TE Vwgh Beschluss 2020/10/12 Ra 2020/19/0136

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Veröffentlicht am 12.10.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des S T, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2019, W260 2187734-1/21E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 17. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er sei mit seiner Familie im Alter von drei Jahren in den Iran gezogen und habe seither dort gelebt. Im Iran sei er diskriminiert und wegen einer Affäre mit einer verheirateten Frau bedroht worden. Nach Afghanistan könne er aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht zurück, außerdem kenne er dort niemanden.

2        Mit Bescheid vom 25. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Mit Erkenntnis vom 4. März 2020, E 4399/2019-15, wies der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde des Revisionswerbers gegen dieses Erkenntnis ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung darüber, ob der Revisionswerber durch das angefochtene Erkenntnis in einem sonstigen Recht verletzt worden sei, ab.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zunächst vor, das BVwG habe die „Country Guidance: Afghanistan“ der EASO vom Juni 2018 nicht zur Gänze, sondern nur auszugsweise herangezogen und auch die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender nicht beachtet. Insbesondere habe es bei der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative die fehlenden sozialen Kontakte und Ortskenntnisse des im Iran aufgewachsenen Revisionswerbers und die Überlastung afghanischer Städte mit innerstaatlichen Flüchtlingen nicht berücksichtigt.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass - auch nach der genannten EASO-Country Guidance und den genannten UNHCR-Richtlinien - das Vorhandensein eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, arbeitsfähigen erwachsenen Mann keine Voraussetzung für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0546; 13.2.2020, Ra 2019/19/0278; 30.1.2020, Ra 2020/20/0003; jeweils mwN).

10       Das BVwG traf Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und in Mazar-e Sharif im Besonderen und setzte sich - entgegen dem Revisionsvorbringen - auch mit dem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund des Revisionswerbers auseinander. Es legte seiner Beurteilung zu Grunde, beim Revisionswerber handle es sich um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung als Installateur verfüge, in einer afghanischen Familie sozialisiert worden und daher mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne. Die Revision zeigt nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, dem Revisionswerber stehe in Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Rechtswidrigkeit leidet (vgl. - neben den in der vorigen Randnummer genannten Entscheidungen - etwa VwGH 8.6.2020, Ra 2020/19/0155, mwN).

11       Die Revision macht zu ihrer Zulässigkeit weiter geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK allein auf die Dauer des Aufenthalts in Österreich abgestellt und die Integration des Revisionswerbers nicht ausreichend berücksichtigt habe.

12       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).

13       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel vorliegt und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010).

14       Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung zudem die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt. Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).

15       Die Revision zeigt nicht auf, dass die Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre. Das BVwG hat alle entscheidungswesentlichen und auch die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände berücksichtigt, wobei es entgegen dem Revisionsvorbringen nicht bloß auf die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich abgestellt, sondern auch berücksichtigt hat, dass der Revisionswerber nicht selbsterhaltungsfähig sei.

16       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 12. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190136.L00

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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