TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/6 Ra 2019/19/0462

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Veröffentlicht am 06.10.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens und den Hofrat Dr. Pürgy sowie die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des I M in W, vertreten durch Dr. Paul Schörghofer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottengasse 10/12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 2019, Zl. W201 2118015-2/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird hinsichtlich der Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und der Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 23. September 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit Bescheid vom 19. Oktober 2015 den Antrag auf Gewährung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 19. Oktober 2016. Als Begründung gab das BFA an, es sei absehbar, dass der Revisionswerber aufgrund seiner individuellen Situation, insbesondere der Tatsache, dass er unbegleitet und minderjährig sei, sowie aufgrund des fehlenden familiären (männlichen) Rückhalts in seinem Herkunftsland und der allgemeinen Lage in Afghanistan im Falle der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt werden könne. Aufgrund fehlender Bildung und Berufserfahrung sei im Falle einer Rückkehr nicht auszuschließen, dass die wirtschaftliche Existenz und dadurch auch das Leben und die Unversehrtheit des Revisionswerbers ernsthaft bedroht sei. Die Gefährdung sei für das gesamte Staatsgebiet Afghanistans gegeben.

2        Die Aufenthaltsbewilligung wurde auf Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom 7. September 2016 bis 19. Oktober 2018 verlängert.

3        Den folgenden Antrag des Revisionswerbers auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung vom 28. August 2018 wies das BFA mit Bescheid vom 15. Februar 2019 ab, es erkannte den Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, entzog die befristete Aufenthaltsberechtigung und erließ eine Rückkehrentscheidung. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

4        Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wurde mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen. Das BVwG führte aus, dass im Vergleich zum Zeitpunkt der Erlassung der vorhergehenden Bescheide der Revisionswerber die Volljährigkeit erreicht habe; er sei erfahrener, habe Berufserfahrung gewonnen und ergänzende Bildungsschritte unternommen. Die Heimatprovinz des Revisionswerbers zähle zwar zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, jedoch könne die sichere Erreichbarkeit der Provinz nicht sichergestellt werden, weshalb die Rückkehr dorthin nicht zumutbar sei. Er könne sich aber in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und dort eine Existenz aufbauen; diese Städte könne er auch in einer relativ sicheren Weise erreichen. Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei zu Recht erfolgt.

5        Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG unter anderem aus, im konkreten Fall liege die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich bei knapp fünf Jahren. Es seien jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine tatsächliche, fortgeschrittene Integration des Revisionswerbers hervorgekommen. Der durch seine Ausweisung allenfalls verursachte Eingriff in sein Recht auf Privat- oder Familienleben sei jedenfalls insofern im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, als das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das Interesse des Revisionswerbers an einem weiteren Verbleib in Österreich überwiege. Der Revisionswerber halte sich seit seiner Asylantragstellung 2014 im Bundesgebiet auf und habe nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts des Asylverfahrens verfügt. Er sei illegal nach Österreich eingereist und habe in weiterer Folge einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der sich als unberechtigt erwiesen habe. Der Revisionswerber habe Deutschkurse besucht und sei in der Lage, sich auf Deutsch zu verständigen. Er stehe kurz vor dem Abschluss der Pflichtschule, sei berufstätig und gehe in seiner Freizeit in den Fitnessclub. Der Revisionswerber verfüge über geringe Kenntnisse der österreichischen Geschichte, Kultur oder Politik. Er habe Kontakt mit österreichischen, türkischen und afghanischen Freunden. Es könne daher festgestellt werden, dass er integrative Maßnahmen im Bundesgebiet gesetzt habe. Die geschilderten Aktivitäten reichten jedoch nicht aus, um von einer Verankerung des Privatlebens im Bundesgebiet ausgehen zu können. Die Schutzwürdigkeit seines Privatlebens in Österreich sei zudem aufgrund des Umstandes, dass er seinen Aufenthalt auf einen im Ergebnis nicht berechtigten Asylantrag gestützt habe, nur in geringem Maße gegeben.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 AsylG 2005 abgewichen, indem es die Bestimmung dahingehend auslege, dass für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erforderlich sei, dass der drohende ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten verursacht werde oder von einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt ausgehe. Das BVwG verkenne zudem die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 1 AsylG 2005, indem es gänzlich außer Acht gelassen habe, dass eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung des Bescheides, mit welchem dem Revisionswerber ursprünglich subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei, nur bei erheblichen Änderungen des Sachverhaltes zulässig sei.Das BVwG habe sich nicht mit Beweisanträgen des Revisionswerbers auseinandergesetzt. Er habe im Beschwerdeschriftsatz vom 25. März 2019 mehrere Beweisanträge auf zeugenschaftliche Einvernahme von dem Revisionswerber nahestehender Personen zum Beweis für seine intensive soziale Integration gestellt. Das Erkenntnis erwähne diese Beweisanträge mit keinem Wort. Das Übergehen der genannten Beweisanträge stelle insofern einen relevanten Verfahrensmangel dar, als auf Basis der Zeugenaussagen festgestellt worden wäre, dass der Revisionswerber außergewöhnlich gut in die österreichische Gesellschaft integriert sei und seine sozialen Bindungen in Österreich hinsichtlich ihrer Intensität familiären Bindungen ähneln würden.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

8        Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu I.:

9        Bei der Beurteilung, ob im Fall einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt. Maßgeblich sind dabei etwa die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- und Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, sowie die Bindungen zum Heimatstaat (vgl. etwa VwGH 7.5.2020, Ra 2020/18/0125, mwN).

10       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (etwa VwGH 5.5.2020, Ra 2019/19/0460, mwN).

11       Das BVwG hat wesentliches Parteivorbringen begründungslos übergangen. Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde den Antrag gestellt, näher genannte Zeugen zu seiner Integration und zum Bestehen eines familienähnlichen Verhältnisses zu befragen. Das BVwG hat diese Zeugen weder befragt noch angegeben, wieso es eine solche Befragung für nicht relevant erachtet.

12       Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BVwG bei Auseinandersetzung mit den sozialen Bindungen des Revisionswerbers im Inland und unter Berücksichtigung aller für den Revisionswerber sprechenden Umstände bei seiner Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte kommen können.

13       Im Übrigen ist auch nicht nachvollziehbar, weshalb das BVwG mehrfach darauf verweist, dass der Revisionswerber nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts im Asylverfahren verfügt habe und aufgrund des Umstandes, dass er seinen Aufenthalt auf einen im Ergebnis nicht berechtigten Asylantrag gestützt habe, die Integrationsbemühungenmaßgeblich relativiert wären. Dem Revisionswerber wurde mit Bescheid des BFA vom 19. Oktober 2015 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die einmal verlängert wurde. Der Aufenthalt des Revisionswerbers im Inland war daher für den überwiegenden Zeitraum rechtmäßig und stützte sich nicht auf einen letztlich unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz. Die Annahme des BVwG, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens sei durch den unrechtmäßigen Aufenthalt nur als gering anzusehen, erweist sich daher als nicht tragfähig.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Zu II.:

16       Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) nicht oder nicht mehr vorliegen.

17       Die wesentlichen Gründe für die ursprüngliche Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Revisionswerber waren seine Minderjährigkeit, eine mangelnde Bildung und Berufserfahrung sowie der fehlende familiäre (männliche) Rückhalt im Herkunftsland in Kombination mit der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan.

18       Die Beurteilung des BVwG, dass der Revisionswerber angesichts seiner nunmehrigen Volljährigkeit, der hinzugewonnenen Lebens- und Berufserfahrung und bedingten Selbsterhaltungsfähigkeit nicht mehr in derselben Situation sei, die in den Vorbescheiden für ihn angenommen wurde, nämlich dass er im Fall der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Kombination aus der schlechten Sicherheitslage in Verbindung mit seinem unmündigen Alter und der fehlenden Möglichkeiten am Arbeitsmarkt in eine mit unmenschlicher Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichzusetzende Lage geriete, erweist sich als nicht unvertretbar (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153).

19       Das BVwG hat zwar die Rechtslage verkannt, wenn es ausführt, dass § 8 Abs. 1 AsylG 2005 unionsrechtskonform einschränkend so auszulegen sei, dass diese Bestimmung nur in jenen Fällen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorsehe, in denen der ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht werde oder von einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt ausgehe (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006). Das BVwG stützt sich in seiner rechtlichen Beurteilung allerdings nicht darauf, dass die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus diesem Grund nicht mehr vorliegen würden. Das BVwG prüft vielmehr gesamthaft das Vorliegen einer drohenden Art. 3 EMRK-widrigen Behandlung des Revisionswerbers und die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und kommt vertretbar zu der Beurteilung, dass dem Revisionswerber eine Ansiedelung in Mazar-e Sharif möglich und zumutbar ist.

20       Im Hinblick auf die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten werden daher keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen grundsätzliche Bedeutung zukommt.

21       Die Revision war daher insoweit zurückzuweisen.

Wien, am 6. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190462.L01

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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