TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/27 W111 2219882-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.07.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z3
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W111 2219882-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.05.2019, Zl. 733737204/180966805, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz des Spruchpunktes I. sowie der Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides, wie folgt zu lauten haben:

„I. Der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 14.09.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 und Z 4 AsylG 2005 aberkannt.

VI. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19- Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen.“

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid vom 14.09.2007 wurde dem Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers vom 05.12.2003 stattgegeben und im Rahmen des Familienverfahrens bezogen auf seinen Vater der Status des Asylberechtigten zugesprochen.

2. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs. 2 StGB, des Verbrechens der kriminellen Organisation nach § 278a StGB sowie des Vergehens der Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten nach § 282a Abs. 1, Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 21 Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von 14 Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

3. Infolge der rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Aktenvermerk vom 11.04.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus ein.

Am 11.04.2019 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers in deutscher Sprache vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Detail vgl. Verwaltungsakt, Seiten 147 bis 157).

Aus dieser ergibt sich zusammengefasst, dass er auf die Frage, welche Befürchtungen er aktuell für den Fall einer Rückkehr in sein Heimatland habe, sinngemäß antwortete, sehr schlimme; er sei wegen § 278 StGB verurteilt worden. In Tschetschenien würde man ihn deswegen umbringen. Er fügte noch hinzu, dass seine Familie auch „große Probleme“ bekommen würde. Zu seinen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in einen anderen Teil seines Heimatlandes gab er an, er könne kein Russisch, Tschetschenisch könne er auch nicht so gut.

Angesprochen auf seine Vorstrafe, warum er dies gemacht habe, gab er an, dass er dies wegen der Aufmerksamkeit gemacht habe, er habe dazu gehören wollen; das sei dumm gewesen.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 13.05.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchpunkt I. der ihm mit Bescheid vom 14.09.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 3 Z 6 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.).

5. Mit am 05.06.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Begründend wurde zur Asylaberkennung zusammengefasst ausgeführt, dass die belangte Behörde argumentiere, dass § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 schlagend geworden sei. Das liege im vorliegenden Fall jedoch nicht vor. Die Behörde hätte aufgrund der Offizialmaxime den Beschwerdeführer zu ihrer Beweiswürdigung auf Seite 69 f Stellung nehmen lassen müssen. Im Übrigen würde ein Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG 2005 nicht vorliegen. Zum subsidiären Schutz wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien der Gefahr ausgesetzt sei, von den Sicherheitskräften verhaftet, gefoltert und entführt zu werden. Der Beschwerdeführ würde daher Gefahr laufen, einer Verletzung von Art 2, Art 3 EMRK oder der ZP Nr. 6 oder Nr. 13 der Konvention ausgesetzt zu sein. Zu einem Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK wurde ausgeführt, dass die Tat des Beschwerdeführers nicht als besonders schwerwiegend angesehen werden könne. Außerdem müsse die Reue des Beschwerdeführers berücksichtigt werden. Der Beschwerdeführer verfüge über keinerlei Bindungen zum Heimatstaat, da er mit 4,5 Jahren nach Österreich geflohen sei und er seine Muttersprache nicht gut beherrsche. Die Behörde gehe davon aus, dass seine familiären Kontakte im Heimatstaat ihn bei einer Rückkehr unterstützen könnten. Dazu müsse angeführt werden, dass er keinen Kontakt zu ihnen habe. Der Beschwerdeführer lebe mit seiner Familie in Österreich, zu der er eine besonders enge Beziehung genieße. Er sei in Österreich in der Schule gewesen, habe hier gearbeitet und soziale Kontakte geknüpft. Im Übrigen spreche er Deutsch auf Muttersprachenniveau. Zum Einreiseverbot führte er aus, dass das Ermittlungsverfahren nur mangelhaft durchführt worden sei und die Entscheidung nicht bzw. nur unzureichend begründet worden sei. Es sei auf die Zukunftsprognose des Beschwerdeführers abzustellen. Der Beschwerdeführer bereue seine Tat und siehe das Unrecht seiner Handlung ein. Ihm sei bewusst, dass er durch das Teilen von Propagandavideos und –liedern des IS in einschlägigen Gruppen eine schwerwiegende Straftat begangen habe. Nun sei ihm bewusst, dass der IS keine moralisch zu rechtfertigende Aktionen tätige und dass es sich bei dieser Gruppierung um eine terroristische Vereinigung handle. Der Beschwerdeführer habe sich voll und ganz von den Idealen des IS distanziert.

6. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.06.2019 langte am 11.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Mit hg. Schreiben vom 22.05.2020 (zugestellt am 26.05.2020) wurde dem Beschwerdeführer im Rahmen des Parteiengehörs aktualisiertes Länderberichtsmaterial (Gesamtaktualisierung am 27.03.2020) zur Lage in seinem Herkunftsstaat übermittelt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer diesbezüglichen Stellungnahme binnen zweiwöchiger Frist eingeräumt.

8. Mit am 08.06.2020 per Fax eingelangtem Schreiben teilte der Beschwerdeführer im Wesentlichen mit, dass er weder Freunde noch Verwandte in Tschetschenien oder Russland habe. Er beherrsche nur sehr schlecht Tschetschenisch und könne kein Russisch. Da er wegen § 287 StGB verurteilt worden sei, wäre es für ihn ein Todesurteil falls er nach Tschetschenien abgeschoben werden würde, da er dort wie zahllose andere Tschetschenen verschleppt und umgebracht werden würde. Wie in der Länderinformation genau geschildert werde, würden unterschiedliche Gruppen in Tschetschenien verfolgt werden, wie zum Beispiel politisch Andersdenkende, Homosexuelle und vor allem Sunniten, zu denen er gehören würde. Falls er abgeschoben werden würde, würden ihn nur Demütigungen und Folter erwarten. Er habe nach seiner Verurteilung keine weiteren Straftaten begangen und aus seinen Fehlern gelernt. Er glaube nicht, dass er für den Staat Österreich eine Gefahr darstelle.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der damals minderjährige Beschwerdeführer stellte am 05.12.2003 einen Antrag auf Asylerstreckung, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.09.2007 zu Zahl 03 37.372-BAT stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung (bezogen auf das Verfahren seines Vaters) Asyl in Österreich gewährt wurde.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden. Dem Beschwerdeführer droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung wegen seiner Verurteilung auf Grund der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und kriminellen Organisation.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Kleinkindalter verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Dem Beschwerdeführer droht auch keine Verfolgung bei der Wiedereinreise in die Russische Föderation. Dieser hat Verwandte im Herkunftsstaat, zu denen er den Kontakt mithilfe seiner Eltern in Österreich herstellen könnte, sodass er bei einer Rückkehr im Bedarfsfall auf ein verwandtschaftliches Netz zurückgreifen könnte. Durch diese Verwandte kann er zudem anfängliche Unterstützung bei einer Eingliederung im Herkunftsstaat erfahren.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung gemäß § 278b Abs. 2 StGB, des Verbrechens der kriminellen Organisation gemäß § 278a StGB, des Vergehens der Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten gemäß § 282a Abs. 1, Abs. 2 unter Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB, §§ 19 Abs. 1 iVm 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 21 Monaten verurteilt, von welcher ein Teil in der Dauer von 14 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der Beschwerdeführer wurde mit dem angeführten Urteil für schuldig befunden,

in XXXX

A./ seit einem nicht näher festzustellenden Zeitpunkt Anfang des Jahres 2017 bis zu seiner Festnahme am 23.10.2018 sich als Mitglied (§ 278 Abs 3 StGB) an einer terroristischen Vereinigung (§ 278b Abs 3 StGB), nämlich der in der UN-Sanktionsliste (Quelle: UNSanktionslisten, www.un.org, Punkt QDe.115) aufscheinenden Terrororganisation IS-lslamic State, die aus der seit zumindest 2004 bestehenden Terrororganisation „AI Qaida im Irak“ hervorging und darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern dieser Vereinigung eine oder mehrere terroristische Straftaten (§ 278c StGB) ausgeführt werden oder Terrorismusfinanzierung (§ 278d StGB) betrieben wird, beteiligt, wobei er im Wissen (§ 5 Abs 3 StGB) handelte, durch seine Beteiligung die Vereinigung IS-lslamic State oder deren strafbare Handlungen zu fördern, indem er in nachbezeichneten Einzel- und Gruppenchats den IS, dessen Kämpfer, dessen terroristische Straftaten verherrlichende und zur Begehung von Anschlägen aufrufender IS-Propagandamaterial, insbesondere IS-Kampfnasheeds verschickte, er sich dadurch als Anhänger des IS deklarierte und die anderen Chatteilnehmer für die terroristische Vereinigung IS-lslamic State anzuwerben beziehungsweise jene, die mit dem IS bereits sympathisierten, in ihrem Entschluss, diesen zu unterstützen, zu bestärken beabsichtigte, und zwar

I./ indem er als aktives Mitglied des ca. 30 Personen umfassenden Telegram - Chats „ XXXX “ (~ „Islamische Provinz in XXXX “) IS-Kampfnasheeds und IS- Propagandavideos übermittelte,

- am 3.12.2017 um 1:36 Uhr, eine Videodatei und zwar einen deutschsprachigen Nasheed ( XXXX ) der „ XXXX in der Länge von 8 Minuten 40 Sekunden, wobei es sich bei dem Sprecher, XXXX , um einen deutschen Staatsangehörigen handelt, der sich dem IS angeschlossen hat und nicht bestätigten Medienquellen zur Folge in Syrien getötet wurde, wobei der Beitrag folgende, auszugsweise dargestellten Passagen aufweist (AS 49 in ON 2; AS 1 in ON 6):

„[...] es wurde klar für mich, dass ich mich dem einzigen Staat der kompromisslos für Allah zur Erhöhungen seines Wortes über alles Menschen gemachte kämpft anschließen musste und zwar dem Islamischen Staat. Ich bin XXXX jetzt bin ich im Land der Khalafa regiert durch das Gesetz Allahs;

[...] Das Ziel des Jihad ist es Allahs Autorität auf dieser Erde auszuweiten. Darum schütze die Frontlinien dieses Staates, der mit dem Buch Allahs und der Sunnah unseres Gesandten regiert wird. Das ist eine Pflicht für jeden Muslim;

[...] Einem Staat der während eines Jahrhunderts der Aufopferung und des Jihads errichtet wurde. So opfert euer Blut für sein Fortbestehen, sowie das Blut das Vergossen wurde zu seiner Errichtung. Und hier sind sie eure Brüder in Deutschland, in Frankreich, in Brüssel und in Orlando, die ihren Imam durch ihre Taten bezeugt haben. Diese Menschen eilten zur Tat. So nimm sie dir zum Beispiel und zur Hilfe für deine Religion, wobei der Beitrag zweimal durch einen deutschsprachigen Kampf-Nasheed unterbrochen wird, welcher mit Bildern aus dem IS Gebiet unterlegt ist, und zwar mit Folgenden Inhalt:

„Der Islamische Staat eine Gabe von XXXX wir alle schwören ihm die Treue zu dem Staat.“

- am 3.12.2017 um 13:44 Uhr eine Videodatei, und zwar einen von XXXX alias XXXX alias XXXX verfassten deutschsprachigen Kampf-Nasheed ( XXXX ) in der Länge von 1 Minute 43 Sekunden, mit folgendem Inhalt (AS 67 in ON 2; AS 7 in ON 6): „Wacht doch auf, wacht doch auf, Krieg überall auf der Welt, Muslime fallen für Öl und Geld, Allahhuakbar, Allahhuakbar, Bomben fallen, Bomben fallen, auf Irak und Filestin sie zerstören unsren Dien, Allahuakbar, Allahhuakbar, Mütter schrein, Kindern weinen, fisalibillah Jihad warum bleiben unsere Herzen hart Allahhuakbar, Allahhuakbar, macht Dua, macht Dua für die Brüder in Tschetschn, wie könnt ihr ruhig schlafen gehen, Allahhuakbar, Allahhuakbar, keine Angst, keine Angst, kehrt zurück subahnallah keine Angst vor den Kuffar, Allahhuakbar, Allahhuakbar, Mudjaheed, Mudjaheed, Sharia Somalia, laiillahallahla, Allahhuakbar, Allahhuakbar, Wandert aus, wandert aus, Usbekistan, Afghanistan wir kämpfen in Korasahn, Allahhuakbar, Allahhuakbar, Inshallah, Inshallah wir kämpfen, fallen suhahda dem Feind im Auge bismillah, Allahhuakbar, Allahhuakbar“,

II./ indem er im Zuge von nachbezeichneten Telegram beziehungsweise WhatsApp ChatKonversationen

- im Zeitraum von 29.9.2017 bis 16.4.2018 einer unbekannt gebliebenen Person mit dem Chatnamen „ XXXX “ drei Links zu Telegram „ XXXX “1, in welchen laufend IS-Nasheeds geteilt wurden sowie einen deutschsprachigen IS-Kampfnasheed eines unbekannt gebliebenen Sprechers mit dem Titel „Wir erobern die Welt“ mit folgendem auszugsweise dargestellten Inhalt, übermittelte (AS 7 in ON 27):

„Wir erobern erobern die ganze Welt, illahillahillahalah, keiner kann uns aufhalten außer Allah, überall die schwarzen Flaggen von Rasulallah [...] Ja XXXX du bist auserwählt, dich fürchtet die ganze Welt, überall zittern die Kuffar, opferst dein Leben nur für Allah, [...] Wir brauchen keine Hilfe USA, wir haben den Herrscher, Herrscher Allah, in der Schlacht mit Kalaschnika bismillah, kämpfen für den Islam fisbiillah, kämpfen für den Islam fisabiilah. [...]“

- im Zeitraum von 28.8.2017 bis 30.8.2018 dem abgesondert verfolgten XXXX wiederholt IS-Kampfnasheeds, IS-Hinrichtungsvideos sowie folgende Nachricht in türkischer Sprache übermittelte: „In islamischa Staat ist besser (khayr) für dich wenn du scharf hirte bist anstatt in XXXX ein mann der anerkannt ist (gehorsam zu dem person)“ (AS 8, 19ff in ON 27), 

- am 29.10.2018 einer unbekannt gebliebenen Person mit dem Chatnamen „ XXXX “ zumindest 18 IS-Kampfnasheeds übermittelte (AS 11 in ON 27),

B./ durch die unter Punkt A./ näher bezeichneten Handlungen sich an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen, nämlich der international agierenden terroristischen Vereinigung IS-lslamic State, als Mitglied in dem Wissen beteiligt (§ 278 Abs 3 StGB), dass er dadurch die Vereinigung in ihrem Ziel, im Irak, in Syrien, im Libanon, in Jordanien und in Palästina einen radikalislamischen Gottesstaat (Kalifat) zu errichten, und deren terroristische Straftaten nach § 278c Abs 1 StGB zur Erreichung dieses Ziels förderte, wobei diese Vereinigung, wenn auch nicht ausschließlich, auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, sowie schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich der sexuellen Ausbeutung von Menschen, der Schlepperei oder des unerlaubten Verkehrs mit Kampfmitteln, insbesondere dem tatsächlichen kriegerischen Einsatz erlangter Waffen, ausgerichtet ist, indem sie seit Sommer 2011 insbesondere in Syrien und im Irak unter Anwendung besonderer Grausamkeit durch terroristische Straftaten nach § 278c Abs 1 StGB die Zerstörung des syrischer und irakischen Staates betreibt, in den eroberten Gebieten in Syrien und im Irak die sich nicht ihren Zielen unterordnende Zivilbevölkerung tötet und vertreibt, sich deren Vermögen aneignet, durch Geiselnahme große Geldsummen erpresst, die vorgefundenen Kunstschätze veräußert und Bodenschätze, insbesondere Erdöl und Phosphat, zu ihrer Bereicherung ausbeutet, die durch all diese Straftaten eine Bereicherung im großen Umfang anstrebt und Dritte durch angedrohte und ausgeführte Terroranschläge insbesondere in Syrien und im Irak, aber auch in Europa, einschüchtert und sich auf besondere Weise, nämlich durch Geheimhaltung ihres Aufbaues, ihrer Finanzstruktur, der personellen Zusammensetzung der Organisation und der internen Kommunikation, gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abschirmt,

C. am 3.12.2017 um 1:37 Uhr, unmittelbar nach Begehung der unter Pkt A.I/ beschriebenen Tathandlung, die terroristische Organisation IS-lslamic State und deren terroristische Straftaten (§ 278c Abs 1 Z 1 bis 9 oder 10 StGB) auf eine Weise, dass es vielen Menschen, zumindest den anderen 30 Chatteilnehmern, zugänglich war, gutgeheißen, die geeignet war, die Gefahr der Begehung einer oder mehrerer solcher Straftaten herbeizuführen, indem er nach Übermittlung des deutschsprachigen Nasheeds mit der Nummer XXXX , im Gruppenchat weitere drei Nachrichten versendete, um den Nasheed XXXX auf diese Weise wie folgt zu kommentieren (AS 49 in ON 2):

„Schaut an in sha Allah (~ „so Gott will“)

Auf deutsch,

Sehr gut“.

Bei der Strafzumessung als mildernd berücksichtigte das Strafgericht den bisherigen ordentlichen Lebenswandel, das umfassende und reumütige Geständnis und das Alter unter 21 Jahren sowie als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen.

Mit rechtskräftigem Urteil vom 13.01.2020 des Landesgerichtes XXXX , Zahl XXXX , wurde wegen § 107 (1) StGB eine Freiheitsstrafe 1 Monat, bedingt, Probezeit 3 Jahre, als Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes XXXX , XXXX , verhängt.

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers würde eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen, zumal auf Grundlage seines bisher gesetzten Verhaltens die Gefahr der neuerlichen Begehung terroristischer Straftaten zu prognostizieren ist. Ein Wegfall der von seiner Person ausgehenden Gefährdung kann zum Entscheidungszeitpunkt nicht prognostiziert werden.

1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. In Österreich lebt seine asylberechtigte Familie, mit der er im gemeinsamen Haushalt lebt, zu der jedoch darüber hinaus kein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis vorliegt. Der Beschwerdeführer ist im Jahr 2003 nach Österreich eingereist, hat im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht die Pflichtschule absolviert und die deutsche Sprache erlernt. Er hat zwar eine Kochlehre und eine Schlosserlehre begonnen, diese aber nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer arbeitete in Österreich; er hat in einem Lager gearbeitet. Er war in Österreich kein Mitglied in einem Verein. Der Beschwerdeführer war in Österreich in Haft.

1.5. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers (Russische Föderation respektive Tschetschenien) wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.03.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 10.3.2020

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 6.3.2020

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten