Entscheidungsdatum
23.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W166 2166865-1/10E
beschluss
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch die Caritas, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.07.2017, Zl. XXXX :
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz, VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte nach schlepperunterstützter, illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 03.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 05.11.2015 führte der Beschwerdeführer aus, dass vor einigen Jahren ein Onkel mütterlicherseits von den Taliban ermordet worden sei. Dieser habe damals als Geheimpolizist in Afghanistan gearbeitet. Sein älterer Bruder habe seiner Familie geholfen sich zu verstecken. Dann habe auch sein Bruder Probleme mit den Taliban bekommen und sei nach Österreich geflüchtet. Später habe seine Familie Probleme mit den Taliban bekommen. Seine Mutter habe dann beschlossen, dass der Beschwerdeführer zu seinem Vater in den Iran flüchten solle.
Im Verlauf der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: belangte Behörde) am 09.05.2017 führte der Beschwerdeführer an, dass er in der Provinz Ghazni im Dorf XXXX geboren worden sei und dort bis zu seinem 7. Lebensjahr gelebt habe. Danach sei er im Dorf XXXX gewesen, welches zirka eine Autostunde vom Dorf XXXX entfernt liege. Die letzten vier Jahre habe er in Pakistan bei seiner Mutter gelebt. Danach sei er über Iran nach Europa gereist. Im Iran habe er sich drei Monate bei seinem Vater aufgehalten. Sein Vater habe Pakistan verlassen, weil er Probleme bekommen habe. Von XXXX seien sie vor zirka sechs Jahren weggezogen, weil sein Vater Probleme bekommen habe. Gemeinsam mit seiner Mutter und der Frau seines Bruders sei der Beschwerdeführer nach Pakistan gegangen. Befragt, weshalb der Beschwerdeführer Afghanistan verließ, gab er an, dass seine zwei Onkel mütterlicherseits XXXX (alias XXXX ) und XXXX gegen die Taliban gekämpft hätten. XXXX sei Geheimpolizist gewesen. Die Taliban hätten öfters bei ihnen zu Hause nach ihm gesucht. Als sie ihn nicht gefunden hätten, hätten sie seinen Sohn mitgenommen. Dieser habe aber unterwegs aufgrund eines Konflikts mit dem afghanischen Sicherheitsdienst befreit werden können. Die Polizei habe den Cousin des Beschwerdeführers dann mit zur Befragung nach Ghazni genommen. Am nächsten Tag hätten die Taliban dem Onkel des Beschwerdeführers (Vater seines Cousins) eine Falle gestellt, bei welcher sie ihn getötet hätten. Sein Bruder XXXX habe die Familie seines Onkels vom Dorf XXXX nach XXXX gebracht und sie beim Nachbar versteckt. Ein Arbeiter seines Vaters habe versteckt für die Taliban gearbeitet und seinen Bruder XXXX erpresst es den Taliban zu verraten. Dieser Arbeiter habe seinem Bruder noch Geld geschuldet und habe es als Gegenleistung, dass er das Versteck nicht den Taliban verrate, nicht mehr zurückzahlen wollen. Daraufhin habe sein Vater diesen Arbeiter entlassen. Der Arbeiter habe dann die Informationen den Taliban weitergegeben, woraufhin die Taliban auf das Fahrzeug seines Vaters, welcher als LKW Fahrer gearbeitet habe, geschossen. Sein Vater sei dabei verletzt worden und ins Spital gebracht worden. Am Abend seien die Taliban zu ihnen nach Hause gekommen und hätten nach seinem Bruder gesucht, welcher jedoch bei seinem Vater im Krankenhaus gewesen sei. Seine Mutter habe den Beschwerdeführer zuvor bei den Nachbarn versteckt. Als die Taliban gekommen seien, hätten sie bei der Befragung seine Mutter geschlagen. Am nächsten Tag habe sie der Vater angerufen und gesagt, dass sie nach Ghazni fliehen sollen. Dort hätten sie auf seinen Vater gewartet und seien dann gemeinsam mit ihm nach Pakistan geflohen. Hätten die Taliban seinen Vater und seinen Bruder nicht erwischt, hätten sie sicher den Beschwerdeführer genommen. Im Rahmen der Einvernahme gab die Vertretung des Beschwerdeführers an, dass der Beschwerdeführer den Sachverhalt nur vom Hörensagen kenne, er sei damals 10 Jahre alt gewesen. Es werde auf die Niederschriften seines Bruder XXXX und seines Cousins XXXX verwiesen.
Am 30.06.2017 langte eine Stellungnahme seitens der Vertretung des Beschwerdeführers ein, worin ausgeführt wurde, dass die ursächlichen Gründe der Verfolgung seiner Familie in der Aktivität seines Onkels mütterlicherseits XXXX liegen würden. Der ältere Bruder des Beschwerdeführers, welchem mit Bescheid des BFA Regionaldirektion Burgenland im April 2015 Asyl gewährt worden sei, sei wenige Tage vor dem Beschwerdeführer aus Afghanistan geflüchtet. Der Beschwerdeführer selbst sei mit seinen Eltern und der Gattin seines Bruders XXXX geflüchtet. Ursprünglicher Auslöser der Verfolgung der Familie sei die Tätigkeit seiner beiden Onkel mütterlicherseits XXXX und XXXX als Kommandanten der Hezbe Wahdat. Beide Onkeln seien für den Tod des Tailbanführers XXXX verantwortlich gemacht worden. XXXX lebe seit 2001 in Österreich. Ihm sei Asyl gewährt worden und besitze er mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Onkel XXXX sei vorerst nach Pakistan geflüchtet, etwa 2001 wieder nach Afghanistan zurückgekehrt und habe bis etwa 2007 bei der Geheimpolizei gearbeitet. Er sei jedoch dann von den Taliban identifiziert und getötet worden. Einer seiner Söhne, XXXX , sei von den Taliban verschleppt worden, sei jedoch durch einen Polizeiangriff wieder frei gekommen. Die Polizei habe ihm nahe gelegt, nicht wieder nach Hause zurückzukehren. Er habe jedoch Zuflucht bei seiner Tante, der Mutter des Beschwerdeführers gesucht. Der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX habe die Frau seines Onkels und deren Kinder in sein Heimatdorf gebracht und sie bei den Nachbarn versteckt. Allerdings seien diese Ereignisse im Dorf nicht unentdeckt geblieben und sei die Familie des Beschwerdeführers als Unterstützer der Feinde der Taliban bei diesen verraten worden. Der Vater des Beschwerdeführers sei dann schließlich angegriffen und schwer verletzt worden. Die Familie sei nach Pakistan geflüchtet. Die Söhne des getöteten Onkels XXXX , XXXX , XXXX und XXXX seien mittlerweile in Österreich asylberechtigt. Ihr Onkel XXXX habe in allen Verfahren als Zeuge ausgesagt, ebenso wie im Verfahrens des Bruders des Beschwerdeführers XXXX . Das Verfahren des minderjährigen Bruders der drei asylberechtigten Brüder XXXX sei beim BFA Regionaldirektion Wien anhängig.
Im Anschluss wurde die zusammenfassende Stellungnahme, welche bereits im Verfahren seines Bruders erstattet wurde, dargelegt und beantragt zu deren Bestätigung den Asylakt des Cousins XXXX einzuholen. Des Weiteren wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer und seine Familie in das Visier der Taliban geraten sei und ihm eine eindeutig gegen die Taliban gerichtete Haltung unterstellt werde. Nach dem Bruder des Beschwerdeführers sei konkret gesucht worden, sein Vater sei anlässlich eines Angriffes schwer verletzt worden. Eine inländische Fluchtalternative gebe es nicht. Er habe zudem keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan. Seine drei Cousins, die er und seine Familie in Afghanistan unterstützt hätten, seien nunmehr in Österreich asylberechtigt und würde sich deren Vorbringen aus deren jeweils subjektiven Sicht zu einem vollständigen Gesamtbild zusammenfügen. Auch der Onkel sei asylberechtigt und habe in allen Verfahren zu seiner Rolle bzw. den Aktivitäten seines ermordeten Bruders als Zeuge ausgeführt.
Am 03.07.2017 erstattete die Vertretung des Beschwerdeführers eine neuerliche Stellungnahme, worin sie nochmals zur Geschichte des Beschwerdeführers und seinen in Österreich lebenden Verwandten ausführte, sowie auf einen Bericht zur Sicherheitslage in der Stadt Kabul verwies. Bei der Provinz Ghazni handle es sich dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zufolge um eine volatile Provinz in Südostafghanistan.
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 04.07.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten hingegen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 03.07.2018 erteilt.
In der Begründung führte die belangte Behörde aus, dass die vom Beschwerdeführer gemachten Angaben den Voraussetzungen einer asylrelevanten Verfolgung nicht zu entsprechen vermochten. Durch die Tätigkeit seiner Verwandten (Onkel) sei seine Familie von den Taliban bedroht worden. Der Beschwerdeführer selbst habe keinen asylrelevanten Fluchtgrund vorbringen können. Er habe in der Niederschrift angegeben, dass sein Vater und seine Mutter ihn aufgefordert hätten, nach Ghazni zu fliehen, um vor den Taliban in Sicherheit zu sein. Entsprechend seiner Aussage habe er noch nie Kontakt mit den Taliban gehabt.
Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und ausgeführt, dass die drei Söhne des ermordeten XXXX nach Österreich geflüchtet seien und asylberechtigt seien. Der unmittelbare Auslöser der Verfolgung der Familie des Beschwerdeführers sei der Verrat durch einen Arbeiter gewesen, der Geldschulden beim Bruder des Beschwerdeführers gehabt habe. Letztendlich habe dieser die Familie des Beschwerdeführers an die Taliban verraten und ihnen gesagt, dass sie die Gegner der Taliban im Dorf versteckt hätten und damit die ganze Familie Verräter wären. Bereits im Verfahren sei beantragt worden, den Bruder des BF als Zeugen einzuvernehmen bzw. seinen Akt beizuschaffen, da dieser Angaben zum Angriff der Taliban auf den gemeinsamen Vater und zur Gefährdung des Beschwerdeführers in Afghanistan machen könne. Im Bescheid begründe die Behörde im Übrigen, dass es sich bei Übergriffen durch die Taliban um Übergriffe durch kriminelle Dritte handle und nicht davon auszugehen sei, dass der afghanische Staat nicht gewillt sei oder fähig wäre, vor Übergriffen durch die Taliban zu schützen sowie im Falle gehäufter Übergriffe Maßnahmen zu ergreifen. Dabei verkenne die Behörde, dass die ständige Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes keine Zweifel an der Asylrelevanz einer Verfolgung durch die Taliban offenlasse. Dazu wurden eine Entscheidung des Asylgerichtshofes und mehrere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes zitiert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I. Nr. 87/2012 idgF (BFA-VG), entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz-VwGVG) BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Zu Spruchpunkt A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Obwohl gem. § 17 iVm § 58 VwGVG seit 01.01.2014 der § 66 Abs. 2 AVG in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht mehr anzuwenden ist und gem. § 58 VwGVG stattdessen § 28 Abs. 3 VwGVG mit genanntem Datum in Kraft trat, womit das Erfordernis des § 66 Abs. 2 leg.cit, wonach die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, weggefallen ist, und sich die Regelungsgehalte beider Normen nicht somit gänzlich decken, findet die einschlägige höchstgerichtliche Judikatur zu § 66 Abs. 2 AVG grundsätzlich weiterhin Anwendung.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG Anm. 11).
Ausführlich hat sich der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, (ebenso VwGH, 27.01.2015, Ro 2014/22/0087) mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet:
* Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
* Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.
* Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 10.09.2014, Ra 2014/08/0005 die im Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063 angeführten Grundsätze im Hinblick auf Aufhebungs- und Zurückweisungsbeschlüsse des Verwaltungsgerichtes gemäß § 28 Abs 3 VwGVG nochmals bekräftigt und führte ergänzend aus, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung im Sinn des § 24 VwGVG zu vervollständigen sind.
Im Erkenntnis vom 17.10.2006 (Zl 2005/20/0459) hat der VwGH betont, dass eine Behebung nach § 66 Abs. 2 AVG nur zulässig ist, wenn eine weitere Verhandlung/Einvernahme erforderlich ist, was nicht der Fall wäre, wenn die Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens durch schriftliches Parteiengehör saniert hätten werden können.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nun zusammengefasst in verschiedenen Erkenntnissen betont, dass eine umfangreiche und detaillierte Erhebung des asylrechtlich relevanten Sachverhaltes durch die Behörde erster Instanz durchzuführen ist.
Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof, in seinem Erkenntnis vom 07.11.2008, Zl. U 67/08-9, ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes. Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000).
Die von der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts geforderte ganzheitliche Würdigung bzw. die Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens ist im gegenständlichen Fall unterblieben und ist die belangte Behörde nach dem Dafürhalten des Bundesverwaltungsgerichts ihrer Pflicht zur Erhebung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes nicht nachgekommen. Im vorliegenden Fall sind die seitens der Höchstgerichte gestellten Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren in qualifizierter Weise unterlassen worden, dies aus folgenden Erwägungen:
Die rechtliche Vertretung des Beschwerdeführers beantragte im Verfahren vor der belangten Behörde mehrfach den Bruder des Beschwerdeführers, welcher in Österreich Asyl zuerkannt bekommen habe und sich auf dieselben Fluchtgründe gestützt habe, wie der Beschwerdeführer, einzuvernehmen bzw. zumindest dessen Verwaltungsakt auszuheben und Einsicht zu nehmen. Auch dem Onkel des Beschwerdeführers, welcher zum damaligen Zeitpunkt aufgrund seiner Minderjährigkeit auch der Vormund für diesen in Österreich war, sei der Asylstatus zuerkannt worden, mittlerweile besitze er die österreichische Staatsbürgerschaft. Das Fluchtvorbringen des in Österreich aufhältigen Onkels des Beschwerdeführers stehe mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und seines Bruders ebenfalls im Zusammenhang. Weshalb auf die geforderten Einvernahmen des Bruders bzw. Onkels verzichtet wurde, lässt sich dem Bescheid nicht entnehmen.
Die Behörde traf im gegenständlich angefochtenen Bescheid die Feststellung, dass die Familie des Beschwerdeführers durch die Tätigkeit seiner Onkel von den Taliban bedroht wurde. Eine Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers wurde hingegen ohne Heranziehung der Informationen seines Bruders, des Onkels oder auch der drei ebenfalls in Österreich mit Asylstatus aufhältigen Cousins aus deren Asylverfahren nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes aus nicht nachvollziehbaren, lapidar angeführten Gründen verneint, indem sich die Behörde auf die Aussage des Beschwerdeführers bezog, dass er mit den Taliban noch nie Kontakt gehabt hätte. Ferner führte die Behörde aus, dass nicht logisch sei, dass sein Vater wegen einer Schussverletzung am Arm mehr als 150 Kilometer Fahrt in Kauf nehme und in ein Krankenhaus nach Kabul gefahren sei, anstatt in das nächst gelegene in Ghazni, weil es dort sehr viele Taliban gebe, hingegen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter geraten hätte, nach Ghazni zu fliehen, um vor den Taliban in Sicherheit zu sein. Die Behörde legte dabei nicht näher dar, ob sie damit das komplette Vorbringen, dass sein Vater von den Taliban angegriffen wurde, für unglaubwürdig hält und damit auch eine Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers ausschließe. In diesem Fall hätte sie aber nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedenfalls auch den Bruder des Beschwerdeführers befragen müssen.
Offen bleibt insbesondere, weshalb dem Bruder des Beschwerdeführers der Asylstatus zuerkannt wurde, beim Beschwerdeführer hingegen von einer Verfolgungsgefahr aus im Bescheid nicht näher dargelegten Gründen nicht ausgegangen wurde. Dazu tätigte die belangte Behörde keinerlei Ausführungen bzw. Feststellungen. Es lässt sich lediglich darüber mutmaßen, ob dem Bruder des Beschwerdeführers deshalb der Asylstatus zuerkannt wurde, weil dieser – nach den Schilderungen des Beschwerdeführers – direkt von den Taliban gesucht worden sei, nachdem er die Familie seines Onkels versteckt habe und von dem Arbeiter seines Vaters verraten worden sei, oder ob dieser eine gänzlich andere Fluchtgeschichte vorgetragen habe und diesem deswegen der Asylstatus zuerkannt wurde.
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde den Bruder des Beschwerdeführers, allenfalls den von ihm genannten Onkel und die Cousins, welchen allesamt der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, zur Bedrohungssituation der gesamten Familie, einschließlich einer allfälligen Bedrohung des Beschwerdeführers selbst, als Zeuge(n) einzuvernehmen haben. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass er bereits in seiner Stellungnahme vom 30.06.2017 die Namen seiner Cousins, seines Onkels und seines Bruders mit den jeweiligen Zahlen der Asylverfahren nannte und darauf hinwies, dass diese den Status der Asylberechtigten, wegen der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fluchtgeschichte, erhalten hätten. Sein Onkel habe zudem bisher in sämtlichen Verfahren seiner Familienangehörigen als Zeuge ausgesagt. Insgesamt werden konkretere Feststellungen zur Bedrohung der Familie des Beschwerdeführers wegen der Tätigkeit seiner Verwandten (Onkel), insbesondere ob der Beschwerdeführer davon auch betroffen war oder nicht zu treffen sein. Falls von keiner Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers trotz Bedrohung seiner Familie ausgegangen werden kann, wird genau darzulegen sein, weshalb beim Beschwerdeführer im Gegensatz zu seiner übrigen Familie, trotz derselben fluchtauslösenden Ereignisse, keine Verfolgungsgefahr durch die Taliban vorliegend ist.
Das Bundesasylamt ist somit im vorliegenden Fall - wie oben dargelegt - von einer ungenügenden Sachverhaltsgrundlage ausgegangen, was nach Lage des Falles ergänzende Ermittlungen erforderlich macht.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann – im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 66 Abs. 2 AVG – nicht im Sinne des Gesetzes liegen.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.
Da also der maßgebliche Sachverhalt im Fall der beschwerdeführenden Partei noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.
Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung und ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W166.2166865.1.00Im RIS seit
06.11.2020Zuletzt aktualisiert am
06.11.2020