicht nur vorübergehend verschlechterten Arbeits-, Nahrungs- und Wohnsituation im Herkunftsstaat, ist im Fall des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass er in Mazar-e Sharif oder Herat Fuß fassen und ein Leben ohne unbillige Härte wird führen können. Es ist im Fall einer dortigen Ansiedelung sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung nicht befriedigen wird können und in eine ausweglose Situation gerät.
2.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 29.06.2020 (LIB 13.11.2019),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und
- Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016)
- Gutachten zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan vom 27.07.2009 von Mag. Zerka MALYAR
- ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,
- EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie
- die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 60 (9 July 2020)
- diverse zitierte Quellen, welche ebenfalls im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan verwendet werden.
2.5.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).
Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).
Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).
Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).
Aktuell liegen weiterhin Berichte aus vielen Provinzen über Kampfhandlungen und Anschläge, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, vor. Nach Informationen der New York Times seien im Juli 2020 bisher mindestens 137 Sicherheitskräfte und 51 Zivilisten getötet worden. Beispielhaft seien folgende Ereignisse genannt: Bei einem Feuergefecht zwischen afghanischen und pakistanischen Soldaten wurden am 15./16.07.2020 in der östlichen Provinz Kunar (Distrikt Sarkano) mindestens 20 Zivilisten verletzt oder getötet. Nach afghanischer Darstellung hätten pakistanische Streitkräfte versucht, einen Checkpoint auf afghanischem Gebiet zu errichten. Auch in der Provinz Nangarhar sollen pakistanische Kräfte Checkpoints vor der Grenze zu Pakistan auf afghanischem Gebiet errichtet haben. Während des Besuchs von Präsident Ghani in Ghazni City (Südosten) wurden mehrere Raketen auf die Stadt abgefeuert, wobei vier Zivilisten verletzt wurden. Ein Vertreter des Provinzrats von Ghazni erklärte, dass sechs der neun Distrikte der Provinz belagert würden. Am 19.07.20 wurden in den Provinzen Zabul und Paktika zwei Polizeichefs von Distrikten bei Anschlägen getötet und mehrere Polizisten verletzt.
Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat in den letzten neun Monaten 17 Angriffe auf religiöse Einrichtungen dokumentiert, bei denen 170 Menschen getötet und 272 verletzt wurden. Hervorzuheben seien Angriffe auf zwei Moscheen in Kabul, auf Sikh Tempel in Kabul und Jalalabad, sowie Übergriffe auf Geistliche in Takhar, Parwan, Laghman, Paktia und Helmand. Einen Imam im Dorf Kohna Masjid (Distrikt Dahana-e-Ghori, Provinz Baghlan) sollen die Taliban gefoltert und getötet haben, weil er eine Beerdigungszeremonie für einen lokalen Polizeikommandanten abgehalten haben soll.
Die USA haben mit dem im Friedensabkommen mit den Taliban vereinbarten Truppenabzug begonnen und Soldaten aus den Provinzen Helmand, Uruzgan, Paktika und Laghman zurückgezogen. Gleichzeitig besteht die US-Regierung auf der Erfüllung weiterer Vereinbarungen, wie dem Abschluss der Freilassung von Gefangenen, der Reduzierung der Gewalt sowie der Aufnahme von innerafghanischen Gesprächen. Der Gefangenenaustausch verläuft schleppend. Nach Angaben der afghanischen Regierung seien bisher 4.400 der versprochenen 5.000 gefangenen Taliban freigelassen worden. Hinsichtlich der übrigen 600 Gefangenen verweigert die Regierung die Freilassung, da sie wegen schwerer Verbrechen inhaftiert seien, die Taliban sollten eine neue Liste vorlegen. Die Taliban haben inzwischen 600 von 1.000 afghanischen Sicherheitskräften freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).
2.5.2 Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:
Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.
Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.
Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).
2.5.3 Sicherheitslage im Jahr 2019:
Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:
Provinz
Anzahl Vorfälle
Anzahl Vorfälle mit Todesopfern
Anzahl Todesopfer
Badakhshan
200
95
798
Badghis
325
200
1863
Baghlan
395
184
1465
Balkh
615
269
1821