TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/27 I410 1415845-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.07.2020
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Entscheidungsdatum

27.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I410 1415845-4/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Eva Lechner, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX (alias XXXX alias XXXX ), geb. XXXX (alias XXXX alias XXXX ), StA. Nigeria (alias Simbabwe), vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2020, Zl. 510570900 – 180064666 / BMI-BFA_OOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.01.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei er behauptete, minderjährig und Staatsangehöriger Simbabwes zu sein.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.09.2010 wurde dieser Asylantrag als unbegründet abgewiesen und der Beschwerdeführer nach Nigeria ausgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer das Rechtsmittel der Beschwerde an den Asylgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 26.09.2011 gab der Asylgerichtshof dieser Beschwerde statt und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück.

Mit nachgeholtem Bescheid vom 17.11.2011 wies das Bundesasylamt den Asylantrag abermals ab und sprach die Ausweisung des Beschwerdeführers nach Nigeria aus. Aufgrund einer von der belangten Behörde eingeholten Sprachanalyse durch das Sprachinstitut SPARAKAB, wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer aus Nigeria und nicht aus Simbabwe stammt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführe das Rechtsmittel der Beschwerde an den Asylgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 14.03.2012, Zl. A5 415.845-2/2011/7E, zugestellt am 26.03.2012, wies der Asylgerichtshof die Beschwerde gegen diesen Bescheid als unbegründet ab.

Der gegen dieses Erkenntnis vom Beschwerdeführer – mit bewilligter Verfahrenshilfe - an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde erkannte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 21.11.2012, U 925/17-2, die aufschiebende Wirkung zu. In weiterer Folge lehnte er mit Beschluss vom 13.09.2013, U 925/2012-14, deren Behandlung ab.

Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach und verblieb rechtswidrig im Bundesgebiet.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16.09.2014 (rechtskräftig am 21.01.2015), wurde der Beschwerdeführer wegen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten, wobei zehn Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden, verurteilt.

Am 11.01.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung nach § 28 Abs. 1 SMG begangen zu haben, festgenommen und am 14.01.2018 in Untersuchungshaft genommen.

Bei einer am 02.02.2018 stattgefundenen Vorführung des Beschwerdeführers vor eine Delegation der nigerianischen Vertretungsbehörden stellte diese die nigerianische Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers fest. In weitere Folge stellten die nigerianische Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat für den Beschwerdeführer aus.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28.05.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen gewebsmäßigen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 2 Z 1 und Abs. 4 Z 3 SMG sowie der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 erster Satz, erster und zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von dreieinhalb Jahren verurteilt. Zudem wurde die mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16.09.2014 bedingte Strafnachsicht widerrufen. Der gegen dieses Urteil vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung und Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht mit Erkenntnis und Beschluss vom 09.10.2018 nicht Folge gegeben.

Mit Schreiben vom 21.11.2019 teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit, dass sie aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen beabsichtige „eine Rückkehrentscheidung ( § 52 Fremdenpolizeigesetz) nach Nigeria und ein unbefristetes Einreiseverbot (§53 Fremdenpolizeigesetz) zu erlassen“. Gleichzeitig übermittelte sie dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt zu Nigeria sowie einen umfangreichen Fragenkatalog betreffend sein Privat- und Familienleben mit dem Ersuchen um schriftliche Stellungnahme binnen zwei Wochen.

Der Beschwerdeführer nahm dazu mit Eingabe vom 05.12.2019 Stellung.

Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 08.01.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß „§ 57 AsylG“ nicht erteilt (Spruchpunkt I). Gemäß „§ 10 Absatz 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF“ wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß „§ 52 Absatz 1 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ erlassen (Spruchpunkt II). Weiters wurde gemäß „§ 52 Absatz 9 FPG“ festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß „§ 46 FPG“ nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III). Überdies wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß „§ 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 5 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß „§ 55 Absatz 4 FPG“ wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß „§ 18 Absatz 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF“ die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 29.01.2020 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

Am 08.07.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (Videokonferenz) durch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Spätestens am 12.01.2010 reiste der Beschwerdeführer nach Österreich ein und stellte einen unbegründeten Asylantrag. Er ist ledig und volljährig. Er hat einen hohen Blutdruck, der medikamentös eingestellt ist, und ist ansonsten gesund. Er ist mittellos.

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Nigeria; seine Identität steht nicht fest.

Seit dem negativen Abschluss seines Asylverfahrens mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 14.03.2012, Zl. A5 415.845-2/2011/7E, hält sich der Beschwerdeführer illegal in Österreich auf. Er ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nach und bestritt seinen Lebensunterhalt seit seiner Einreise in das Bundesgebiet durch Leistungen aus der Grundversorgung und karitativen Zuwendungen.

Der Beschwerdeführer befindet sich aktuell in Strafhaft.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich Bekanntschaften und Freundschaften. Intensive emotionale Bindungen zu Personen in Österreich liegen jedoch nicht vor.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse. In der mündlichen Verhandlung demonstrierte er eingeschränkte Deutschkenntnisse; sie waren nicht in einem solchen Ausmaß vorhanden, dass auf die Dolmetscherin hätte verzichtet werden können.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine in Italien lebende Freundin und eine vierjährige Tochter hat.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16.09.2014 (rechtskräftig am 21.01.2015), GZ 044 Hv 117/2014t, wurde der Beschwerdeführer wegen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten, wobei zehn Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden, verurteilt. Mit diesem Urteil wurde der Beschwerdeführer für schuldig gesprochen, in Wien von Jänner 2014 bis zum 03.06.2014 vorschriftswidrig Suchtgift in einer das zweifache der Grenzmenge (§28b SMG) übersteigenden Menge und zwar 161,2 Gramm brutto Kokain mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 20%, somit 32,24 Gramm reines Cocain, 22,5 Gramm brutto Heroin mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 1 % somit 0,225 Gramm reines Diacetylmorphin und fünf Gramm brutto Cannabiskraut (Wirkstoff: THC) mit einem nicht mehr feststellbaren Reinheitsgehalt, nachstehenden, durch gewinnbringenden Verkauf überlassen zu haben, und zwar

I.       Kokain, nämlich

a.       25 Gramm an XXXX um insgesamt € 1.200,-

b.       10 Gramm an XXXX

c.       3 Gramm an XXXX um insgesamt € 120,-

d.       96 Gramm an XXXX um insgesamt € 4.800,-.

e.       2 Gramm an XXXX um insgesamt € 100,-.

f.       7,2 Gramm an XXXX um insgesamt € 320,-.

g.       5 Gramm an XXXX um insgesamt € 200,-.

h.       2 Gramm an XXXX um insgesamt € 100,-.

i.       1 Gramm an XXXX . um insgesamt € 60,-.

j.       8 Gramm an XXXX um insgesamt € 320,-.

k.       10 Gramm an XXXX um insgesamt € 750,-.

l.       30 Gramm an XXXX . um insgesamt € 1.800,-.

II.      Heroin, nämlich

a.       15 Gramm an XXXX um insgesamt € 400,-

b.       5 Gramm an XXXX

III.    Insgesamt 5 Gramm brutto Cannabiskraut an XXXX um insgesamt € 50,-

Bei den Strafbemessungsgründen wirkten sich der bisherige ordentliche Lebenswandel, das teilweise reumütige Geständnis und dass die Aussagen wesentlich zur Wahrheitsfindung beigetragen haben als mildernd aus. Jedoch schlugen die Begehung der strafbaren Handlungen über einen längeren Zeitraum, die große Anzahl von Abnehmern des Suchtgiftes, das gewerbsmäßige Handeln und das Handeln aus reiner Gewinnabsicht, ohne selbst von Suchtgift abhängig zu sein, als erschwerend zu Buche.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28.05.2018, GZ 082 Hv 55/18k, wurde der Beschwerdeführer wegen gewebsmäßigen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 2 Z 1 und Abs. 4 Z 3 SMG sowie der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 erster Satz, erster und zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von dreieinhalb Jahren verurteilt. Zudem wurde die mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16.09.2014 bedingte Strafnachsicht widerrufen. Der gegen dieses Urteil vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung und Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht mit Erkenntnis und Beschluss vom 09.10.2018, 20 Bs 270/18d, nicht Folge gegeben.

Mit diesem Urteil wurde der Beschwerdeführer für schuldig gesprochen, in Wien

A./ vorschriftswidrig Suchtgift, und zwar Kokain, enthaltend 20% Cocain, und Heroin, enthaltend 0,1% Morphin und 1,8% 6-Acetylmorphin, in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen überlassen zuhaben, wobei er die Taten gewerbsmäßig (§ 70 Abs. 1 Z 3 erster und zweiter Fall StGB) begangen hat und schon ein Mal mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16.9.2014 zu AZ 44 Hv 117/14t wegen § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG verurteilt worden ist, und zwar

I./ dem abgesondert verurteilten XXXX von Juli 2015 bis Mitte Dezember 2017 in einer Vielzahl von Angriffen zwei Mal pro Tag insgesamt 1.430 große Kokainkugeln á 0,6 Gramm bto Kokain für EUR 40,-- pro Kugel und 4.290 kleine Kokainkugeln á 0,2 Gramm bto Kokain für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 1.716 Gramm bto Kokain enthaltend 343,2 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 100.000,--, und 2.860 große Heroinkugeln á 0,6 Gramm bto Heroin für EUR 20,-- pro Kugel und 715 kleine Heroinkugeln á 0,2 Gramm bto Heroin für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 1.859 Gramm bto Heroin enthaltend 1,86 Gramm Morphin und 33,46 Gramm 6-Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 70.200,--;

II./ XXXX von Februar 2016 bis Mitte Dezember 2017 ein bis zwei Mal wöchentlich insgesamt 117 große Kokainkugeln á 0,6 Gramm bto Kokain für EUR 40,-- pro Kugel, somit insgesamt 70,2 Gramm bto Kokain enthaltend 14,04 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 4.680,--, und 30 große Heroinkugeln á 0,6 Gramm bto Heroin für EUR 20,-- pro Kugel, somit insgesamt 21 Gramm bto Heroin enthaltend 0,02 Gramm Morphin und 0,32 Gramm 6-Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 600,--;

III./ XXXX von Juli 2017 bis Anfang Januar 2018 in vier Übergaben insgesamt 4 kleine Kokainkugeln á 0,2 Gramm bto für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 0,8 Gramm bto Kokain enthaltend 0,2 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 40,--;

IV./ XXXX von Juli 2017 bis Dezember 2017 ca. drei bis vier Mal wöchentlich insgesamt 100 kleine Kokainkugeln á 0,2 Gramm bto Kokain für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 20 Gramm bto Kokain enthaltend 4 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 1.000,--, und 200 kleine Heroinkugeln á 0,2 Gramm bto Heroin für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 40 Gramm bto Heroin enthaltend 0,04 Gramm Morphin und 0,72 Gramm 6-Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 2.000,--;

V./ XXXX von Juni 2017 bis Ende November 2017 in einer Vielzahl von Angriffen insgesamt 20 kleine Kokainkugeln á 0,2 Gramm bto Kokain für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 4 Gramm bto Kokain enthaltend 1 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 200,--, und 172 kleine Heroinkugeln á 0,2 Gramm bto Heroin für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 34,4 Gramm bto Heroin enthaltend 0,03 Gramm Morphin und 0,61 Gramm 6-Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 1.720,--;

VI./ XXXX und XXXX von Juli 2017 bis Dezember 2017 in einer Vielzahl von Angriffen insgesamt 36 große Kokainkugeln á 0,6 Gramm bto Kokain für EUR 40,-- pro Kugel, somit insgesamt 21,6 Gramm bto Kokain enthaltend 4,32 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 1.440,--, und 18 kleine Heroinkugeln á 0,2 Gramm bto Heroin für EUR 10,-- pro Kugel, somit insgesamt 3,6 Gramm bto Heroin enthaltend 0,004 Gramm Morphin und 0,06 Gramm 6- Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 180,--;

VII./ XXXX von Januar 2016 bis Dezember 2017 in einer Vielzahl von Angriffen ca. ein bis zwei Mal wöchentlich insgesamt 104 große Kokainkugeln á 0,6 Gramm bto Kokain für EUR 50,-- pro Kugel, somit insgesamt 62,4 Gramm bto Kokain enthaltend 12,48 Gramm Cocain gegen ein Entgelt von EUR 5.200,--, und 60 große Heroinkugeln á 0,6 Gramm bto Heroin für EUR 20,-- pro Kugel, somit insgesamt 36 Gramm bto Heroin enthaltend 0,04 Gramm Morphin und 0,64 Gramm 6- Acetylmorphin gegen ein Entgelt von EUR 1.200,--;

B./ ab einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt Anfang Januar 2018 bis zum 11. Januar 2018 vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge (§ 28b SMG) mit dem Vorsatz erworben und besessen zu haben, dass es in Verkehr gesetzt werde, und zwar 57,84 Gramm bto Kokain enthaltend 44 Gramm Cocain und 164,43 Gramm bto Heroin enthaltend 0,4 Gramm Morphin und 5,8 Gramm 6- Acetylmorphin.

Bei den Strafbemessungsgründen wirkten sich das teilweise Geständnis sowie die Sicherstellung des Suchtgifts hinsichtlich Punkt B./ des Urteilsthemas als mildernd aus. Jedoch schlugen die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall, der lange Tatzeitraum und das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen als erschwerend zu Buche.

Aufgrund der allgemeinen Lage im Land wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird.

1.2. Zur Lage in Nigeria:

Zur Lage in Nigeria werden folgende Feststellungen getroffen (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria, Gesamtaktualisierung 25.05.2020):
1.         „Politische Lage

Letzte Änderung: 20.5.2020

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; GIZ 3.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020).

Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA 24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten – zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte – und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen die von ihnen gemachte Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete des Landes, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 1.2019).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 3.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 3.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes (GIZ 3.2020a). Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar fechtet das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering (GIZ 3.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).

Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 3.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.1.2020

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019b): Nigeria - Überblick, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeria/205786, Zugriff 9.4.2020

-        BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3, Zugriff 12.4.2019

-        DW - Deutsche Welle (11.3.2019): EU: Nigerian state elections marred by 'systemic failings', https://www.dw.com/en/eu-nigerian-state-elections-marred-by-systemic-failings/a-47858131, Zugriff 9.4.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 9.4.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        Stears News (9.4.2020): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.com/governor/2019, Zugriff 9.4.2020
2.         Sicherheitslage

Letzte Änderung: 20.5.2020

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).

Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).

In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise
(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 16.4.2020

-        CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019

-        EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020

-        UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (15.4.2020): Foreign Travel Advice – Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 16.4.2020

2.1.    Nigerdelta

Letzte Änderung: 20.5.2020

Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2019).

Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar'Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 16.1.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2019). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 16.1.2020).

Die Lage bleibt aber sehr fragil, da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 16.1.2020). Angriffe auf Erdöleinrichtungen stellen weiterhin eine Bedrohung für die Stabilität und die Erdölproduktion dar (ACCORD 17.4.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, darunter Abia, Akwa, Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers (EASO 2.2019).

Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 16.1.2020).

Entführungen sind im Nigerdelta und in den südöstlichen Bundesstaaten Abia, Imo und Anambra besonders häufig (FH 1.2019), so wurden auch im Jahr 2019 Zivilisten entführt um Lösegeld zu erhalten (USDOS 11.3.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (17.4.2020): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.net/de/dokument/2028159.html, Zugriff 17.4.2020

-        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 17.4.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020

2.2.    Middle-Belt inkl. Jos/Plateau

Letzte Änderung: 20.5.2020

Seit Jahrzehnten kommt es in Nigeria – vorwiegend im Middle-Belt – zu religiös motivierter Gewalt zwischen christlichen ansässigen Bauern und nomadisch lebenden muslimischen Viehhirten (USCIRF 4.2019; vgl. EASO 2.2019). Ursprünglich ein Konflikt um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land, hat der Konflikt zunehmend eine ethnisch-religiöse Dimension bekommen (EASO 2.2019). Der Konflikt lädt sich immer stärker ideologisch auf und verstärkt den Antagonismus zwischen Christen und Muslimen bzw. verschiedenen Ethnien (AA 16.1.2020). Eine Polarisierung erfolgt anhand religiöser Linien, da Angriffe oft als religiös motiviert wahrgenommen werden. Beide Seiten fühlen sich durch die Sicherheitskräfte nicht ausreichend geschützt, Angreifer bleiben ungestraft. Es wird auch von ethnische Säuberungen im Rahmen des Konflikts berichtet (USCIRF 4.2019).

In Zentralnigeria verstärken sich die Konflikte zwischen Hirten und Bauern um Land und Ressourcen. In einzelnen Fällen forderten diese Auseinandersetzungen mehrere hundert Tote. Der Konflikt nimmt durch die fortschreitende Wüstenbildung in Nordnigeria, Bevölkerungswachstum und die angespannte wirtschaftliche Lage zu (AA 24.5.2019a).

Im Jahr 2018 eskalierte die Gewalt auf dem Land, und die gewalttätigen Konflikte in den Städten gingen weiter. Religiös motivierte Gewalt führte zu Massenvertreibungen, Zerstörung von Eigentum und zum Tod tausender Menschen (USCIRF 4.2019). Im Jahr 2018 wurden im Middle-Belt insgesamt 1.949 Menschen durch den Konflikt getötet (FH 1.2019). Bei bewaffneten Zusammenstößen zwischen Bauern und Viehhirten über immer knapper werdende Ressourcen wurden 2019 mindestens 96 Menschen getötet (AI 8.4.2020). Von der Gewalt waren zahlreiche Bundesstaaten Nigerias betroffen, insbesondere aber Adamawa, Taraba, Plateau, Nasarawa und Benue (EASO 2.2019; vgl. USCIRF 4.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844, Zugriff 17.4.2020

-        AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty Report, Nigeria, 2019, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669032, Zugriff 16.4.2020

-        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 17.4.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020

-        USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008195/Tier1_NIGERIA_2019.pdf, Zugriff 17.4.2020

2.3.    Nordnigeria – Boko Haram

Letzte Änderung: 20.5.2020

Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 24.5.2019a). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 11.2018a).

Dem Konflikt fielen bisher unterschiedlichen unabhängigen Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer (AA 24.5.2019a; vgl. HRW 14.1.2020; EASO 11.2018a). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 16.1.2020).

Diese Gruppen sind auch weiterhin für Tötungen, Bombenanschläge und Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 1.11.2019).

Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 17.4.2020). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v.a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg“ geführt (ÖB 10.2019). Tatsächlich gelang es dem nigerianischen Militär und Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram aus einigen Gebieten zu verdrängen (GIZ 3.2020). Nach dem Rückzug in unwegsames Gelände und dem Treueeid einer Splittergruppe gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat ist Boko Haram mittlerweile zu ursprünglichen Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschlägen oft auch durch Attentäterinnen zurückgekehrt (ÖB 10.2019; vgl. ACCORD 17.4.2020).

Einige Gebiete stehen immer noch unter der Kontrolle der verschiedenen Fraktionen der Gruppe. JAS scheint im Nordosten in Richtung Kamerun am aktivsten zu sein, während ISIS-WA hauptsächlich in der Nähe der Grenze zu Niger operiert (EASO 2.2019). Boko Haram kontrolliert einige Dörfer nahe des Tschad-Sees (ICG 16.5.2019). Im Jahr 2019 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch. Boko Haram führte zudem in eingeschränktem Ausmaß Anschläge im Bundesstaat Adamawa durch, während ISIS-WA Ziele im Bundesstaat Yobe angriff. Boko Haram kontrolliert zwar nicht mehr so viel Territorium wie zuvor, jedoch ist es beiden Gruppen im Nordosten des Landes weiterhin möglich, Anschläge auf militärische und zivile Ziele durchzuführen (ACCORD 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Nordosten hat sich die Sicherheitslage nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 also wieder verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno (AA 16.1.2020).

Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). IOM zählt etwa 1,6 Millionen IDPs, ca. 200.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (AA 24.5.2019a). Andere Quellen berichten von circa zwei Millionen IDPs und mehr als 240.000 nigerianischen Flüchtlingen in den angrenzenden Staaten (USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 kamen beim Konflikt im Nordosten zumindest 1.200 Personen ums Leben, knapp 200.000 Personen wurden intern vertrieben (HRW 17.1.2019).

Auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844, Zugriff 17.4.2020

-        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (17.4.2020): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.net/de/dokument/2028159.html, Zugriff 17.4.2020

-        AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty Report, Nigeria, 2019, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669032, Zugriff 16.4.2020

-        AU-EU - African Union-EU Partnership (o.D.): Multinational Joint Task Force (MNJTF) against Boko Haram, https://www.africa-eu-partnership.org/en/projects/multinational-joint-task-force-mnjtf-against-boko-haram, Zugriff 17.4.2020

-        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 17.4.2020

-        EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 12.4.2019

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020): Nigeria - Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/nigeria/geschichte-staat/, Zugriff 9.4.2020

-        HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022679.html, Zugriff 17.4.2020

-        HRW - Human Rigths Watch (17.1.2019): World Report 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2002184.html, Zugriff 11.4.2019

-        ICG - International Crisis Group (16.5.2019): Facing the Challenge of the Islamic State in West Africa Province, https://www.crisisgroup.org/africa/west-africa/nigeria/273-facing-challenge-islamic-state-west-africa-province, Zugriff 17.4.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020

-        USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019164.html, Zugriff 17.4.2020
3.         Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 20.5.2020

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law“ oder „Customary Law“) durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte“ neben „Common Law“- und „Customary Courts“ geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).

Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        UKHO - United Kingdom Home Office (3.2019): Country Policy and Information Note - Nigeria: Actors of protection, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/794316/CPIN_-_NGA_-_Actors_of_Protection.final_v.1.G.PDF, Zugriff 29.4.2020

-        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020

3.1.    Scharia

Letzte Änderung: 15.4.2020

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 16.1.2020). Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 21.6.2019). Bei den Scharia-Gerichten kommt die Bedingung hinzu, dass beide Parteien Muslime sein müssen (ÖB 10.2019). Mindestens ein Bundesstaat, Zamfara, schreibt vor, dass Zivilverfahren, bei denen alle Prozessparteien Muslime sind, vor Scharia-Gerichten verhandelt werden, wobei die Möglichkeit besteht, gegen jede Entscheidung beim Zivilgericht Berufung einzulegen (USDOS 11.3.2020). Nicht-Muslime haben die Möglichkeit, ihre Fälle vor den Scharia-Gerichten verhandeln zu lassen, wenn sie dies wünschen (USDOS 21.6.2019). Nicht-Muslime haben aber jedenfalls das Recht auf ein Verfahren vor einem säkularen Gericht (BS 2020).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, sodass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Dabei erregten Ermittlungen und Anklagen wegen sogenannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 16.1.2020).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020). Im Jahr 2019 gab es keine Berichte über ausgeführte Prügelstrafen (USDOS 11.3.2020). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 16.1.2020). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 11.3.2020). Es gibt Hisbah-Verbände zur Durchsetzung der Scharia, die sich stark zwischen den Staaten unterscheiden (USCIRF 12.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.1.2020

-        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (12.2019): Shariah Criminal Law in Northern Nigeria, Implementation of Expanded Shari’ah Penal and Criminal Procedure Codes in Kano, Sokoto, and Zamfara States, 2017–2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/20

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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