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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der M R (vormals: R) in G, vertreten durch Dr. Hermann Kienast, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Friedrichgasse 6/IV/17, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Mai 2020, G313 2205053-2/7E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine rumänische Staatsangehörige, hielt sich beginnend mit März 2018 als Obdachlose in Österreich auf. Sie wurde mehrfach durch mutwillige Sachbeschädigungen auffällig.
2 Die Revisionswerberin wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Leoben vom 18. Oktober 2018 gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dem lag zugrunde, dass die Revisionswerberin am 18. Juni 2018 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes, der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhe, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, einer Erziehungsberechtigten ihr im Dezember 2015 geborenes Kind zu entziehen versucht habe, indem sie es habe ergreifen wollen und, nachdem die Mutter das Kind in die Arme genommen hatte, es am Oberkörper erfasst und wegzuzerren versucht habe. Dadurch habe die Revisionswerberin eine Tat begangen, die ihr außer diesem Zustand als das mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohte Vergehen der versuchten Kindesentziehung nach §§ 15, 195 Abs. 1 und 2 StGB zuzurechnen wäre, wobei nach ihrer Person, nach ihrem Zustand und nach der Art der Tat dringend zu befürchten sei, dass sie sonst unter dem Einfluss ihrer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen, insbesondere weitere Kindesentziehungen, begehen werde. Zum Gesundheitszustand der Revisionswerberin stellte das Strafgericht auf Basis eines entsprechenden Sachverständigengutachtens fest, bei der Revisionswerberin bestünden - mit aggressivem Potential - Halluzinationen, Gedankeneingebungen und Stimmenhören; gleichzeitig liege eine Verkennung der Realität vor.
3 Im Hinblick darauf erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 11. Dezember 2018 gegen die Revisionswerberin gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Untere einem sprach es aus, dass gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub gewährt und gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde aberkannt werde.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 18. Mai 2020 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:
6 Die Revision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.
7 Während das BFA im Bescheid vom 11. Dezember 2018 noch davon ausging, der Lebensmittelpunkt der Revisionswerberin sei in Rumänien und in Österreich bestünden keinerlei Bindungen, stellte das BVwG fest, die Revisionswerberin sei seit Februar 2020 mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet. In der weiteren Begründung ging das BVwG davon aus, der Ehemann der Revisionswerberin sei in der Lage, für sie „entsprechende Strukturen“ (MSB [= mobile sozialpsychiatrische Betreuung], Hauskrankenpflege) zu schaffen, die ihr helfen würden, ihre Erkrankung entsprechend unter Kontrolle zu halten. Diese Annahme wurde in der Beweiswürdigung auf die „glaubhafte“ Stellungnahme des für die Revisionswerberin bestellten Erwachsenenvertreters vom 14. Jänner 2020 gegründet, wonach die Revisionswerberin nach einer Entlassung aus der Anstaltsunterbringung bei ihrem Ehemann - dieser wohnt nach dem Inhalt dieses Berichtes allein in einem Einfamilienhaus in einem Ort in der Steiermark - „unterkommen“ könne, wo er die „entsprechenden Strukturen“ für sie schaffen könne. Das BVwG übernahm auch die Mitteilung des Erwachsenenvertreters, die psychische Verfassung der Revisionswerberin sei (mittlerweile) derart stabil, dass die Medikation schrittweise auf eine monatliche Depotinjektion und zwei (täglich einzunehmende) orale Präparate habe reduziert werden können.
8 In diesem Zusammenhang meinte das BVwG dann im Rahmen der rechtlichen Beurteilung betreffend die Gefährdungsprognose nach § 67 Abs. 1 FPG, dass die Revisionswerberin krankheitseinsichtig sei und um die Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung sowie der regelmäßigen sozialpsychiatrischen und therapeutischen Betreuung wisse, ändere nichts daran, dass es bei der paranoiden Schizophrenie der Revisionswerberin zwar unter Einhaltung der empfohlenen Behandlung zu einer Besserung kommen könne, jedoch eine „Verschlechterung bzw. Rückfälligkeit nicht ausgeschlossen“ sei. Jedenfalls sei seit der Einweisung in die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher noch keine derartige nachhaltige psychische Stabilisierung bei der Revisionswerberin eingetreten, die zu einer Entlassung aus der Anstaltsunterbringung hätte führen können. Ein Nachweis für den Wegfall der Voraussetzungen für die Anstaltsunterbringung liege zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt nicht vor.
9 Angesichts dieser Ausführungen ist erkennbar, dass das BVwG bei der nach § 67 Abs. 1 FPG vorgenommenen Gefährdungsprognose auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung abstellte. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch bereits zum Ausdruck gebracht, dass für die Frage, ob ein Aufenthaltsverbot erlassen werden dürfe, vom Verwaltungsgericht auf den Zeitpunkt seiner Durchsetzbarkeit abzustellen ist (siehe dazu VwGH 22.5.2014, Ra 2014/21/0014; vgl. zum Einreiseverbot auch VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe). Gemäß § 70 Abs. 1 zweiter Satz FPG ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit eines Aufenthaltsverbotes aber für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde. Das gilt auch für die Dauer der gemäß § 21 Abs. 1 StGB verfügten Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (vgl. zur inhaltsgleichen, für Rückkehrentscheidungen geltenden Bestimmung des § 59 Abs. 4 FPG VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0254, Rn. 15). Vor allem bei der Gefährdungsprognose wäre daher vom BVwG auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung der Revisionswerberin aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abzustellen gewesen. Das macht die Revision zu Recht geltend.
10 Das bedeutet - entgegen der in der Revision des Weiteren vertretenen Meinung - allerdings noch nicht, dass die Gefährdungsprognose jedenfalls zugunsten der Revisionswerberin auszufallen habe, weil eine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug nur bei einem Wegfall der Gefährlichkeit in Betracht komme. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich zu derartigen Fällen schon judiziert, der Prognose einer vom Fremden ausgehenden Gefahr im Sinne des § 67 FPG stehe nicht entgegen, dass die Gefährlichkeit auf eine Krankheit zurückzuführen sei. Vielmehr habe der Gesetzgeber (sogar) die Möglichkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch wegen Tathandlungen vorgesehen, die im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen wurden und zu einer Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher geführt haben (vgl. VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, Rn. 9, mwN). Eine Gefährdung im Sinne des § 67 FPG könne somit grundsätzlich auch bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung bejaht werden, wenn nicht etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine derartige Gefährdung künftig auszuschließen sein werde (vgl. neuerlich VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, nunmehr Rn. 9, mwN, und daran anschließend VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0112, Rn. 9; siehe zu einem solchen Einwand, wie er auch in der vorliegenden Revision vorgetragen wurde, noch VwGH 19.5.2011, 2008/21/0042, und darauf Bezug nehmend VwGH 20.12.2012, 2011/23/0674).
11 Ob eine solche Gefährdung auch nach der Entlassung der Revisionswerberin aus dem Maßnahmenvollzug bei der vom BVwG angenommenen, aber nicht weiter geprüften Möglichkeit der Bereitstellung „entsprechender Strukturen“ durch ihren Ehemann gegeben oder auszuschließen sein wird, hat das BVwG jedoch - ausgehend von seiner unrichtigen Rechtsansicht, insoweit seien im vorliegenden Fall die Verhältnisse im Entscheidungszeitpunkt maßgeblich - nicht näher untersucht. Schon deshalb hat es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
12 Bei der Interessenabwägung ging das BVwG in tragender Weise davon aus, der Ehemann der Revisionswerberin könne sie für die Dauer des Aufenthaltsverbotes nach Rumänien begleiten, weil er - wie das BVwG (nur) wegen des Bezugs von Waisenpension seit dem Jahr 2015 annahm - in Österreich nicht beruflich verankert sei und nach der Aktenlage auch keine sonstigen Bindungen bestünden. Zu dieser Annahme hatte das BVwG - wie in der Revision zu Recht gerügt wird - kein Parteiengehör eingeräumt, weshalb sich die dagegen in Revision vorgetragenen gewichtigen Aspekte nicht als unzulässige Neuerungen darstellen. Vielmehr wird damit auch aufgezeigt, dass das BVwG insoweit nicht von einem im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärten Sachverhalt hätte ausgehen und von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen. Das gilt nach dem oben Gesagten freilich auch für die Gefährdungsprognose.
13 Angesichts dessen macht die Revision somit auch zu Recht geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht (vgl. aus der letzten Zeit etwa 16.7.2020, Ra 2020/21/0100, Rn. 11, mwN) abgewichen. Es hätte nämlich auch deshalb keinen geklärten Sachverhalt im Sinne der Bestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG, auf die das BVwG das Absehen von der Verhandlung gründete, unterstellen dürfen, weil dafür auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks, insbesondere von der Revisionswerberin, aber auch von ihrem Ehemann, notwendig gewesen wäre, und zwar sowohl im Hinblick auf die Gefährdungsprognose als auch im Hinblick auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Auch das wird in der Revision zutreffend releviert. Nur in einem - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt: hier nicht gegebenen - „eindeutigen Fall“ hätte nämlich die beantragte Verhandlung unterbleiben dürfen. Auch das hat das BVwG außer Acht gelassen.
14 Das angefochtene Erkenntnis war aber schon wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren, das in der genannten Verordnung keine Deckung hat, war abzuweisen.
16 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 29. September 2020
Schlagworte
Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210297.L00Im RIS seit
17.11.2020Zuletzt aktualisiert am
17.11.2020