TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/20 W265 2230136-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.08.2020
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Entscheidungsdatum

20.08.2020

Norm

Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1
BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W265 2230136-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 19.03.2020, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben.

Die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass liegen vor.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer ist Inhaber eines Behindertenpasses. Zuletzt wurde bei ihm mit Sachverständigengutachten vom 08.05.2019 ein Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. festgestellt.

Am 10.01.2020 beantragte der Beschwerdeführer beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass sowie die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b StVO (Parkausweis) und legte dabei ein Konvolut an medizinischen Befunden vor.

Die belangte Behörde gab in der Folge ein Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung in Auftrag.

In dem auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 02.03.2020 basierenden allgemeinmedizinischen Gutachten vom 06.03.2020 wurde Folgendes - hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben – ausgeführt:

„Anamnese:
beantragt wird: Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel"

VGA mit Anerkennung von GdB 50% XXXX 4/2019 wegen KHK, Z.n. 2fach Bypass 2009 30%, Z.n. Aortenklappenersatz 30%, Degenerative Veränderungen der WS 30%, Diabetes mellitus Typ 2 20%, essentieller Tremor 20%
Beschwerde - Genehmigung des Parkausweises wurde 5/2019 abgelehnt.

Derzeitige Beschwerden:

Ich bin seit einiger Zeit in der Bewegungstherapie ambulant, beim MRT Schädel war nichts auffällig, bei der Nervenleitgeschwindigkeit ist auch nichts Auffälliges gewesen. Gattin berichtet, er kann fast nicht mehr gehen, nach der Herzklappenoperation ist es mit dem Gehen schlechter geworden. in der Wohnung geht er mit dem Stock, draußen mit dem Rollator. Heute sind wird mit dem Taxi gekommen, meistens fahre ich mit dem Auto, nur am Land fahre der Gatte in der Siedlung kurze Strecken

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
ATORVASTATIN 1AFTBL80MG
INDERALFTBL IOMG
MARCOUMAR TBL 3MG
METFORMIN HEX FTBL 500MG
OLEOVIT D3 TR
PANTOLOC FTBL 40MG
Metagelan bei Bedarf, Liskantin

Sozialanamnese:
verheiratet, 2 Kinder
Beruf: selbständig
Pension seit 1997

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

11/2019: AKH Neurologie: Seit 2015 Gleichgewichtsprobleme, Gangunsicherheit (tapsig), kein Schwindel, keine Stürze. Zudem Schmerzen im LSW-Bereich, kein Ausstrahlen, keine sensiblen Defizite. Vor ca. 1 1/2 Jahren einmalig Stuhl- und Harnverlust unwillkürlich, Miktion/Defäkation aktuell o.B.
insgesamt keine aktuelle Beschwerdedynamik

Neurostatus: HN o.B, Geh/Stehversuch ungerichtet unsicher, breitbasig, Strichgang nicht durchführbar, Zehengang und Fersengang durchführbar, MER an UE allseits fehlend, Laseque rechts positiv bei 80°, links neg., PYZ neg. Sensibilität für feine Berührung unauffällig, Reithose frei, D: Lumbago ohne radikuläre Symptomatik
XXXX , FA f. Interne: 12/19: D: KHK, Zn Aortenklappenersatz, CABG Vene RCA 9/2015

Diabetes mellitus Typ 2, ausgedehnte Carotisplaques, geringe Stenose ACID, abdominelle Aortensklerose, Makrozytose
Vitamin D Mangel, Nikotinabusus, essentieller Tremor, Gangstörung

Gehfähigkeit zunehmend eingeschränkt, kommt mit Stock, in Begleitung der Gattin, weil ihm das über mittelweite Strecken Sicherheit gebe, kardiopumonal nicht eingeschränkt, keine Dyspnoe, keine Beinödeme, keine Angina Pectoris Beschwerden.

Herzecho: systolisch Linksventrikelfunktion global gut erhalten, ohne regionale Wandbewegungsstörung

AKH 2/2020: Neurologie: CMRT:18.2.2020: mittelgradige Zeichen der Leucaraiosis, mittelgradige Zeichen der cerebralen Mikroangiopathie, keine Hinweise für rezente Ischämie, E-vacuo Erweiterung der Seitenventrikel im Hinterhornbereich. mäßiggradige Prominenz der äußeren Liquorräume hochfrontoparietal und mäßiggradig cerebellär bds im Sinne mäßiggradiger hirnatrophischer Veränderungen. im Übrigen altersentsprechend unauffälliger Befund- kein Hinweis auf intracranielle Raumforderung.

aktuell Liskantin 1-0-1, Heute NLG: keine Hinweise für Polyneuropathie bei gut darstellbaren N. suralis, N. peroneus, N. tibialis.

Beurteilung: Aktuell Hauptproblem Gangstörung unverändert. Es bestehe eine Einschränkung der Mobilität. Pat gibt an, dass Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht möglich sei. Eine Polyneuropathie fand sich heute in der NLG nicht. Medikamentenliste: XXXX , 28.2.2020

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:
normal

Ernährungszustand:
normal

Größe: 180,00 cm  Gewicht: 79,00 kg  Blutdruck: 110/70

Klinischer Status – Fachstatus:
Caput frei
Cor: r,arrythm, nf
Pulmo: frei, VA, Z.n. blander Narbe nach Bypass OP
Abdomen weich, kein DS, normale DG, Z.n. CHE

Schultergürtel/obere Extremität:

Nacken und Schürzengriff durchführbar, Faustschluss bds möglich, Spitzgriff bds normal möglich

Eudiadochokinese, anamestisch keine Sensibilitätsstörungen, bei Armvorhalten milder Tremor bds, keine motorischen Defizite, keine sensiblen Defizite, Neurologisch grob unauffällig,

Becken/untere Extremitäten:

freies Stehen sicher, Aufstehen aus dem Sitzen von der Untersuchungsliege verlangsamt, aber selbständig möglich, Einbeinstand bds nicht durchführbar, Stiegensteigen anmnestisch nur mit Anhalten möglich, Zehen und Fersengang wird als nicht durchführbar negiert

Gehen mit Stock im Untersuchungszimmer langsam möglich, breitbasiger kleinschrittiger Gang

Kraft seitengleich, Muskulatur bds symmetrisch, Beine schlank, keine Beinödeme, Fußpulse palpabel
keine Varizen, Besenreiser,
Knie/Sprung/Zehengelenke altersentsprechend bds frei beweglich
Hüfte/bds altersentsprechend frei beweglich
WS: keine Klofpdolenz über der gesamten WS
HWS: endlagig bds leicht eingeschränkt
BWS/LWS: Rotation bds und Seitwärtsneigung endlagig eingeschränkt
FBA nicht prüfbar, da Schwindel

im Sitzen Greifen bis Mitte Unterschenkel möglich

Gesamtmobilität – Gangbild:

kommt in Begleitung der Gattin mit Rollator, Umhergehen im Untersuchungszimmer mit Stock, kleinschrittiger Gang, verlangsamtes Gangtempo

Status Psychicus:

allseits orientiert, Konzentration, Stimmungslage, Antrieb unauffällig

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

1

KHK , Z.n Intervention 2008 (2fach Bypass)

2

Z.n. Aortenklappenersatz

3

Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

4

Nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus

5

Essentieller Tremor

6

Hypertonie

x Dauerzustand

1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

Keine. Bei Z.n. Aortenklappenersatz und Z.n Bypass Operation bestehen keine kardiopulmonalen Einschränkungen, die globale systolische Linksventrikelfunktion ist gut erhalten. Es zeigt sich eine Gangstörung, (unverändert zum Vorbefund 2018 und 2/2019 XXXX ) kleinschrittiges Gangbild, im Schädel MRT jedoch kein ischämisches Korrelat, lediglich mittelgradige Zeichen der cerebralen Mikroangiopathie sowie, Zeichen der Leucaraiosis. Die Nervenleitgeschwindigkeit zeigte keine Auffälligkeit oder Hinweis für eine Polyneuropathie. Der Essentielle Tremor wird mit Liskantin therapiert. Sowohl in der klinischen Untersuchung als auch im neurologischem Status vom AKH 11/2019 ergaben sich keine radikulären Ausfälle, keine sensiblen Defizite. Es besteht eine Gangstörung mit kleinschrittigem Gang, Stürze sind nicht dokumentiert. Das Erfordernis eines Rollators oder einer einfachen Gehhilfe sind nicht befunddokumentiert. Es ist weder die Gehleistung noch die Beweglichkeit der Arme maßgeblich eingeschränkt, sodass das Zurücklegen kurzer Wegstrecken, allenfalls unter Zuhilfenahme einer einfachen Gehhilfe, das Ein- und Aussteigen sowie die sichere Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erheblich erschwert ist.

2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?

nein

…“

Mit Schreiben vom 10.03.2020 brachte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Wahrung des Parteiengehörs gemäß § 45 AVG zur Kenntnis und räumte ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme ein.

Mit Schreiben vom 16.03.2020 gab der Beschwerdeführer eine Stellungnahme ab.

Mit angefochtenem Bescheid vom 19.03.2020 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ in den Behindertenpass ab. In der Begründung des Bescheides werden im Wesentlichen die Ausführungen des eingeholten Sachverständigengutachtens vom 06.03.2020, welches als schlüssig erachtet werde, wiedergegeben. Dem Beschwerdeführer sei Gelegenheit gegeben worden, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Der im Rahmen des Parteiengehörs erhobene Einwand des Beschwerdeführers sei nicht geeignet gewesen, das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zu entkräften, weil er mangels Vorlag neuer Beweismittel nicht ausreichend dokumentiert gewesen sei. Mit dem Bescheid wurden dem Beschwerdeführer das ärztliche Sachverständigengutachten übermittelt. Weiters wurde im Bescheid angemerkt, dass über den Antrag auf Ausstellung eines § 29b-Ausweises nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht abgesprochen werde, da laut Entscheidung der belangten Behörde die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" nicht vorlägen.

Mit Fax-Nachricht vom 01.04.2020 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid fristgerecht die gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Dabei brachte er vor, dass er erhebliche Einschränkungen der unteren Extremitäten habe. Eine Wegstrecke von 300 bis 400m könne er aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe nicht bewältigen. Die Möglichkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei für ihn nicht zumutbar. In den letzten zwei Wochen habe sich sein Zustand verschlechtert. Er sei zwei Mal in der Wohnung gestürzt und habe starke Prellungen im Lendenbereich. Ohne Gehilfe sei auch in der Wohnung keine Bewegung mehr möglich. Er müsse wöchentlich in ein Labor zum Marcoumtest, dies sei ihm alleine ohne Hilfe nicht möglich. Ohne Hilfe seiner Gattin könnte er die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen.

Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.05.2020 wurde der Beschwerdeführer zur Vorlage aktueller Befunde aufgefordert.

Mit Eingabe vom 20.05.2020 legte der Beschwerdeführer einen aktuellen Internistischen Befundbericht vom 19.05.2020 vor.

Aufgrund der Einwendungen des Beschwerdeführers und des vorgelegten medizinischen Befundes ersuchte das Bundesverwaltungsgericht um Erstellung eines Sachverständigengutachtens. In dem auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 26.06.2020 basierenden Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin und Fachärztin für Orthopädie vom 20.07.2020 wurde Folgendes - hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben - ausgeführt:

„…

Im Beschwerdevorbringen des BF vom 1.4.2020, Abl. 42, wird eingewendet, dass er 300-400 m aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigen könne und er in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr sicher befördert werden könne. Der Zustand habe sich in der letzten Zeit verschlechtert und er benötige auch in der Wohnung eine Gehhilfe. Er sei auf die Hilfe seiner Gattin angewiesen.

Vorgeschichte:

Aortenklappenersatz 2008 und 2015, koronare Herzkrankheit, zweifach Bypass 2008, ReCABG RCA 2015

COPD I

Diabetes mellitus Il, medikamentöse Therapie

Zustand nach Insult im 26. Lebensjahr

Essentieller Tremor seit 10 Jahren, seit 2015 Gangunsicherheit

Zwischenanamnese seit 03/2020:

Keine Operation, kein stationärer Aufenthalt

Befunde:

Abl. 21-22 Befund Neurologie AKH 7. 11. 2019 (essenzieller Tremor seit 10 Jahren, seit 2015 Gangunsicherheit mit Gleichgewichtsproblemen, kein Schwindel, keine Stürze. Schmerzen im LWS-Bereich, kein Ausstrahlen, keine sensiblen Defizite. Insgesamt keine aktuelle Beschwerdedynamik.

MRT der LWS: hochgradige Verschmälerung des Bandscheibenraumes L5/S1 dadurch Neuroforamina etwas eingeengt Neurologischer Status: Gangbild ungerichtet unsicher breitbasig, Strichgang nicht durchführbar Zehengang und Fersengang durchführbar. Zusammenfassung: Lumbago ohne radikuläre Symptomatik essenzielle Tremor)

Abl. 19 bis 20, Befund XXXX , Facharzt für Innere Medizin, 5.12.2019 (Gehfähigkeit zunehmend eingeschränkt, geht mit Stock, Neuropathie der unteren Extremitäten deutlich einschränkend, keine Besserung durch Gabapentin, cardiopulmonal nicht eingeschränkt. Keine Angina Pectoris. Neurologische Kontrolle wegen zunehmender Gangstörung bei bekannter Neuropathie)

Abl. 9-15 Beschluss Bundesverwaltungsgericht vom 12.6.2019, Beschwerde wird als unzulässig zurückgewiesen

Im Rahmen der aktuellen Begutachtung nachgereichte Befunde:

keine

Sozialanamnese: verheiratet, 2 Kinder, lebt in Wohnung im 1. Stockwerk mit Lift

Berufsanamnese: Pensionist, zuvor selbständig, Handelsagentur

Medikamente: Marcoumar, Metformin, Oleovit D3, Pantoloc, Sortis, Spiriva, Liskantin

Allergien: 0

Nikotin: 20

Laufende Therapie bei Hausarzt XXXX , 1050

Derzeitige Beschwerden:

„Schmerzen habe ich vor allem im Kreuz und in beiden Füßen. Habe ständig Schmerzen und bin in Behandlung im AKH auf der Neurologie. Bis 2015 beide Beine normal, nach der Operation haben Gleichgewichtsstörungen und Schwindel begonnen und in den letzten Jahren stetig zugenommen+ Habe ein Zittern in den Händen. Im MRT hat man einen Bandscheibenvorfall in der unteren Lendenwirbelsäule festgestellt.

Verwende den Rollator seit Dezember 2019 immer, wurde von Internist empfohlen, auch in der Wohnung teilweise Rollator oder Gehstock. In den letzten 3-4 Monaten hatte ich eine extreme Verschlechterung. Pflegegeld der Stufe 1 habe ich vor 2 Jahren zuerkennt bekommen, eine Neubemessung habe ich beantragt. Hergekommen sind wir mit dem Taxi.“

STATUS:

Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut.

Größe 180 cm, Gewicht 77 kg, Alter:78 Jahre

Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen

Thorax: symmetrisch, elastisch

Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA HAT rein, rhythmisch. Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz

Integument: unauffällig

Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:

Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse.

Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben.

Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden, Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.

Aktive Beweglichkeit: Schultern beidseits SO/90, Rotation endlagig eingeschränkt, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig.

Nacken- und Schürzengriff sind endlagig eingeschränkt durchführbar.

geringgradig Tremor beider Hände

Becken und beide unteren Extremitäten

Freies Stehen sicher, Zehenballengang und Fersengang beidseits nicht durchführbar.

Der Einbeinstand ist kurz mit Anhalten möglich, Die tiefe Hocke ist nicht möglich. Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhältnisse. Beinlänge ident.

Die Durchblutung ist ungestört, keine Odeme, keine Varizen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwielung ist in etwa seitengleich.

Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch annähernd unauffällig.

Aktive Beweglichkeit: Hüften beidseits S 0/90, IR/AR 5/0/30, Knie beidseits 0/1 0/1 10, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich.

Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60 0 bei KG 5 möglich. Wirbelsäule:

Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, verstärkte Kyphose der BWS, sonst regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, kein Hartspann, Klopfschmerz über der unteren LWS.

Aktive Beweglichkeit:

HWS: vorgeneigt, Beweglichkeit zur Hälfte eingeschränkt

BWS/LWS: FBA: Kniegelenke werden im Sitzen erreicht, Rotation und Seitneigen 10 Grad

Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar.

Gesamtmobilität — Gangbild:

Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen mit Rollator, das Gangbild ist mit Gehstock ein paar Schritte möglich, breitbeinig, kleinschrittig, deutlich verlangsamt und unsicher, mühsam. Das Aus- und Ankleiden wird mit Hilfe im Sitzen durchgeführt. Das Aufstehen wird mit Mühe und Schwung und Hilfe durch Gattin durchgeführt.

Status psychicus: Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig;

Stimmungslage ausgeglichen.

STELLUNGNAHME:

ad 1) Diagnosenliste

1.) koronare Herzkrankheit, Zustand nach zweifach Bypass

2.) Aortenklappen Ersatz

3.) degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

4.) Nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus

5.) essenzielle Tremor

6.) Hypertonie

7.) degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie, spondylogene

Gangstörung

ad 2) Liegen erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten

Ja, Zwar konnten im Bereich der Gelenke der unteren Extremitäten keine relevanten, über das Ausmaß von altersbedingten Veränderungen hinausgehenden Defizite festgestellt werden, jedoch ist die Funktion der unteren Extremitäten erheblich beeinträchtigt. Kraft und Koordination der unteren Extremitäten ist nicht ausreichend, um allenfalls unter Verwendung einer einfachen Gehhilfe, eine Wegstrecke von 300-400 m zurücklegen zu können und in öffentlichen Verkehrsmitteln sicher transportiert werden zu können. Allein das Aufstehen vom Sessel - auf sich nicht bewegender Unterlage — ist mühsam und nur eingeschränkt selbstständig möglich.

ad 3) Liegen erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit vor?

Nein, Eine höhergradige kardiopulmonale Funktionseinschränkungen oder anderweitige Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit ist nicht objektivierbar

In welchem Ausmaß wirken sich die festgestellten Leidenszustände nach ihrer Art und Schwere auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aus?

Wegen höhergradiger Gangablaufstörung ist die Gehleistung aufgrund einer Unsicherheit aus einer Mischung von funktionellem Defizit, Alter und allgemeiner Muskelschwäche in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass das selbständige Zurücklegen kurzer Wegstrecken von 300-400 m nicht möglich ist und das Überwinden von Niveauunterschieden und der sichere Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln erheblich beeinträchtigt sind Erschwerend sind die vertebragenen Schmerzen, überlagert durch neuropathische Beschwerden in den Füßen, zu werten. Therapeutische Optionen oder Kompensationsmöglichkeiten, welche zu einer wesentlichen Verbesserung der Gesamtmobilität führen, sind nicht gegeben

ad 4) Stellungnahme zu den Einwendungen des BF und internistischen Befund vom 19.0.2020, Abl. 48-49:

Vorgebracht wird, dass der BF 300-400 m aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigen könne und er in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr sicher befördert werden könne. Der Zustand habe sich in der letzten Zeit verschlechtert und er benötige auch in der Wohnung eine Gehhilfe. Er sei auf die Hilfe seiner Gattin angewiesen. Im Vergleich zum Gutachten vom 2.3.2020 ist die vorgebrachte Verschlechterung nachvollziehbar, sodass eine Neubeurteilung vorgenommen wird.

Befund XXXX Facharzt, Innere Medizin 19. 5. 2020 (seit 12/2019 regelmäßig Rollator in Verwendung, damit 100 m möglich, dann Ausrasten erforderlich. Öffentliche Verkehrsmittel könne er nicht benützen, weil er beim Loslassen des Rollator Gleichgewichtsstörungen habe. Sei in den letzten 2 Monaten dreimal gestürzt. Könne die Wohnung ohne Hilfe der Gattin nicht mehr verlassen. Gangstörung unklarer Genese, am ehesten spondylogen, Schmerzen in den Beinen.

EKG: weitgehend unauffällig

Sonografie der Halsgefäße: Plaques ohne hämodynamische Relevanz.

Schilddrüse: kein Hinweis auf Knotenbitdung

Echokardiografie: linksventrikuläre Wände gering verdickt, systolische Linksventrikelfunktion gut. Zustand nach Aortenklappenreoperation, Bioprothese, keine Insuffizienz, keine Stenose. Sonografie Oberbauch: unauffällig.

Diagnosenliste: fortgeschrittene Gangstörung, essenzieller Tremor, coronaria Skype,

Zustand nach zweifach Bypass 2008, ReCABG RCA 20153 Aortenklappenersatz 2015

Diabetes mellitus Typ 2, etc) - Anhand der aktuellen Untersuchung konnte eine maßgebliche Verschlimmerung festgestellt werden. Der Befund steht nicht in Widerspruch zu aktuell getroffener Beurteilung.

ad 11) Stellungnahme zu allfälligen von den angefochtenen Gutachten Abl. 28-32 abweichenden Beurteilungen:

Anhand der aktuellen Untersuchung konnte eine maßgebliche Verschlimmerung festgestellt werden, sodass eine Neubeurteilung erforderlich ist

ad 12) Feststellung ob bzw. eine Nachuntersuchung erforderlich ist:

Eine Nachuntersuchung ist nicht erforderlich.

ad 11) Wurden im Rahmen der nunmehrigen Begutachtung Befunde vorgelegt welche der Neuerungsbeschränkung unterliegen?

Nein.“

Mit Schreiben vom 29.07.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde das genannte Gutachten vom 20.07.2020 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte diesen die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben. Beide Parteien gaben keine Stellungnahme ab.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Inhaber eines Behindertenpasses mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 50 v.H.

Er stellte am 10.01.2020 beim Sozialministeriumservice einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ sowie auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b StVO (Parkausweis).

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 19.03.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" ab.

Beim Beschwerdeführer bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

?        koronare Herzkrankheit, Zustand nach zweifach Bypass

?        Aortenklappen Ersatz

?        degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

?        Nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus Essenzielle Tremor

?        Hypertonie

?        Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie, spondylogene Gangstörung

Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist dem Beschwerdeführer nicht zumutbar.

Hinsichtlich der beim Beschwerdeführer bestehenden einzelnen Funktionseinschränkungen, deren Ausmaß und wechselseitigen Leidensbeeinflussung sowie der Auswirkungen der Funktionseinschränkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel werden die diesbezüglichen Beurteilungen im oben wiedergegebenen Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin und einer Fachärztin für Orthopädie vom 20.07.2020 zu Grunde gelegt.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zum Behindertenpass und zur Antragsstellung ergeben sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gründet sich auf das durch das Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin und einer Fachärztin für Orthopädie vom 20.07.2020, basierend auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 26.06.2020.

Das Gutachten ist aus fachlicher Sicht schlüssig und nachvollziehbar. Es wird auf die Art der Leiden des Beschwerdeführers und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Auch wird zu den Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel eingehend Stellung genommen. Die Sachverständige führt dabei aus, dass wegen höhergradiger Gangablaufstörung die Gehleistung aufgrund einer Unsicherheit aus einer Mischung von funktionellem Defizit, Alter und allgemeiner Muskelschwäche in einem Ausmaß beeinträchtigt ist, dass das selbständige Zurücklegen kurzer Wegstrecken von 300-400 Meter nicht möglich ist und das Überwinden von Niveauunterschieden und der sichere Transport in öffentlichen Verkehrsmittelns erheblich beeinträchtigt ist. Erschwerend sind die vertebragenen Schmerzen, überlagert durch neuropathische Beschwerden in den Füßen, zu werten. Therapeutische Optionen oder Kompensationsmöglichkeiten, welche zu einer wesentlichen Verbesserung der Gesamtmobilität führen, sind nicht gegeben.

Die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass sind damit erfüllt.

Weder der Beschwerdeführer noch die belangte Behörde gaben eine Stellungnahme zum eingeholten Sachverständigengutachten ab.

Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bestehen keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit des auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers beruhenden Sachverständigengutachtens einer Ärztin für Allgemeinmedizin und einer Fachärztin für Orthopädie vom 20.07.2020 und wird dieses in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

1.       Zur Entscheidung in der Sache

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:

§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“

§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, idg F BGBl II Nr. 263/2016 lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:

„§ 1 ….

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

1. …….

2. ……

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
-         erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
-         erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
-         erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller

Fähigkeiten, Funktionen oder
-         eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
-         eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1

Abs. 2 Z 1 lit. b oder d vorliegen.

(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(6)……“

In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013 wird unter anderem – soweit im gegenständlichen Fall relevant - Folgendes ausgeführt:

„Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (neu nunmehr § 1 Abs. 4 Z. 3, BGBl. II Nr. 263/2016):

Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.

Unter erheblicher Einschränkung der Funktionen der unteren Extremitäten sind ungeachtet der Ursache eingeschränkte Gelenksfunktionen, Funktionseinschränkungen durch Erkrankungen von Knochen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Muskeln, Nerven, Gefäßen, durch Narbenzüge, Missbildungen und Traumen zu verstehen.

Komorbiditäten der oberen Extremitäten und eingeschränkte Kompensationsmöglichkeiten sind zu berücksichtigen. Eine erhebliche Funktionseinschränkung wird in der Regel ab einer Beinverkürzung von 8 cm vorliegen.

Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:

-        arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option

-        Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen

-        hochgradige Rechtsherzinsuffizienz

-        Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie

-        COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie

-        Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie

-        mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss nachweislich benützt werden

Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Funktionen umfassen im Hinblick auf eine Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgende Krankheitsbilder:

-        Klaustrophobie, Soziophobie und phobische Angststörungen als Hauptdiagnose nach ICD 10 und nach Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr,

-        hochgradige Entwicklungsstörungen mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten,

-        schwere kognitive Einschränkungen, die mit einer eingeschränkten Gefahreneinschätzung des öffentlichen Raumes einhergehen,

-        nachweislich therapierefraktäres, schweres, cerebrales Anfallsleiden – Begleitperson ist erforderlich.

Eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems, die eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen signifikanter Infektanfälligkeit einschränkt, liegt vor bei:

-        anlagebedingten, schweren Erkrankungen des Immunsystems (SCID – sever combined immundeficiency),

-        schweren, hämatologischen Erkrankungen mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit (z.B: akute Leukämie bei Kindern im 2. Halbjahr der Behandlungsphase, Nachuntersuchung nach Ende der Therapie),

-        fortgeschrittenen Infektionskrankheiten mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit,

-        selten auftretenden chronischen Abstoßungsreaktion nach Nierentransplantationen, die zu zusätzlichem Immunglobulinverlust führen.

Bei Chemo- und/oder Strahlentherapien im Rahmen der Behandlung onkologischer Erkrankungen, kommt es im Zuge des zyklenhaften Therapieverlaufes zu tageweisem Absinken der Abwehrkraft. Eine anhaltende Funktionseinschränkung resultiert daraus nicht.

Anzumerken ist noch, dass in dieser kurzen Phase die Patienten in einem stark reduzierten Allgemeinzustand sind und im Bedarfsfall ein Krankentransport indiziert ist.

Bei allen frisch transplantierten Patienten kommt es nach einer anfänglichen Akutphase mit hochdosierter Immunsuppression, nach etwa 3 Monaten zu einer Reduktion auf eine Dauermedikation, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Abwehrkräfte bei üblicher Exposition im öffentlichen Raum hat.

Keine Einschränkung im Hinblick auf die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel haben:

-        vorübergehende Funktionseinschränkungen des Immunsystem als Nebenwirkung im Rahmen von Chemo-und /oder Strahlentherapien,

-        laufende Erhaltungstherapien mit dem therapeutischen Ziel, Abstoßreaktionen von Transplantaten zu verhindern oder die Aktivität von Autoimmunerkrankungen einzuschränken,

-        Kleinwuchs,

-        gut versorgte Ileostoma, Colostoma und Ähnliches mit dichtem Verschluss. Es kommt weder zu Austritt von Stuhl oder Stuhlwasser noch zu Geruchsbelästigungen. Lediglich bei ungünstiger Lokalisation und deswegen permanent undichter Versorgung ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar,

-        bei Inkontinenz, da die am Markt üblichen Inkontinenzprodukte ausreichend sicher sind und Verunreinigungen der Person durch Stuhl oder Harn vorbeugen. Lediglich bei anhaltend schweren Erkrankungen des Verdauungstraktes ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar.“

…“

Der Vollständigkeit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 19.03.2020 der Antrag des Beschwerdeführers auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ gemäß §§ 42 und 45 Bundesbehindertengesetz idgF BGBl I Nr. 59/2018 (in der Folge kurz BBG) abgewiesen wurde. Verfahrensgegenstand ist somit nicht die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung, sondern ausschließlich die Prüfung der Voraussetzungen der Vornahme der beantragten Zusatzeintragung.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).

Ein solches Sachverständigengutachten muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Zusatzeintragung ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel dann unzumutbar, wenn eine kurze Wegstrecke nicht aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, allenfalls unter Verwendung zweckmäßiger Behelfe ohne Unterbrechung zurückgelegt werden kann oder wenn die Verwendung der erforderlichen Behelfe die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in hohem Maße erschwert. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist auch dann nicht zumutbar, wenn sich die dauernde Gesundheitsschädigung auf die Möglichkeit des Ein- und Aussteigens und die sichere Beförderung in einem öffentlichen Verkehrsmittel unter Berücksichtigung der beim üblichen Betrieb dieser Verkehrsmittel gegebenen Bedingungen auswirkt.

Dabei ist auf die konkrete Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einzugehen, dies unter Berücksichtigung der hiebei zurückzulegenden größeren Entfernungen, der zu überwindenden Niveauunterschiede beim Aus- und Einsteigen, der Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche, bei notwendig werdender Fortbewegung im Verkehrsmittel während der Fahrt etc. (VwGH 22.10.2002, 2001/11/0242; VwGH 14.05.2009, 2007/11/0080).

Betreffend das Kalkül "kurze Wegstrecke" wird angemerkt, dass der Verwaltungsgerichtshof von einer unter Zugrundelegung städtischer Verhältnisse durchschnittlich gegebenen Entfernung zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel von 300 – 400 m ausgeht. (vgl. u.a. Ro 2014/11/0013 vom 27.05.2014)

Wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt – auf die diesbezüglichen Ausführungen wird verwiesen -, wurde im seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholten Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin und einer Fachärztin für Orthopädie vom 20.07.2020, basierend auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 26.06.2020, festgestellt, dass beim Beschwerdeführer erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten vorliegen. Mit dem Vorliegen der beim Beschwerdeführer objektivierten aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen ist ihm nicht zumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen.

Da festgestellt worden ist, dass die dauernden Gesundheitsschädigungen des Beschwerdeführers ein Ausmaß erreichen, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden und der Beschwerde stattzugeben.

Die genannte Zusatzeintragung in den Behindertenpass des Beschwerdeführers – sowie die Beurteilung des beantragten Ausweises gemäß § 29 b StVO - wird daher in weiterer Folge von der belangten Behörde vorzunehmen sein.

2.       Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn

1.       der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder

2.       die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.

Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

Die Frage der Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung wurde unter Mitwirkung ärztlicher Sachverständiger geprüft. Die strittigen Tatsachenfragen (Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen und deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel) gehören dem Bereich zu, der vom Sachverständigen zu beleuchten ist. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist vor dem Hintergrund des vorliegenden, nicht substantiiert bestrittenen schlüssigen Sachverständigengutachtens geklärt, sodass im Sinne der Judikatur des EGMR und der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 16.12.2013, 2011/11/0180) und des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfGH 09.06.2017, E 1162/2017) eine mündliche Verhandlung nicht geboten war. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht entgegen. Im vorliegenden Fall wurde darüber hinaus seitens beider Parteien eine mündliche Verhandlung nicht beantragt (vgl. VwGH 16.12.2013, 2011/11/0180 mit weiterem Verweis auf die Entscheidung des EGMR vom 21.03.2002, Nr. 32.636/96). All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W265.2230136.1.00

Im RIS seit

10.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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