TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/26 I413 2140482-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.08.2020
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Entscheidungsdatum

26.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §58 Abs7
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I413 2140482-1/57E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RA Dr. Gerhard MORY, Wolf-Dietrich-Straße 19, 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 03.11.2016, Zl. „ XXXX – 150891447/BMI-BFA_SZB_RD“, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.09.2018, am 10.10.2018, am 14.11.2018 sowie am 25.02.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und den ersten Spruchteil von Spruchpunkt III. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen den zweiten Spruchteil von Spruchpunkt III. wird stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Der Beschwerde gegen den dritten Spruchteil von Spruchpunkt III. und gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte am 17.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.07.2015 gab er hinsichtlich seiner Fluchtgründe an, den Irak aufgrund des Krieges verlassen zu haben. Seine Heimatstadt Mossul sei in der Gewalt der Terrormiliz Islamischer Staat (im Folgenden: IS) und habe der Beschwerdeführer aufgrund dessen Angst um sein Leben.

2. Am 11.10.2016 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) einvernommen. Hierbei gab er, befragt zu seinen Fluchtgründen, an, der IS sei am 10.06.2014 in seiner Heimatstadt Mossul einmarschiert und würde sowohl Journalisten als auch Künstler töten, wobei der Beschwerdeführer beides davon gewesen sei. Er sei aufgrund seiner Aktivitäten in Mossul bekannt gewesen und habe befürchtet, vom IS oder von Milizen getötet zu werden. Er habe im Vorfeld seiner Flucht an mehreren Demonstrationen junger Leute in Mossul gegen den IS und gegen Milizen teilgenommen, sei als Reporter für eine Regionalzeitung tätig gewesen und habe in der großen Universitätshalle Kunst ausgestellt und Theater gespielt, wobei ihn im Zuge dessen auch mehrere Studenten bedroht und aufgefordert hätten, seine Aktivitäten einzustellen. Ein Kollege des Beschwerdeführers sei ebenfalls bedroht worden und in weiterer Folge spurlos verschwunden. Auch habe sich im April 2014 ein Vorfall ereignet, als der Beschwerdeführer mit seinem Auto von einem anderen PKW mit vier Insassen gestoppt worden sei, einer dieser Insassen ausgestiegen sei und dem Beschwerdeführer ein Messer an den Hals gehalten und gedroht habe, dass das Messer ihm das nächste Mal den Hals durchtrennen werde, sofern er seine Aktivitäten nicht einstelle. Eine der vier Personen habe dem Beschwerdeführer noch mit einem Holzstock auf den Kopf geschlagen und hätten die Angreifer „Gott ist groß“ gerufen, ehe sie verschwunden seien. Hierbei habe es sich um eine Bedrohung durch den IS gehandelt. Zudem sei ein Bruder des Beschwerdeführers, Saif, „mit Geld und Gold unterwegs gewesen und verschwunden“, wobei „die Iraker“ sagen würden, der Weg, auf welchem er unterwegs gewesen sei, wäre in der Hand der Milizen gewesen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative komme für den Beschwerdeführer nicht in Betracht, da es im Irak „überall das gleiche“ sei. Sicherheit gebe es lediglich in Kurdistan und sei eine Aufenthaltsberechtigung hierfür nur schwer zu bekommen. In Bagdad oder Bakuba könne er nicht leben, da dort die Milizen an der Macht seien und der Beschwerdeführers sohin für diese kämpfen oder zumindest deren Gedanken teilen müsse. Zudem gebe es „auch noch die Lage zwischen Sunniten und Schiiten“.

3. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 03.11.2016, Zl. „ XXXX – 150891447/BMI-BFA_SZB_RD“ wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß „§ 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF“ (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß „§ 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG“ (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß „§ 57 AsylG“ nicht erteilt, gemäß „§ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF“ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß „§ 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ erlassen und wurde gemäß „§ 52 Abs. 9 FPG“ festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß „§ 46 FPG“ in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde gemäß „§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG“ mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Die Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers in Mossul aufgrund seiner künstlerischen sowie journalistischen Betätigungen durch Angehörige des IS wurde seitens der belangten Behörde zwar grundsätzlich für glaubhaft befunden, in seinem Fall jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in einen anderen, nicht vom IS besetzen Landesteil des Irak für zumutbar erachtet.

4. Gegen den gegenständlich angefochtenen Bescheid wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 21.11.2016 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und hierbei Begründungsfehler, die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften seitens der belangten Behörde moniert. Zudem habe die belangte Behörde die „Tatsache, dass der (ältere) Bruder des Beschwerdeführers Saif beim Versuch der „Inlandsflucht“ außerhalb des IS-Gebiets verschleppt wurde und seither verschwunden geblieben ist“ außer Acht gelassen. Auch sei der Vater des Beschwerdeführers als General der irakischen Armee unter Saddam Hussein an der Niederschlagung des schiitischen Aufstandes im Jahr 1990 beteiligt gewesen, sodass der Beschwerdeführer selbst fürchten müsse, schiitische Extremisten würden für das damalige Vorgehen seines Vaters Rache an ihm nehmen. Darüber hinaus wurde erstmalig ein neues „Tatsachenvorbringen“ erstattet, indem behauptet wurde, der Beschwerdeführer sei im gesamten Irak aufgrund seiner vormaligen Mitgliedschaft zur Partei Muttahidoon, seines Ausstiegs aus dieser aufgrund eines von ihm entdeckten Missbrauchs von Parteispenden für den Aufbau einer Parteimiliz und das Üben von Kritik an diesem Vorgehen in sozialen Medien der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt. Als Beweismittel für dieses nachträgliche Fluchtvorbringen wurden dem Beschwerdeschriftsatz u.a. ein Partei-Mitgliedsausweis des Beschwerdeführers, ein Foto von ihm „mit dem Parteichef und Gouverneur von Mossul, Atheel al-Nujaifi bei einem Meeting im Gouverneur-Building in Mossul, vermutlich 2012“ sowie zwei Fotos von „Parteitreffen im Chief Haus in Mossul im Jahr 2011“ angeschlossen. Es wurde zudem behauptet, der Beschwerdeführer habe nicht gewagt, dieses Vorbringen bereits vor dem BFA zu erstatten, da er eine geradezu panische Angst davor habe, dass irakische Landsleute, welche ebenfalls in Österreich aufhältig sind, Kenntnis von diesen Umständen erlangen würden und dem Beschwerdeführer daraus im Falle einer Rückkehr in den Irak eine zusätzliche Gefährdung erwachse. Überdies habe sich der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 11.10.2016 durch den Dolmetscher verunsichert gefühlt, da dieser ihm das Wort abgeschnitten und erklärt habe, er möge kurz auf die Fragen antworten und sich nicht politisch äußern

5. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.06.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung I413 neu zugewiesen.

6. Mit Schriftsatz vom 07.09.2018 erstattete der Beschwerdeführer eine Eingabe an das Bundesverwaltungsgericht. Hierbei wurde inhaltlich ausgeführt, dass zwischenzeitlich erhebliche Änderungen des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes hinsichtlich der individuellen Bedrohungslage für den Beschwerdeführer im Irak eingetreten seien. Die Partei Muttahidoon habe mittlerweile eine eigene Miliz gegründet, welche für „brutale Delikte“ verantwortlich sei und eigene Gefängnisse unterhalte. Ehemalige IS-Mitglieder seien nunmehr als Milizionäre tätig und befinde sich die Familie des Beschwerdeführers in besonderer Weise im Verfolgungsfokus. Der Vater des Beschwerdeführers werde „vom Milizenführer Hashed Al Shabi“ gesucht, da ihm vorgeworfen werde, als hochrangiger General/Offizier unter Saddam Hussein für Morde verantwortlich gewesen zu sein. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass sich der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vor dem BFA „in einer psychischen Ausnahmesituation“ befunden und ihm zudem der Dolmetscher große Probleme bereitet habe. Dem Schriftsatz angeschlossen wurden diverse allgemeine Länderberichte sowie Integrationsunterlagen.

7. Mit Schriftsatz vom 17.09.2018 wurde seitens des Beschwerdeführers eine weitere schriftliche Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht eingebracht. In dieser wurde nunmehr ausgeführt, dass fünf namentlich benannte Personen, welche sich ebenfalls wie der Beschwerdeführer im Rahmen einer Sitzung der Partei Muttahidoon gegen die Gründung einer Miliz ausgesprochen hatten, mittlerweile ermordet worden oder verschwunden seien.

8. Am 18.09.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgerichte eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters sowie XXXX , jenem Referenten der belangten Behörde, welcher am 11.10.2016 die Einvernahme mit dem Beschwerdeführer durchgeführt hatte, sowie dem bei dieser Einvernahme anwesenden Dolmetscher, XXXX , als Zeugen abgehalten, nachdem im Beschwerdeschriftsatz als auch in den weiteren schriftlichen Eingaben im Beschwerdeverfahren wiederholt auf Probleme mit dem Dolmetscher im Rahmen der Einvernahme am 11.10.2016 hingewiesen wurde. Die geladene Zeugin XXXX , welche den Beschwerdeführer als Vertrauensperson zu dieser Einvernahme begleitet hatte, ließ sich krankheitsbedingt entschuldigen. In der mündlichen Verhandlung wurde seitens des Rechtsvertreters eingangs (erstmalig ausdrücklich) ausgeführt, der Dolmetscher habe in unzulässiger Weise auf den Verlauf der Einvernahme Einfluss genommen, indem er den Beschwerdeführer gemaßregelt sowie aufgefordert habe, nicht über politische Themen zu sprechen. Zudem habe er sein Missfallen an der Aussage des Beschwerdeführers kundgetan, selbst Fragen gestellt, welche der Einvernahmeleiter nicht gestellt habe, den Beschwerdeführer nicht ausreichend zu Wort kommen lassen und ihn eingeschüchtert. Zudem habe er abfällige Äußerungen über den Beschwerdeführer getätigt und ihn sinngemäß als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet.

Die betreffenden Vorwürfe wurden seitens der Zeugen im Rahmen dieser Verhandlung grundsätzlich in Abrede gestellt, wobei laut ihrer Angaben keiner von ihnen noch detaillierte Erinnerungen im Hinblick auf die Einvernahme des Beschwerdeführers hatte.

Hinsichtlich seiner Fluchtgründe gab der Beschwerdeführer nunmehr an, aufgrund seines vormaligen politischen Engagements in der parteiübergreifenden Bewegung Muttahidoon, wobei er dagegen aufgetreten sei, dass diese im Jahr 2014 geplant habe, eine eigene Miliz zu gründen und in weiterer Folge ausgeschlossen worden sei, der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Miliz der Muttahidoon mit dem Namen Haras Nineveh sei in weiterer Folge tatsächlich gegründet worden. Auch sei er aufgrund seiner künstlerischen und journalistischen Betätigungen bedroht worden. Überdies erstattete er ein umfassendes Fluchtvorbringen hinsichtlich der Gefahr einer Verfolgung seiner gesamten Familie durch den IS, durch Milizen als auch von staatlicher Seite, da sein Vater ein hochrangiger Offizier der irakischen Armee unter dem Regime Saddam Husseins gewesen sei und die gesamte Familie sohin in einem Naheverhältnis zur mittlerweile im Irak verbotenen Baath-Partei stehe. Der Vater des Beschwerdeführers sei nach der Entmachtung Saddam Husseins temporär inhaftiert gewesen, zwischenzeitlich bis 2010 nach Syrien geflüchtet und würde nunmehr wiederum versteckt im Irak leben, wobei ihn der IS zeitweise unter Hausarrest gestellt habe. Der Beschwerdeführer und einer seiner Brüder seien aufgrund ihres Vaters, als sich dieser in Syrien versteckt gehalten habe, von den Amerikanern festgenommen, jedoch wieder freigelassen worden, zudem seien zwei Häuser der Familie des Beschwerdeführers vom IS beschlagnahmt und eines davon bombardiert worden. Nach der Befreiung Mossuls vom IS seien Milizen in die Stadt gekommen, hätten nach der Familie des Beschwerdeführers gesucht und eines ihrer Häuser besetzt. Der Vater des Beschwerdeführers werde von der Badr-Organisation (Anm.: schiitische Miliz) verfolgt. Der Beschwerdeführer habe auch Demonstrationen gegen die Milizen organisiert und würden ihn diese im Falle seiner Rückkehr, nachdem sie mittlerweile alle Flughäfen und Grenzübergänge kontrollieren würden, sofort töten. Zudem habe sich der Beschwerdeführer auch in Österreich exilpolitisch für die Baath-Partei engagiert, indem er mehrfach an Demonstrationen teilgenommen und hierbei deren Fahne geschwenkt habe. Er sei im Kreise seiner irakischen Landsleute in Österreich allgemein als Sympathisant der Baath-Partei bekannt.

9. Mit schriftlicher Eingabe des Beschwerdeführers vom 08.10.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme übermittelt, worin umfassende Erörterungen „zur extremen, multikausalen, lebensbedrohlichen Verfolgungsgefährdung“ des Beschwerdeführers im Irak als auch Erläuterungen zu einem Konvolut an im Verfahren in Vorlage gebrachter Lichtbilder getätigt wurden. Angeschlossen war dem Schriftsatz zudem der Ausdruck einer E-Mail Korrespondenz vom Oktober 2016, in welcher sich eine Vertrauensperson bei der belangten Behörde über das Verhalten des Dolmetschers XXXX im Rahmen einer Einvernahme einer Verfahrenspartei (unabhängig vom gegenständlichen Verfahren des Beschwerdeführers) beschwerte.

10. Am 10.10.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seines Rechtsvertreters abgehalten. Die geladene Zeugin XXXX , welche den Beschwerdeführer als Vertrauensperson zu seiner Einvernahme vor dem BFA begleitet hatte, ließ sich abermals krankheitsbedingt entschuldigen. Im Rahmen dieser Verhandlung brachte der Beschwerdeführer vor, er habe bereits auf der Flucht während seines Aufenthaltes in der Türkei Kontakte zu Mitgliedern der Baath-Partei geknüpft, welche ihn in der Türkei auch unterstützt hätten, sodass er seine Aktivitäten für diese Partei in Österreich fortgesetzt habe. Zwischenzeitlich sei im Irak jedoch ein neues Gesetz in Kraft getreten, wonach Mitgliedern der Baath-Partei Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren drohen würden. Ergänzend behauptete er erstmalig, Mitglieder von Muttahidoon hätten nach dem Zerwürfnis mit dem Beschwerdeführer dessen Auto in Brand gesetzt, wobei er diesbezüglich ein Foto von einem ausgebrannten Auto-Wrack in Vorlage brachte, nebst weiterer Lichtbilder, welche ihn etwa mit der Flagge der Baath-Partei bei einer Kundgebung in Salzburg zeigen würden. Im Hinblick auf eine Rückkehrbefürchtung gab der Beschwerdeführer an, man würde ihn „sofort töten oder in einem dunklen Gefängnis einsperren“. Die Milizen würden seinen Namen kennen und mit der Polizei und dem Militär zusammenarbeiten, wobei der Beschwerdeführer „sicher auf einer Liste“ stehe. Auch die Mitglieder von Muttahidoon würden nie vergessen, dass er damals den Leuten abgeraten habe sie zu wählen und sie deshalb Parlamentssitze verloren hätten. Auch würde neben den Milizen der IS nach wie vor in Mossul existieren.

11. Mit Schriftsatz vom 15.10.2018 richtete das Bundesverwaltungsgericht eine Anfrage an die Staatendokumentation des BFA hinsichtlich der Frage, ob der Beschwerdeführer – wie behauptet – tatsächlich ein bekannter Journalist und Künstler als auch ein bedeutendes und aktives Mitglied der Partei oder politischen Bewegung Muttahidoon in der Provinz Ninawa gewesen sei, welche in weiterer Folge mit der Unterstützung der Türkei eine Miliz namens Haras Nineveh gegründet habe, wobei Parteimitglieder, welche wie der Beschwerdeführer gegen die Gründung dieser Miliz gestimmt hätten, nunmehr tot seien. Überdies wurde angefragt, ob Informationen über den Vater des Beschwerdeführers im Hinblick auf dessen Tätigkeit als hochrangiger Militäroffizier unter Saddam Hussein sowie dessen Verfolgung durch die Badr-Organisation vorliegen würden, zudem, ob Informationen hinsichtlich des behaupteten politischen Engagements des Beschwerdeführers für die Baath-Partei sowie eine etwaige, diesbezügliche Rückkehrgefährdung bekannt seien.

12. Am 14.11.2018 wurde eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, XXXX , als Zeugin sowie dem Referenten XXXX als Vertreter der belangten Behörde abgehalten. Hierbei verwies der Beschwerdeführer abermals auf die Gefahr seiner Inhaftierung im Irak aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Baath-Partei, zu welcher er u.a. auf seinem Facebook-Account öffentlich stehe, sowie auf die Gefahr einer Verfolgung durch die Miliz Haras Nineveh, gegen deren Gründung er sich zuvor ausgesprochen habe. Die Milizen hätten an allen Grenzübergängen des Irak Kontrollpunkte und würde der Name des Beschwerdeführers „im System“ aufscheinen. Polizei und Militär würden mit den Milizen kooperieren und würde man den Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr bestimmt festnehmen oder sofort töten.

13. Mit Schriftsätzen jeweils vom 19.12.2019 übermittelte die Staatendokumentation des BFA dem Bundesverwaltungsgericht zwei separate Anfragebeantwortungen hinsichtlich der gestellten Anfrage vom 15.10.2018.

Aus der ersten Anfragebeantwortung geht im Wesentlichen hervor, dass weder im Hinblick auf den Beschwerdeführer noch auf dessen Vater im Rahmen einer Recherche relevante Informationen hinsichtlich deren behaupteten politischen bzw. militärischen Aktivitäten gewonnen werden konnten oder festgestellt werden konnte, dass diese im Irak einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wären. Im Jahr 2016 sei jegliche Ausdrucksform baathistischer Aktivitäten im Irak verboten worden, während die Baath-Partei selbst bereits im Jahr 2005 verboten worden sei. Es gebe weiterhin Baathisten, welche vom Irak gesucht würden. Im Jahr 2016 seien zwei ex-baathistische Gruppen als aktiv bekannt gewesen, wobei es sich bei der JRTN (Anm.: Army of the Men of the Naqshbandi Order) um die wichtigste, neo-baathistische Organisation handle, welche zudem einen starken Bezug zu Mossul aufweise. Auch hätten sich zahlreiche Ex-Baathisten mit dem IS verbündet oder seien diesem beigetreten.

Aus der zweiten Anfragebeantwortung geht zusammengefasst hervor, die Brüder Osama und Atheel al-Nujaifi würden seit 2003 die Spitzen einer sunnitisch-arabischen Politikerfamilie in Mossul bilden und hatten hohe Ämter im Irak inne: Atheel al-Nujaifi sei von 2009 bis 2015 Gouverneur von Ninawa gewesen und kommandiere die Miliz Ninewah-Garde, während Osama unter anderem Vizepräsident des Irak gewesen sei. Im Dezember 2012 sei „I`tilaf Muttahidoon lil-Islah“ („Koalition der Vereiniger für Reform“) gegründet worden, ein parteiübergreifendes Bündnis, zu welchem auch u.a. die von Atheel al-Nujaifi geführte Hadba-Partei gehöre. Die Koalition werde von Vizepräsident Osama al-Nujaifi angeführt. Zudem konnte eine zweite Organisationsbezeichnung, gefunden werden, die das Wort „Motahedun“ enthält – die Partei „Li-l-Iraq mutahidun“. Die Gründung dieser Partei sei am 12.05.2017 in Arbil in einer Pressekonferenz von Osama al-Nujaifi bekanntgegeben worden. Die von der Türkei ausgebildete und bezahlte Ninewah-Garde sei zwar im Jahr 2017 durch irakische Sicherheitskräfte ersetzt und als „vertrieben“ bezeichnet worden, werde aber weiterhin als in Ninawa präsente Miliz der Volksmobilisierungseinheiten genannt. Gegen den Kommandanten der Ninewah-Garde, Atheel al-Nujaifi, sei im Jahr 2017 ein Haftbefehl aufgrund seiner Kooperation mit der Türkei erlassen worden. Die Truppenstärke werde auf 3.000 Mann geschätzt. Bei den seitens des Beschwerdeführers genannten Namen von Personen, welche umgebracht worden seien, nachdem sie sich gegen die Formierung einer Miliz ausgesprochen hatten, handle es sich teils um sehr gebräuchliche Vor- und Nachnamen, sodass es ohne vollständige Namen in arabischer Schrift und ohne nähere Angaben über Zeit, Ort und Umstände des Todes unmöglich sei, zielgerichtete Recherchen zu eventuellen Ermordungen durch die Muttahidoon durchzuführen. Das Muttahidoon-Mitglied Ayed Ghazi al-Obeidi sei zwei Quellen zufolge im Jahr 2015 vom IS ermordet worden. Weiters liegt eine Meldung über die Hinrichtung dreier Kandidatinnen der Partei durch den IS im selben Jahr vor. Zu „Journalist Sami“ wurde eine Person Namens Qahtan Sami gefunden. Dieser war zum Zeitpunkt seiner Ermordung Pressesprecher von Gouverneur al-Nujaifi. Zuvor hatte er als Journalist gearbeitet. Zu „Younis Rassoul“ wurden Hinweise auf zwei Personen gefunden, die vom IS ermordet worden seien: Amar Younis Rassoul, ein Medienmitarbeiter in Mossul, und Younis Ahmad Rassoul, Präsident des olympischen Komitees in Ninawa.

14. Mit Schriftsatz des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.01.2020 ("Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme") wurde dem Beschwerdeführer Parteiengehör zur Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.12.2019 gewährt. Diesbezüglich brachte er mit Schriftsatz vom 31.01.2020 eine „Erste Stellungnahme im Parteiengehörsverfahren mit Fristerstreckungsantrag“ beim Bundesverwaltungsgericht ein, wobei im Wesentlichen vorgebracht wurde, dass zur Person des Beschwerdeführers sehr wohl Informationen in öffentlich zugänglichen Quellen zu finden seien. So habe er auf einem USB-Stick entsprechende Informationen aus der Streaming-Plattform YouTube gespeichert, wonach er u.a. in Mossul aus Anlass seiner Kandidatur für das irakische Jugendparlament und seiner diesbezüglichen Wahlwerbungen gefilmt worden sei. Der Beschwerdeführer werde entsprechende Beweismittel noch in Vorlage bringen. Hinsichtlich seines Vorbringens zu Muttahidoon und deren Miliz Haras Nineveh sehe sich der Beschwerdeführer durch das Rechercheergebnis insoweit bestätigt, als es im Irak keinen investigativen Journalismus gebe und es sohin in der Natur der Sache liege, dass das im Mittelpunkt seines Vorbringens stehende, parteiinterne Zerwürfnis im Februar 2014 nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sei. Mit einem separaten Schriftsatz „Urkundenvorlage zur „ersten Stellungnahme“ vom 31.01.2020“, ebenfalls vom 31.01.2020, wurde dem Bundesverwaltungsgericht noch ein Konvolut an Lichtbildern übermittelt, welche den Beschwerdeführer im Rahmen diverser politischer Aktivitäten zeigen würden. Mit Schriftsatz vom 14.02.2020, „Zweite Stellungnahme im Parteiengehörsverfahren vor der Beschwerdeverhandlung vom 25.02.2020“, brachte der Beschwerdeführer noch eine zweite schriftliche Stellungnahme und mit Schriftsatz vom 17.02.2020 einen „Nachtragsschriftsatz zur zweiten Stellungnahme“ im Parteigehörsverfahren ein. In der zweiten schriftlichen Stellungnahme wurde abermals ausführlich auf die negative Atmosphäre im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 11.10.2016 verwiesen und damit der Umstand gerechtfertigt, dass der Beschwerdeführer hierbei seine später zentralen Fluchtvorbringen unerwähnt ließ. Überdies wurden diverse Links zu YouTube-Videos und einem Facebook-Video genannt und Screenshots aus diesen dem Beschwerdeschriftsatz angeschlossen, welche den Beschwerdeführer im Rahmen diverser politischer Aktivitäten im Irak als auch in Österreich zeigen würden. Im Nachtragsschriftsatz wurde insbesondere auf die Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund verbotener baathistischer Aktivitäten als auch durch Milizen, darüber hinaus auf seine Integration in Österreich verwiesen.

15. Mit Schriftsatz vom 21.02.2020 brachte der Beschwerdeführer noch ein „Weiteres schriftliches Vorbringen zu den Fluchtgründen (Untertitel: „Damit alles aktenkundig ist“)“ beim Bundesverwaltungsgericht ein und führte darin inhaltlich aus, weshalb er aufgrund seiner persönlichen Historie unterschiedlichen Verfolgungsrisikoprofilen der "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" unterliegen würde („Verfolgung als Baathist“, „Gegner des IS“, „Verfolgung durch die im PMF zusammengeschlossenen Milizen“).

16. Am 25.02.2020 wurde eine vierte mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters sowie der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, XXXX , als Zeugin abgehalten. XXXX bestätigte hierbei, dass die Lebensgemeinschaft mit dem Beschwerdeführer nach wie vor aufrecht sei, dieser wie ein „väterlicher Freund“ für ihre minderjährige Tochter sei und finanziell zum Haushaltseinkommen beitrage. Der Beschwerdeführer verwies abermals auf eine Rückkehrgefährdung aufgrund des IS, der Milizen sowie seiner politischen als auch exilpolitischen Aktivitäten.

17. Mit Schriftsatz des Bundesverwaltungsgerichtes ("Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme") vom 17.03.2020 wurde dem Beschwerdeführer das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Stand: 17.03.2020) übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, diesbezüglich eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Ergänzend wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichts darauf hingewiesen, dass es die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung aufgrund dieser Aktualisierung des Länderinformationsblattes für nicht erforderlich halte, dem Beschwerdeführer jedoch ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, diesbezüglich binnen offener Frist einen begründeten Antrag zu stellen, widrigenfalls von seinem Verzicht auf Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung ausgegangen werde.

18. Mit Schriftsatz vom 15.06.2020 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf das ihm übermittelte, aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation eine schriftliche Stellungnahme ein, wobei dem Inhalt des Länderinformationsblattes hierbei nicht substantiiert widersprochen, sondern vielmehr auf einzelne, entscheidungswesentliche Passagen darin hinwiesen wurde. Ergänzend wurden abermals Vorbringen hinsichtlich der Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund seiner baathistischen Aktivitäten als auch hinsichtlich des Nicht-Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative erstattet.

Hinsichtlich der baathistischen Gesinnung des Beschwerdeführers und seiner angeblichen Mitgliedschaft in der Baath-Partei wurde ausgeführt, dass er sich diesbezüglich in einem Beweisnotstand befinde und keiner der in Salzburg lebenden, irakischen Migranten in einem Gerichtsverfahren diesbezüglich Zeugnis ablegen wolle, jedoch werde beantragt, die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, XXXX , abermals als Zeugin zu diesem Beweisthema zu befragen. Dem Schriftsatz angeschlossen wurden zwei weitere Länderberichte (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auswärtiges Amt) sowie diverse Integrationsunterlagen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum sunnitisch-moslemischen Glauben. Seine Identität steht fest.

Er ist gesund und erwerbsfähig.

Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein, wo er sich seit (spätestens) 17.07.2015 aufhält.

Er stammt aus Mossul in er Provinz Ninawa im Nordwesten des Irak, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Er hat in Mossul insgesamt vierzehn Jahre die Schule und drei Jahre eine Universität besucht, wo er im Jahr 2012 ein Studium der bildenden Künste abgeschlossen hat. Zudem hat er den Beruf des Goldschmieds erlernt und in einem Goldgeschäft gearbeitet, welches seinem Großvater gehört. Weiters hat er Berufserfahrung als Reporter diverser Lokalzeitungen in Mossul, als Immobilienhändler sowie als Projektmanager in einer staatlichen Einrichtung gesammelt und sich zudem künstlerisch betätigt. Darüber hinaus war er Mitglied des irakischen Jugendparlaments und engagierte sich in der Jugendpolitik.

Die Mutter sowie eine Schwester des Beschwerdeführers leben nach wie vor in Mossul und steht der Beschwerdeführer in Kontakt zu seiner Mutter. Überdies hat er noch eine weitere Schwester, zwei Brüder sowie seinen Vater, deren Aufenthaltsort nicht festgestellt werden kann.

Von Juni 2014 bis Juli 2015 hielt er sich in der Türkei auf, wo er in einer Kunstgrasfirma gearbeitet hat.

Im Bundesgebiet führt der Beschwerdeführer seit Sommer 2017 eine Beziehung mit der österreichischen Staatsangehörigen XXXX , mit welcher er seit 11.11.2017 traditionell nach islamischem Recht verheiratet ist. Im Alltag nimmt er für deren im Oktober 2013 geborene Tochter die Rolle eines „väterlichen Freundes“ ein. Der Beschwerdeführer hält sich überwiegend bei XXXX und ihrer Tochter in deren Wohnung auf und trägt mit seinen Einkünften aus seiner selbständigen Erwerbstätigkeit zum Haushaltseinkommen bei. Eine gemeinsame Meldung besteht bislang jedoch nicht und ist der Beschwerdeführer nach wie vor in einer Wohnung (in derselben Gemeinde), welche er auf seinen Namen angemietet hat, behördlich gemeldet.

Der Beschwerdeführer betreibt seit 25.05.2018 ein selbständiges freies Gewerbe im Bereich der Hausbetreuung („Haus & Garten Service“), mit welchem er in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenem zu bestreiten. Am 08.08.2018 unterfertigte er vor der Caritas eine Verzichtserklärung, wonach er aufgrund seiner selbständigen Tätigkeit auf all seine Grundversorgungsleistungen verzichte und bezog er seit diesem Zeitpunkt auch tatsächlich keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er ist in der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen versichert.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Werte- und Orientierungskurs besucht und spricht Deutsch auf B1-Niveau. Er hat sich freiwillig als Dolmetscher für die Caritas und das Rote Kreuz betätigt, eine Qualifizierung zur Gastronomiehilfskraft sowie ein Praktikum als Küchenhilfe in einem Seniorenheim absolviert, an einem Erste-Hilfe Grundkurs teilgenommen und engagierte sich zudem als Schriftleiter in einem irakischen Integrationsverein in Salzburg. Zudem hat er diverse Bekanntschaften in Österreich geschlossen und in einer Flugschule den Hänge-/Paragleiterschein erworben.

Er ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtmotiven und einer Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:

Entgegen seinem Fluchtvorbringen kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak der Gefahr einer aktuellen Verfolgung durch den IS, durch die Miliz Haras Nineveh oder andere Milizen ausgesetzt ist. Auch kann nicht festgestellt werden, dass er in seinem Herkunftsstaat aufgrund exilpolitischer, baathistischer Aktivitäten, der Zugehörigkeit zur im Irak verbotenen Baath-Partei, seiner Familienhistorie oder seiner Konfession der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt wäre.

Er wird im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:

Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen, soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:

1.3.1. Politische Lage:

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 13.3.2020

-        AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq, Zugriff 13.3.2020

-        CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 13.3.2020

-        DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 13.3.2020

-        Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 13.3.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020

-        ISW - Institute for the Study of War (24.5.2018): Breaking Down Iraq's Election Results, http://www.understandingwar.org/backgrounder/breaking-down-iraqs-election-results, Zugriff 13.3.2020

-        KAS - Konrad Adenauer Stiftung (5.10.2018): Politische Weichenstellungen in Bagdad und Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=e646d401-329d-97e0-6217-69f08dbc782a&groupId=252038, Zugriff 13.3.2020

-        KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020

-        Kurdistan24 (17.6.2019): Iraq's electoral commission postpones local elections until April 2020, https://www.kurdistan24.net/en/news/80728bf3-eb95-4e76-a30f-345cf9a48d3c, Zugriff 13.3.2020

-        NYT - The New York Times (24.12.2019): Iraq’s New Election Law Draws Much Criticism and Few Cheers, https://www.nytimes.com/2019/12/24/world/middleeast/iraq-election-law.html, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (17.3.2020): Little-known ex-governor Zurfi named as new Iraqi prime minister-designate, https://www.reuters.com/article/us-iraq-pm-designate/iraqi-president-salih-names-adnan-al-zurfi-as-new-prime-minister-designate-state-tv-says-idUSKBN21419J?il=0, Zugriff 17.3.2020

-        Reuters (1.3.2020): Iraq's Allawi withdraws his candidacy for prime minister post: tweet, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics-primeminister/iraqs-allawi-withdraws-his-candidacy-for-prime-minister-post-tweet-idUSKBN20O2AD, Zugriff 13.3.2020

-        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html, Zugriff 13.3.2020

-        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (24.12.2019): Iraqi Parliament Approves New Election Law, https://www.ecoi.net/de/dokument/2021836.html, Zugriff 13.3.2020

-        RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 13.3.2020

-        Standard, Der (2.3.2020): Designierter irakischer Premier Allawi bei Regierungsbildung gescheitert, https://www.derstandard.at/story/2000115222708/designierter-irakischer-premier-allawi-bei-regierungsbildung-gescheitert, Zugriff 13.3.2020

-        ZO - Zeit Online (2.10.2018): Irak hat neuen Präsidenten gewählt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/barham-salih-irak-praesident-wahl, Zugriff 13.3.2020

Parteienlandschaft

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Quellen:

-        CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq‘s Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020

-        LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        RCRSS - Rawabet Center for Research and Strategic Studies (24.2.2019): Law of political parties in Iraq: proposals for amendment, https://rawabetcenter.com/en/?p=6954, Zugriff 13.3.2020

-        Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq, Zugriff 13.3.2020

Die politische Bewegung Muttahidoon und die Ninewah-Garde

Die Brüder Osama und Atheel (al-)Nujaifi bilden seit 2003 die Spitzen einer sunnitisch-arabischen Politikerfamilie in Mossul und hatten hohe Ämter im Irak inne: Atheel al-Nujaifi war von 2009 bis 2015 Gouverneur von Niniwah und kommandiert die Miliz Ninewah-Garde, während Osama unter anderem Vizepräsident des Irak war. Im Dezember 2012 wurde „I`tilaf Muttahidoon lil-Islah“ („Koalition der Vereiniger für Reform“) gegründet, zu welcher auch u.a. die von Atheel al-Nujaifi geführte Hadba-Partei gehörte. Die Koalition wird von Vizepräsident Osama al-Nujaifi angeführt. Er stand zuvor an der Spitze der „Al-Qa‘ima al-iraqiyya“ [Anm.: „Die irakische Liste“] sowie von „Tahaluf al-quwa al-`iraqiyya“ [Anm.: „Allianz der irakischen Kräfte“]. Ziel sei die Rettung des Landes durch die Kooperation der großen politischen Kräfte. Die Forderungen der Partei sind solche, welche bereits von sunnitischer Seite artikuliert wurden, wie z.B. die Thematik der Vertriebenen, der Milizen etc. Er wendete sich gegen die Einrichtung von Verwaltungseinheiten auf Basis der Konfession. Er habe nie eine sunnitische Region gefordert. Zudem konnte eine zweite Organisationsbezeichnung gefunden werden, die das Wort „Motahedun“ enthält – die Partei „Li-l-Iraq mutahidun“. Die Gründung dieser Partei wurde am 12. Mai 2017 in Arbil in einer Pressekonferenz von Osama al-Nujaifi bekanntgegeben.

Dem Carnegie Endowment zufolge besteht die Miliz Osama al-Nujaifis – Stand 2016 - aus einigen Polizisten aus Mossul sowie hauptsächlich aus ehemaligen Militärs des „Regimes“ [Anm.: Saddam Husseins]. Al-Nujaifi ist der wichtigste arabisch-sunnitische Verbündete der Türkei im Irak, nachdem sich dieser ab 2003 als Stimme des arabischen Nationalismus etabliert hatte. Als die Türkei im Jahr 2010 ihre Position gegenüber der Kurdisch-Demokratischen Partei änderte, tat dies auch al-Nujaifi und schloss eine Allianz mit der KDP. Atheel al-Nujaifi, der Mitte 2015 sein Amt als Gouverneur verlor, verteidigte die türkische Einflussnahme.

Ein Bericht des amerikanischen Congressional Research Service aus dem Jahr 2016 erwähnt die Zersplitterung des Iraqiyya Bündnisses in Blöcke mit unterschiedlichen Loyalitäten, u.a. zu Osama al-Nujaifi. Sein Block Motahedun wird mit 259 Sitzen mit 30.4.2014 aufgelistet. Diese Koalition hatte keine Kandidaten in schiitischen Landesteilen. Al-Nujaifi wurde mit der Regierungsbildung im September 2014 Vizepräsident des Irak.

Das in der Autonomieregion Kurdistan beheimatete Forschungszentrum Institute for Regional and International Studies an der American University of Iraq, Sulaimani (AUIS) konstatiert der Liste Nujaifis anlässlich der Wahlen von 2018 eine auf Identität basierende Politik: Demnach war im Wahlkampf der Motahedun-Partei in Mossul der Ruf „Unsere Konfession ist unser [Partei-]Anliegen“ zu hören. Osama Nujaifi führte zudem die Irakische Entscheidungsallianz (Tahaluf al-Qarar al-Iraqi). Deren Schwerpunkt liegt auf dem Gewinnen der sunnitischen WählerInnen in Anbar, Baghdad, Diyala, Salahadeen, und Ninewah. Nujaifis Argument ist auch, dass er mit der Niniwah Garde am besten für den Schutz der Sunniten in der Provinz sorgen könne.

Die von der Türkei ausgebildete und bezahlte Ninewah-Garde wurde zwar im Jahr 2017 durch irakische Sicherheitskräfte ersetzt und als „vertrieben“ bezeichnet, wird aber weiterhin als in Ninewah präsente Miliz der Volksmobilisierungseinheiten genannt. Es gibt weiterhin Ablehnung seitens schiitischer Milizkommandanten. Gegen den Kommandanten der Ninewah-Garde, Atheel al-Nujaifi, wurde im Jahr 2017 ein Haftbefehl wegen dessen Kooperation mit der Türkei erlassen. Die Truppenstärke wird auf 3.000 Mann geschätzt.

Im Jänner 2017 wurde einem Artikel der Baghdad Post zufolge die Ninewah-Garde aus den [vom IS] befreiten Gebieten in Mossul vertrieben, und Truppen der irakischen Armee und der Bundespolizei mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit beauftragt. Diese Maßnahme war unter der sunnitischen Bevölkerung nicht beliebt. Osama al-Nujaifi verkündete, dass die Ninewah-Garde wieder die Sicherheit in der Provinz übernehmen würde.

Die irakische Fernsehstation al-Sumaria TV berichtet im Februar 2017 auf ihrer Website von einem Treffen zwischen dem irakischen Vizepräsidenten Osama Nujaifi und dem US-Botschafter Douglas Silliman. Laut Nujaifi seien seit dem Abzug der Ninewah-Garde aus Mossul die Zahl der Diebstähle, Brände und Entführungen angestiegen.

Das Joints Operations Command erließ am 28. Jänner 2017 einen Haftbefehl gegen den Kommandanten der Ninewah-Garde, Atheel Nujaifi.

Das Motahedun-Mitglied Ayed Ghazi al-Obeidi wurde zwei Quellen zufolge im Jahr 2015 vom IS ermordet. Weiters liegt eine Meldung über die Hinrichtung dreier Kandidatinnen der Partei durch den IS im selben Jahr vor.

Zu „Journalist Sami“ wurde eine Person Namens Qahtan Sami gefunden. Dieser war zum Zeitpunkt seiner Ermordung Pressesprecher von Gouverneur al-Nujaifi. Zuvor hatte er als Journalist gearbeitet.

Zu „Younis Rassoul“ wurden Hinweise auf zwei Personen gefunden, die vom IS ermordet wurden: Amar Younis Rassoul, ein Medienmitarbeiter in Mossul, und Younis Ahmad Rassoul, Präsident des olympischen Komitees in Ninewah.

Quellen:

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.12.2019, Irak, Partei Motahedun, die (al-)Nujaifi-Familie und deren Miliz Haras Ninewah;

1.3.2. Allgemeine Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020

-        Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020

-        FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

-        MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020

-        New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://ww

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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