Entscheidungsdatum
27.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W111 2151753-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2017, Zl. 1045720210-140188595, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.06.2020 zu Recht:
A) I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. erster Satz des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. zweiter Satz des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF bis zum 31.12.2020 vorübergehend unzulässig ist. Spruchpunkt III. letzter Satz und Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsbürgerin der Russischen Föderation, stellte am 19.11.2014 den vorliegenden Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes, nachdem sie zuvor illegal ins Bundesgebiet eingereist war. Anlässlich ihrer am gleichen Tag abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Beschwerdeführerin an, sie gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an, bekenne sich zum islamischen Glauben und habe sich vor etwa zwei bis drei Monaten zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat entschlossen. In Tschetschenien würden noch zwei Brüder der Beschwerdeführerin leben. Diese sei rund neun Tage zuvor von Tschetschenien mit dem Zug nach Moskau gereist und habe sich dort einige Tage lang bei einem Cousin aufgehalten, welcher den Kontakt zu einem Schlepper hergestellt hätte. Der Schlepper habe sie zusammen mit zwei weiteren Frauen über eine unbekannte Route nach Österreich gefahren.
Zum Grund ihrer Flucht führte sie aus, ihr sei im Jahr 2006 vom tschetschenischen Militär ihre Wohnung in XXXX weggenommen worden. Sie sei praktisch auf die Straße gesetzt worden und habe seither bei verschiedenen Verwandten gelebt. Eine eigene Wohnung habe sie sich nicht leisten können, da sie nach jahrelanger Arbeit auf Baustellen an Brustkrebs erkrankt sei. Ferner seien zwei ihrer Brüder in den Jahren 2001 und 2008 von unbekannten Personen getötet worden. Vermutlich bestünde ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Morden und dem Verlust der Wohnung der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin sei aus den angeführten Gründen nach Österreich geflüchtet; diese sei schwer krank, nicht mehr arbeitsfähig, benötige medizinische Hilfe und habe keine eigene Unterkunft mehr. Auch habe sie mehrere Verwandte in Österreich. Zu ihren Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr führte sie aus, sie benötige medizinische Hilfe, ohne die sie nicht überleben würde, welche in ihrer Heimat nicht gewährleistet sei.
Am 28.06.2016 wurde die Beschwerdeführerin im zugelassenen Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Die Beschwerdeführerin gab auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst zu Protokoll (zum detaillierten Verlauf ihrer Befragung vgl. Verwaltungsakt, Seiten 35 bis 38), sie fühle sich physisch und psychisch zur Durchführung der Einvernahme in der Lage. Sie habe sowohl einen russischen Auslands- als auch einen Inlandspass besessen, welche auf der Flucht nach Österreich abhandengekommen wären. Zu ihren bisherigen Lebensumständen in Österreich führte die Beschwerdeführerin aus, sie sei gesundheitlich eingeschränkt und verspüre immer wieder Schmerzen in den Beinen. Sie verbringe den Tag hauptsächlich in der Wohnung, kleinere Hausarbeiten könne sie erledigen. Seit etwa zwei Monaten lebe sie in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Nichte und deren Tochter. Weiters würden eine zweite Nichte sowie ein Sohn ihres im Jahr 2008 verstorbenen Bruders in Österreich leben. Sonstige Verwandtschaften oder Bekanntschaften bestünden im Bundesgebiet nicht. Innerhalb der Familie würden sie die tschetschenische Sprache gebrauchen, die Beschwerdeführerin beherrsche kein Wort Deutsch. Die Beschwerdeführerin leide an Kurzatmigkeit und hohem Blutdruck. Eine Zeit lang sei sie zudem wegen hohen Zuckers behandelt worden. Gegenwärtig nehme sie ein Blutdruckmedikament und Tabletten gegen Gelenksschmerzen ein. Ihr Hauptproblem sei, dass sie nur sehr schwer und unter Schmerzen gehen könne. Sie habe starke Gelenksarthrose an beiden Knien und solle an beiden Knien operiert werden. Die in der Erstbefragung erwähnte Brustkrebserkrankung sei im Jahr 2006 erfolgreich operativ behandelt worden.
Zu ihren Lebensverhältnissen in Tschetschenien schilderte die Beschwerdeführerin, sie habe nach dem Tod ihres Gatten im Jahr 1999 eine Wohnung bekommen, in welcher sie bis etwa 2006 gewohnt hätte. In Tschetschenien würde Gesetzlosigkeit herrschen, unter der insbesondere die Schwachen, zu denen die Beschwerdeführerin als alleinstehende Frau gehört hätte, zu leiden hätten. Man habe einfach Druck auf sie ausgeübt und ihr die Wohnung weggenommen. Ihren Brüdern hätte sie gesagt, dass sie die Wohnung verkauft hätte, um weitere Probleme zu vermeiden. Im Anschluss hätte sie bis zu ihrer Ausreise abwechselnd bei ihren Geschwistern gewohnt. Sie habe immer für sich selbst gesorgt, habe meist auf Baustellen gearbeitet und auch nach ihrer Krebserkrankung die Arbeit auf der Baustelle wieder aufgenommen. Dadurch habe sie ihre grundlegenden Bedürfnisse abdecken können. Zuletzt hätte ihr ihre angeschlagene Gesundheit, insbesondre die kaputten Gelenke, eine weitere Arbeit verunmöglicht, sodass sie Ende des Jahres 2012 gekündigt hätte. Sie habe Anspruch auf Rente gehabt und diese auch, in Höhe von etwa EUR 110,- monatlich, bezogen. Über Vorhalt, dass sie etwa zwei Jahre lang in Rente gewesen wäre und bei Geschwistern gelebt hätte und gefragt, was sie nunmehr zum Verlassen ihres Heimatlandes veranlasst hätte, führte die Beschwerdeführerin aus, der einzige Grund für das Verlassen Tschetscheniens sei ihre angeschlagene Gesundheit und der Umstand, dass sie sich in Tschetschenien keine adäquate medizinische Versorgung habe leisten können. Hier werde sie bestens versorgt und sei sehr dankbar dafür. Auf die Frage, ob es für sie vorstellbar wäre, im Anschluss an die Knieoperation wieder nach Tschetschenien zurückzukehren, erklärte die Beschwerdeführerin, wenn sie wieder einigermaßen gehen könnte, würde einer Rückkehr nichts im Wege stehen; sie könnte problemlos wieder bei ihren Geschwistern leben. Den neuerlichen Bezug ihrer Pension müsste sie in die Wege leiten. Drohungen oder gar Verfolgung nach ihrer Rückkehr habe sie nicht zu befürchten. Zu den ihr zur Kenntnis gebrachten Länderberichten zur Russischen Föderation hielt die Beschwerdeführerin fest, die Krankenversorgung in Tschetschenien sei mit jener in Österreich in keinster Weise vergleichbar.
Am 01.02.2017 fand eine ergänzende Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdendwesen und Asyl statt (vgl. Verwaltungsakt, Seiten 213 ff), anlässlich derer die Beschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand anführte, die in der letzten Einvernahme erwähnte geplante Knieoperation sei bislang immer wieder aufgeschoben worden, da die Beschwerdeführerin nicht operationstauglich gewesen sei. Zuerst hätte es vor allem an ihrem starken Übergewicht gelegen, dann sei auch noch eine Herzschwäche festgestellt worden, die näher abgeklärt werden solle. Darüber hinaus habe sich an ihrer persönlichen Situation seit dem Zeitpunkt der letzten Einvernahme keine Änderung ergeben.
Die Beschwerdeführerin legte einen ärztlichen Entlassungsbrief vom 21.12.2016 vor, aus dem sich die Diagnosen „ieL. rechtsatriale Tachykardie R00.0, ieL. viraler Infekt, arterielle Hypertonie I10, Diabetes mellitus Typ 2, diätisch, E11.9, alimentäre Adipositas E66.0 sowie St.p. Mammakarzinom re“, sowie eine Zuweisung zu einem 24-Stunden-EKG und Belastungs-Ergometrie entnehmen lassen. Weiters wurde ein Verordnungsblatt über die aktuelle Medikation der Beschwerdeführerin in Vorlage gebracht.
Einem Aktenvermerk des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2017 lässt sich entnehmen, dass eine nach Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht erfolgte telefonische Rücksprache mit dem Hausarzt der Beschwerdeführerin ergeben hätte, dass die ursprünglich anberaumte Knieoperation aufgrund des starken Übergewichts der Beschwerdeführerin nicht durchgeführt hätte werden können und konventionelle Abnehmmethoden bislang keinen Erfolg gezeigt hätten. Derzeit stehe daher die Implantierung eines Magenbandes im Raum, in einem zweiten Schritt könnte die Knieoperation erfolgen. Die Frage, ob eine Nichtdurchführung der beiden Operationen zu einem lebensbedrohenden Zustand der Beschwerdeführerin führen könnte, sei vom Hausarzt dezidiert verneint worden. Auch die bestehende Medikation mit Standardpräparaten sei als notorisch anzusehen. Eine durch einen Zufallsbefund entdeckte Herzschwäche befinde sich im Stadium der Abklärung.
Einem weiteren Aktenvermerk vom 16.03.2017 lässt sich entnehmen, dass eine abermalige telefonische Rücksprache mit dem Hausarzt der Beschwerdeführerin ergeben hätte, dass aus dem durchgeführten 24-Stunden- und Belastungs-EKG keine behandlungsnotwendigen Auffälligkeiten ersichtlich geworden wären.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.03.2017 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Die Behörde stellte die Staatsbürgerschaft, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit, nicht jedoch die präzise Identität der Beschwerdeführerin fest und legte ihrer Entscheidung Feststellungen zur aktuellen Situation in deren Herkunftsstaat zu Grunde. In der Entscheidungsbegründung wurde sodann ausgeführt, eine reale Gefahr, dass die Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat aufgrund ihres derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand geraten würde, bestehe nicht und die vorliegenden Erkrankungen würden kein Hindernis für eine Rückkehr in den Herkunftsstaat begründen. Die Beschwerdeführerin habe keine Verfolgung durch den Staat oder Dritte geltend gemacht und ihre Ausreisemotivation ausschließlich auf ihren Wunsch nach bestmöglicher medizinischer Versorgung gestützt. Diese habe deutlich gemacht, dass sie im Anschluss an die in Österreich anstehenden Operationen wieder zu ihren Geschwistern nach Tschetschenien zurückkehren wolle. Ein asylrelevanter Sachverhalt liege demnach nicht vor. Auch habe sich kein Grund für die Gewährung subsidiären Schutzes ergeben, zumal es der Beschwerdeführerin, wie bereits vor der Ausreise, möglich sein werde, nach einer Rückkehr im Familienverband zu leben und eine Rente zu beziehen. Ihre Existenz werde daher wie bereits in der Vergangenheit gesichert sein. Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin stehe einer Rückkehr ebenfalls nicht entgegen. Ihre aktuelle Medikation reduziere sich auf Standardpräparate zur (altersbedingten) Unterstützung des Herzkreislaufsystems und sonstiger, auch aus ihrem starken Übergewicht resultierenden, Beschwerden. Den Länderinformationen zum Herkunftsstaat lasse sich entnehmen, dass eine ausreichende Basisversorgung der Beschwerden durch die medizinischen Einrichtungen im Herkunftsstaat gegeben und der Beschwerdeführerin auch zugänglich sei. Nach Einschätzung ihres behandelnden Arztes sei der gegenwärtige Zustand der Beschwerdeführerin nicht als lebensbedrohlich zu qualifizieren und würde durch eine Außerlandesbringung keine zwingende Verschlechterung erfahren.
Die Beschwerdeführerin habe im Bundesgebiet zum Aufenthalt berechtigte Angehörige. Die Beschwerdeführerin lebe in einem gemeinsamen Haushalt mit einer Nichte, doch erreiche die Bindung keine solche Exzpetionalität, welche eine Rückkehrentscheidung als Verstoß gegen Art. 8 EMRK erscheinen ließe. Zu der weiters aufhältigen Nichte und ihrem Neffen ginge der Kontakt nicht über normale verwandtschaftliche Besuche hinaus. Die Beschwerdeführerin habe während ihrer bisherigen Aufenthaltsdauer keinerlei Integration erlangt, beherrsche die deutsche Sprache nicht einmal grundlegend und habe außerhalb des Kreises ihrer Verwandten keine Kontakte zu in Österreich aufhältigen Personen geknüpft. Der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung erweise sich daher angesichts der überwiegenden öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung als gerechtfertigt.
3. Mit Eingabe vom 29.03.2017 wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben, in welcher der dargestellte Bescheid vollumfänglich angefochten wurde. Begründend wurde zusammenfassend ausgeführt, die Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen der Beschwerdeführerin einzugehen und eine Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren herkunftslandspezifischen Informationen vorzunehmen. Seit etwa fünf Jahren leide die Beschwerdeführerin an massivem Übergewicht und könne trotz entsprechender Bemühungen nicht abnehmen. Eine Magenbypassoperation sei ihr in Österreich empfohlen worden. Die Beschwerdeführerin leide an starken Schmerzen in beiden Knien, könne nur schlecht gehen und stehen und es bestehe zudem ein hoher Blutdruck. Der aktuelle Gesundheitszustand und die notwendigen Behandlungsmöglichkeiten seien nicht ermittelt worden. Es sei als notorisch zu erachten, dass aufwändige medizinische Behandlungen im Herkunftsstaat erst nach faktischen Zuzahlungen durch die Patienten vorgenommen würden. Aus diesem Grund sei zu erwarten, dass die Beschwerdeführerin im Fall einer Abschiebung in die Russische Föderation unzureichenden Zugang zur benötigten medizinischen Behandlung haben werde, sodass es wahrscheinlich sei, dass die Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr in eine aussichtslose Lage geraten werde, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSd Art. 3 EMRK darstelle.
4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 31.03.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Eingabe vom 11.04.2017 übermittelte die Beschwerdeführerin ein Konvolut an ärztlichen Unterlagen, aus denen sich insbesondere ergibt, dass die Durchführung einer Magen-Bypass-Operation im Dezember 2017 geplant sei.
Mit Eingaben vom 12.03.2020 und vom 18.05.2020 übermittelte die bevollmächtigte Vertreterin der Beschwerdeführerin ein Konvolut an ärztlichen Unterlagen, welchem sich im Wesentlichen entnehmen lässt, dass die Beschwerdeführerin gegenwärtig wegen der Diagnose eines Mammakarzinoms im Bundesgebiet behandelt wird.
5. Am 25.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin, ihre bevollmächtigte Vertreterin und eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten.
Die Verhandlung nahm in ihren gegenständlich relevanten Teilen den folgenden Verlauf:
„(…) R: Fühlen Sie sich aktuell in der Russischen Föderation einer asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt?
BF: Nein.
R: Bitte schildern Sie, wie Ihre Lebensumstände aussehen würden, wenn Sie in die Russische Föderation zurückkehren müssten.
BF: Nichts Gutes. Die Situation im Land ist besonders wegen des Corona-Virus noch schlechter geworden. Man kann nichts machen.
R: Haben Sie Verwandte in Tschetschenien oder in der Russischen Föderation und wenn ja, welche?
BF: Ich habe in Tschetschenien zwei Schwestern. Eine hat ein eigenes Haus, aber die andere wohnt in einer Mietwohnung mit vier Kindern.
R: Wo sind Ihre Schwestern zu Hause?
BF: Eine wohnt in XXXX , die andere wohnt in einem Dorf.
R: Wie ist die wirtschaftliche Situation dieser Schwestern?
BF: Sie leben von dem, was sie selbst erwirtschaften, das sind nur einige Kühe. Sie haben zwar fünf Kühe, aber die Familie ist sehr groß. Man könnte sagen, dass sie eine kleinbäuerliche Landwirtschaft haben.
R: Haben Sie sonst noch Verwandte in der Russischen Föderation?
BF: Einen Bruder, der wohnt im Oblast XXXX . Ich habe auch noch einen Sohn, aber seit vielen Jahren weiß ich nicht, wo er aufhältig ist. 2005 hat er mich geschlagen und darauf hat mein Schwiegervater ihn auch geschlagen und seitdem ist er weggelaufen.
R: Wie ist die wirtschaftliche Situation Ihrer Verwandten?
BF: Die wirtschaftliche Situation meiner Schwestern ist prekär. Darüber ist einer meiner Neffen Invalide. Mein Bruder ist LKW-Chauffeur. Er ist nicht oft zu Hause.
R: Ich verweise auf die im Akt einliegenden medizinischen Unterlagen bzw. auf Ihre einschlägigen, bisherigen Aussagen. Leiden Sie an schweren oder chronischen Krankheiten?
Die BF legt einschlägige medizinische Befunde vor, aus denen hervorgeht, dass die BF unter einem Brustkarzinom leidet, und dass sie gegenwärtig in strahlentherapeutischer Behandlung in einer Klinik ist. Die Beschwerdeführerin erteilt die Zustimmung, mit der Klinik Kontakt aufzunehmen.
R: Möchten Sie zur medizinischen Lage darüber hinaus eine Stellungnahme abgeben?
BFV: Ich verweise auf die Berichte zur Covit-19 Pandemie in Russland und bringe folgendes vor: die Beschwerdeführerin zählt zur Risikogruppe der Covit-19 gefährdeten Personen der älteren Menschen bzw. Menschen mit Vorerkrankungen), sodass für die BF Lebensgefahr zwar nicht ausgeschlossen werden kann, zumal auch junge, und derzeit gesunde Menschen aufgrund einer Infektion mit dem Covit-19-Viraus sterben können. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Russland sind insbesondere hinsichtlich des Alters, Vorerkrankungen der BF und aufgrund der nunmehr angespannten Situation wegen der steigenden Infektionszahlen nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass die BF in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde. Es besteht in Österreich weiterhin ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der BF und ihrer Nichte, das als geschütztes Familienleben bezeichnet werden kann. Aufgrund dessen ist eine Rückkehr nach Russland aktuell nicht zumutbar. Es wird daher um Stattgabe der Beschwerde ersucht.
R: laut Aktenlage sind Sie in der Russischen Föderation Pensionsberechtigt, hat sich daran etwas geändert?
BF: Wenn man das Land verlässt, stoppen sie die Zahlungen. Es wären 1.200 Rubel, die ich bekommen würde, wenn ich wieder in die Russische Föderation zurückkehren würde. Egal, ob es einem zusteht oder nicht, muss man dafür bezahlen.
R: Bitte schildern Sie, wie Sie in Österreich leben.
BF: Ich lebe in Österreich mit einer Nichte zusammen, da ich in XXXX in Behandlung bin. Ich habe in Österreich drei Nichten, zwei sind verheiratet und eine ist geschieden. Nachgefragt gebe ich an, dass ich in Österreich aus Mitteln der öffentlichen Hand lebe und keiner Beschäftigung nachgehe. Ich spreche die deutsche Sprache nicht und habe bisher auch keine Anstrengungen unternommen, die deutsche Sprache zu lernen. Abgesehen von meinen Nichten habe ich wohl keinen näheren Bezug zu Österreich. Natürlich möchte ich in Österreich bleiben, zumindest so lange meine medizinische Behandlung andauert und es meine gesundheitliche Situation erfordert.
Vorgelegt wird das LIB der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Gesamtaktualisierung vom 27.03.2020.
Ein Exemplar wird dem BFV übergeben. Auf eine Stellungnahme wird verzichtet.
Während der Verhandlung kontaktiert der R das XXXX ). Die Ärztin gibt bekannt, dass nach der gegenwärtigen Bestrahlung eine mehrjährige antihormonelle Therapie vorgesehen ist, die dafür notwendigen Medikamente wohl allgemein verfügbar sind und es sich nicht um eine ausgefallene Therapie handelt. Die BF sollte in der Folge sich regelmäßigen Kontrollen unterziehen. Eine weitere Behandlung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angedacht.
Der R verweist auf die medizinischen Berichte innerhalb der Länderberichte aus denen sich auch auf ein grundsätzlich funktionierendes medizinisches System in Russland schließen lässt.
R: Wird von Seiten der beschwerdeführenden Partei in Frage gestellt, dass es diese antihormonelle Therapie in der Russischen Föderation gibt?
BF: Diese Medikamente gibt es in der Russischen Föderation. Meine Schwester hatte die selbe Problematik und Therapie und erhielt die Medikamente in XXXX .
R: Möchten Sie noch eine Stellungnahme abgeben?
BF: Nein.
BFV: Nein. (…)“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum islamischen Glauben bekennt. Ihre präzise Identität steht nicht fest. Die Beschwerdeführerin stellte am 19.11.2014 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und hält sich seither ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Die Beschwerdeführerin stammt aus Tschetschenien, wo sie im Familienverband lebte und bis zum Jahr 2012 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Im Anschluss hat sie bei ihren Angehörigen in Tschetschenien gelebt und war Bezugsberechtigte einer Rente.
1.2. Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, ihren Herkunftsstaat aufgrund des Wunsches nach einer kostenfreien und qualitativ hochwertigen medizinischen Behandlung verlassen zu haben und keine darüberhinausgehenden aktuellen Rückkehrbefürchtungen aufzuweisen. Die Beschwerdeführerin hat keine Furcht vor individueller Verfolgung behauptet. Es kann auch von Amts wegen nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in die Russischen Föderation respektive nach Tschetschenien aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.
1.3. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine 65-jährige verwitwete Frau, welche im Vorfeld ihrer Ausreise im Jahr 2014 vom Bezug einer Pension sowie durch Unterstützung ihrer Geschwister gelebt hat.
Bei der Beschwerdeführerin ist ein Mammakarzinom links diagnostiziert worden, welches Anfang April 2020 operativ saniert worden ist (Masektomie links + Akilla-Dissektion). Die Beschwerdeführerin hat zuletzt ab dem 20.05.2020 eine strahlentherapeutische Behandlung in Anspruch genommen, deren voraussichtliches Ende für den 26.06.2020 vorgesehen war. Im Anschluss ist die Durchführung einer mehrjährigen antihormonellen Therapie vorgesehen.
Darüber hinaus leidet die Beschwerdeführerin unter Diabetes Mellitus Typ II, Adipositas, arterieller Hypertonie, Z.n. Knie.TEP rechts 2019 sowie Z.n. kurativer Mammaablatio rechts 2006 (Russland).
In der Russischen Föderation bestehen grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten für die bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Krankheitsbilder, welche dieser auch individuell zugänglich sind. Die Beschwerdeführerin hat nicht konkret vorgebracht, dass ihr eine benötigte Behandlung im Herkunftsstaat in der Vergangenheit verweigert worden wäre oder individuell respektive finanziell nicht zugänglich gewesen wäre. Sie hat nicht begründet dargelegt, dass eine Rückkehr in den Heimatstaat für sie mit einer signifikant verkürzten Lebenserwartung einhergehen würde. Diese könnte nach einer Rückkehr nach Tschetschenien neuerlich bei ihrer Schwester Unterkunft nehmen und zusätzlich durch ihre weiteren Angehörigen in der Russischen Föderation und in Österreich (anteilsmäßig) finanziell unterstützt werden.
1.4. Die Beschwerdeführerin lebt in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Nichte und deren Kindern, zu welchen sie in einer familiären Nahebeziehung steht. Zudem leben zwei weitere Nichten der Beschwerdeführerin in Österreich, zu welchen sei ebenfalls Kontakte unterhält. Die Beschwerdeführerin ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, bestritt ihren Lebensunterhalt durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen und war zu keinem Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig. Die Beschwerdeführerin hat sich keine Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet, ist keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgegangen und hat keine Kontakte zur österreichischen Gesellschaft geknüpft. Sie erklärte, sich lediglich vorübergehend für die Dauer der medizinischen Behandlung in Österreich aufhalten und im Anschluss in ihren Herkunftsstaat zurückkehren zu wollen.
1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird Folgendes festgestellt:
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.03.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020
- BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 27.03.2020
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
- FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
- US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 27.03.2020
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
…
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020
- AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 10.3.2020
- CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 6.3.2020
- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 10.3.2020
- EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020
- US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 27.03.2020
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019, vgl. EASO 3.2017).
Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 22.2.2018, vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“