TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/6 Ra 2020/19/0111

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Veröffentlicht am 06.10.2020
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Index

E3L E19103010
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
VwGG §42 Abs2 Z1
32011L0095 Status-RL Art16 Abs2
32011L0095 Status-RL Art19 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens, die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, Hofrätin Dr.in Lachmayer sowie Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des N S, in W, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2020, Zl. W168 1429152-2/5E, betreffend eine Angelegenheit nachdem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 4. April 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 14. November 2014 wurde dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Als Begründung führte das BVwG an, der Revisionswerber würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der schlechten Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz sowie in Ermangelung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in eine ausweglose Lebenssituation geraten. Der Revisionswerber habe keinen Kontakt zu seiner im Herkunftsstaat verbliebenen Familie oder einem sonstigen sozialen Netzwerk, weshalb ihm eine Niederlassung in einer der großen Städte Afghanistans nicht zumutbar sei. Der Revisionswerber habe in Afghanistan nie außerhalb seiner Herkunftsprovinz gelebt, weshalb nicht davon auszugehen sei, dass der Revisionswerber in einer größeren Stadt in Afghanistan ohne Familienanschluss oder soziales Netzwerk - unter Berücksichtigung seines Alters- und Entwicklungsstandes sowie seiner fehlenden Berufsausbildung - auf sich alleine gestellt in der Lage wäre, dort Fuß zu fassen und seine existenziellen Grundbedürfnisse zu decken, zumal er nicht von vornherein über die nötigen finanziellen Mittel für eine Ansiedelung in einer Stadt verfüge.

2        Die Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers wurde mehrmals, zuletztmit Bescheid vom 3. November 2017 bis zum 13. November 2019 verlängert. Am 27. September 2019 stellte der Revisionswerber erneut einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, der mit Bescheid vom 11. November 2019 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl abgewiesen wurde. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen festgelegt.

3        Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) aus, die allgemeine Lage in der Herkunftsprovinz sei zwar nach wie vor nicht ausreichend sicher, jedoch stehe dem Revisionswerber nunmehr eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat offen. Er sei jung, gesund, arbeitsfähig, habe eine Schulbildung und nunmehr Arbeitserfahrung gesammelt sowie an Bildung dazugewonnen; ein fehlender sozialer bzw. familiärer Rückhalt führe nicht zur Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative, zudem habe der Revisionswerber nunmehr Kontakt zu seiner Familie. Er habe zwischenzeitlich Schreiben und Lesen gelernt, was zum Ausdruck bringe, dass er eine Person mit rascher Auffassungsgabe sei und von seiner Flexibilität und Aufgeschlossenheit zeuge.

4        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis ab. Begründend führte es aus, der Revisionswerber befinde sich aufgrund seines nunmehrigen Lebensalters, der in Österreich erhaltenen Ausbildungen und insbesondere der gesammelten Berufserfahrung in der Baubranche aktuell nicht mehr in der persönlich gleichen bzw. gleich vulnerablen Lage wie im Zeitpunkt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes im November 2014. Die persönliche Situation des Revisionswerbers habe sich wesentlich und nachhaltig im Vergleich zum Zeitpunkt der Zuerkennung geändert, sodass ihm als jungem, gesunden und arbeitsfähigen Mann nunmehr eine Rückkehr nach Afghanistan - wenn auch nicht in seine Herkunftsprovinz, aber in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat - offenstehe. Insbesondere verfüge der Revisionswerber nach seinen eigenen Angaben nunmehr über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und stehe mit seinen Familienangehörigen durchgehend in Kontakt, sodass diese ihn zumindest in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr unterstützen könnten. Zudem könne er Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Eine besonders zu berücksichtigende, außerordentliche Integration liege - auch unter besonderer Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer - nicht vor. Die Ausweisung stelle keinen unzulässigen Eingriff in die besonders durch Art. 3 und 8 EMRK geschützten Rechte des Revisionswerbers dar.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, es würden Feststellungen betreffend die angenommenen nachhaltigen Änderungen fehlen bzw. ein Begründungsmangel vorliegen. Das BVwG habe insofern nicht nachvollziehbar begründet, inwiefern und wodurch sich der Sachverhalt wesentlich geändert haben soll, weil der Revisionswerber schon mit Arbeitserfahrung nach Österreich gekommen sei und immer angegeben habe, in Kontakt mit seiner Familie zu stehen, dieser sei zwischenzeitlich gelegentlich infolge der schlechten Netzqualität in Afghanistan unterbrochen gewesen. Eine Rückkehrhilfe sei nicht mehr verfügbar.

6        Das BVwG sei zudem von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach zur Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Zeitpunkt der letzten Verlängerung der mit der Erteilung des Schutzstatus verbundenen Aufenthaltsberechtigung heranzuziehen sei. Das BVwG habe im vorliegenden Fall davon abweichend jedoch durchgehend auf den Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz als Vergleichszeitpunkt abgestellt.

7        Weiters wird eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend gemacht, weil der Sachverhalt nicht ausreichend geklärt sei, und ein Abweichen von der Rechtsprechung zu Art 8 EMRK moniert.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

9        Die Revision ist zulässig und begründet.

10       Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzstatus (§ 8 Abs. 1 leg. cit.) nicht oder nicht mehr vorliegen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall Asyl 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153; 17.10.2019, Ro 2019/18/0005).Im gegenständlichen Fall hat das BVwG die Aberkennung des subsidiären Schutzes auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt.

11       Die Heranziehung dieses Tatbestands setzt voraus, dass sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) geändert hat (vgl. dazu etwa VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353, mwN).

12       Der Wegfall der Notwendigkeit, auf den Schutz eines anderen Staates angewiesen zu sein, kann sich dabei auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl in der Person des Fremden als auch in der in seinem Heimatland gegebenen Situation gelegen sind, darstellen (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0381, mwN).

13       Nicht jede Änderung des Sachverhalts rechtfertigt allerdings die Aberkennung des subsidiären Schutzes. Eine maßgebliche Änderung liegt unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben von Art. 19 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) vielmehr nur dann vor, wenn sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass ein Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht (vgl. VwGH 30.4.2020, Ra 2019/19/0309).

14       Das BVwG begründete die „gravierenden Änderungen“ in der individuellen Situation des Revisionswerbers damit, dass die telefonische Verbindung zu seinem familiären Netz im Herkunftsstaat wiederhergestellt worden sei und der Revisionswerber Deutschkenntnisse erlangt habe. Eine Entwicklung hin zu einer persönlichen Selbstständigkeit sei festzustellen. Damit sei ein kontinuierlicher Zugewinn an Berufserfahrung verbunden gewesen. Der Revisionswerber habe zudem Kontakte in Österreich geschlossen. Eine Einzelfallprüfung ergebe, dass der Revisionswerber im Vergleich zum Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in einer anderen Situation sei. Er sei älter, erfahrener und selbständiger und habe den Kontakt zu seinen Angehörigen wiederhergestellt, sowie diese im Iran besucht.

15       Aus der Begründung des BVwG ist ersichtlich, dass dieses von der unrichtigen Rechtsansicht ausging, die Änderung der Voraussetzungen im Sinn von § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 seien ausschließlich im Vergleich zu jenem Erkenntnis, mit dem dem Revisionswerber erstmals subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, zu beurteilen, während der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 3. November 2017 zu Unrecht keine Beachtung geschenkt wurde.

16       Das BVwG ließ vor allem außer Acht, dass dem Revisionswerber zuletzt mit Bescheid vom 3. November 2017 eine verlängerte Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde und das BFA in seinem Bescheid festgestellt hatte, dass der Revisionswerber bereits im Jahr 2016 seine Familie im Iran besucht habe, der Kontakt zur Familie des Revisionswerbers daher schon vor der letzten Verlängerung wiederhergestellt wurde.

17       Bezogen auf diese Begründung erweist sich schon die - nicht nur vom BFA, sondern auch vom BVwG zum Ausdruck gebrachte - Rechtsauffassung, es sei in der vorliegenden Konstellation ausschließlich auf jene Entscheidung abzustellen, mit der dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt bzw. erstmals eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten erteilt worden sei, aus den oben dargelegten Erwägungen als inhaltlich verfehlt (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353).

18       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch ausgesprochen, dass bei einer Beurteilung nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 nicht isoliert nur jene Sachverhaltsänderungen zu berücksichtigen sind, die zeitlich nach der zuletzt erfolgten Bewilligung der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung eingetreten sind, sondern es dürfen im Rahmen der bei der Beurteilung vorzunehmenden umfassenden Betrachtung bei Hinzutreten neuer Umstände alle für die Entscheidung maßgeblichen Elemente einbezogen werden, selbst wenn sie sich vor der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ereignet haben (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153).

19       Im Revisionsfall wurde vom BVwG nicht dargetan, dass seit der letzten Verlängerung maßgebliche Umstände hinzugetreten wären, die unter Berücksichtigung der davor eingetretenen Umstände eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigen würden. Allein durch die Tatsache, dass der Revisionswerber in den zwei Jahren seit der letzten Verlängerung noch älter, erfahrener und selbstständiger geworden ist, wird fallbezogen keine wesentliche Änderung der Umstände, die zu einer Neubeurteilung berechtigten, dargetan. Im Übrigen ist eine mangelnde Selbstständigkeit und Reife seitens des BVwG im damaligen Erkenntnis nicht festgestellt worden und damit auch nicht Grund für die damalige Zuerkennung gewesen.

20       Hinsichtlich der Wiederherstellung des Kontaktes zu den Familienangehörigen ist, wie die Revision zu Recht aufzeigt, anzumerken, dass nach den Feststellungen des BVwG die Kontaktaufnahme zur Familie bereits vor der letzten Verlängerung stattgefunden hat. Eine geänderte rechtliche Beurteilung, wonach jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männern eine innerstaatliche Fluchtalternative auch ohne soziales Netzwerk offenstehe, rechtfertigt aber nicht die Annahme einer wesentlichen Änderung der Umstände, weil es sich dabei um eine Änderung des Sachverhaltssubstrates handeln muss (vgl. - dort zu einer geänderten Beweiswürdigung - VwGH 29.1.2020, Ra 2019/18/0262).

21       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

22       Bei diesem Ergebnis war auf die in der Revision betreffend die Verletzung der Verhandlungspflicht geltend gemachte Frage nicht weiter einzugehen.

23       Der Kostenausspruch gründet auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190111.L01

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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