TE Vfgh Erkenntnis 1995/11/27 B2058/94

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Veröffentlicht am 27.11.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wegen Versäumung der im AufenthaltsG normierten Frist von vier Wochen vor Ablauf der gültigen Bewilligung zur Stellung von Verlängerungsanträgen; Unterlassung der im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation trotz imperativer Anordnung im Gesetz gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Bundesminister für Inneres wies mit dem im Spruch zitierten, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 26. August 1994 die von M K am 25. Jänner 1994 beantragte Verlängerung der mit 26. Jänner 1994 befristeten Aufenthaltsbewilligung unter Berufung auf §6 Abs3 (zweiter Halbsatz des ersten Satzes) des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992 idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, im wesentlichen mit der Begründung ab, daß Verlängerungsanträge spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der (bisherigen) Aufenthaltsbewilligung zu stellen seien; bei Nichteinhaltung dieser Frist sei die Erteilung der Bewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihren persönlichen Verhältnissen nicht weiter einzugehen.

1.2. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde, mit der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 Abs1 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheids beantragt wird.

1.3. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete eine Gegenschrift und begehrte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

2.1. Der bekämpfte Bescheid verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem gemäß Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

2.1.1. Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheids eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmöglich anwendete; dies trifft nur zu, wenn die Behörde einen Fehler beging, der so schwer wiegt, daß er mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (s. zB VfSlg. 11638/

1988).

2.1.2. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, lebt - nach ihrem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen - seit 1990 bei ihrem Ehemann, der bereits 1987 nach Österreich kam; ihre vier gemeinsamen Kinder, von denen drei in Österreich geboren wurden, halten sich ebenfalls im Bundesgebiet auf. Die belangte Behörde vermeint offenbar, daß die konstatierte Versäumung der 4-Wochen-Frist des §6 Abs3 erster Satz, zweiter Halbsatz AufG eine Abwägung mit Interessen des Privat- oder Familienlebens, die für die Erteilung der Bewilligung sprächen, zwingend ausschließe. Wie der Verfassungsgerichtshof aber bereits im Erkenntnis vom 10. Oktober 1995, B1722/94 ua. Zlen., - auf dessen ausführliche Begründung verwiesen wird - darlegte, trifft diese Rechtsauffassung nicht zu; vielmehr gebietet der Grundsatz der verfassungskonformen Gesetzesinterpretation, daß die Behörde in einem Fall wie dem hier vorliegenden und zur Entscheidung stehenden - der vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß die Fremde sich im Zeitpunkt der Stellung des Verlängerungsantrags rechtmäßig in Österreich aufhielt - die Privat- und Familieninteressen der Bewilligungswerberin mit den öffentlichen Interessen abzuwägen hat.

2.2. Der angefochtene Bescheid war allein schon aus diesem Grund als verfassungswidrig aufzuheben.

2.3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000 S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B2058.1994

Dokumentnummer

JFT_10048873_94B02058_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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