TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/29 W226 2232329-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.07.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W226 2232329-1/3E

Im Namen der republik!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.05.2020, Zl. 760994006-190202586, zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Der BF ist russischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen und bekennt sich zum Islam. Am 19.09.2006 reiste der BF, gemeinsam mit seiner Ehefrau und ihren drei minderjährigen Kindern, illegal auf dem Fußweg über die slowakisch-österreichische Grenze in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag wurde durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes eine Erstbefragung des BF durchgeführt. Der BF gab an, dass seine Eltern noch in Tschetschenien leben würden und er in Österreich keine Familienangehörigen habe. Vor seiner Ausreise habe er in einem näher genannten Ort in Tschetschenien gewohnt.

Nach dem Fluchtgrund befragt, gab der BF an aus der Heimat geflohen zu sein, weil dort der Tschetschenien Krieg herrsche.

Der BF legte seinen russischen Reisepass (Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX ) sowie seinen polnischen Lagerausweis der dortigen Asylbehörde (Zl. XXXX , ausgestellt am XXXX ) vor.

3. Am 25.09.2006 wurde der BF durch das Bundesasylamt (BAA) niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an verheiratet zu sein und einen Sohn sowie zwei Töchter zu haben. Er spreche russisch und habe im Heimatland 8 Jahre lang die Grundschule besucht. Im Heimatland würden noch die Eltern des BF sowie seine fünf Schwestern leben. Sein jüngerer Bruder sei verschollen. Vor seiner Ausreise habe der BF im Elternhaus gelebt.

Der BF legte eine Bestätigung seiner Mutter vor, wonach sein Bruder seit 02.11.2004 verschollen sei. Sie bitte darum ihren Sohn (den BF) nicht nach Tschetschenien abzuschieben, da sie bereits einen Sohn verloren habe. Der BF habe auch an keinen Organisationen teilgenommen, was Nachbarn bestätigen könnten.

Der BF gab an, Anfang 2004 festgenommen und einen Monat festgehalten worden zu sein. Man habe ihn "sehr stark geschlagen" und Urin statt Wasser zu trinken gegeben. Nachdem sein Bruder verschwunden war, habe man auch nach ihm gesucht. Im September 2004 sei er nach zahlreichen Schlägen im Krankenhaus behandelt worden. Er sei bewusstlos gewesen und Nachbarn hätten ihn gefunden und ins Krankenhaus gebracht.

Aus Polen habe er flüchten müssen, weil Verwandte aus Tschetschenien ihm mitgeteilt hätten, dass 2 oder 3 Personen ihn in Polen verfolgen würden. Er habe Fotos gesehen und große Angst bekommen. Er sei auch mit einem Messer bedroht worden.

Im Rahmen der Einvernahme legte der BF weiters eine Heiratsurkunde vom XXXX (Nr. XXXX ), sowie einen polnischen Bescheid vom XXXX vor (Zl. XXXX ).

Noch am selben Tag wurde der BF über die beabsichtigte Zurückweisung seines Antrags informiert und die Ausweisung des BF nach Polen eingeleitet. Über den BF wurde die Schubhaft verhängt.

4. Mit Schreiben vom 26.09.2006 stimmte die polnische Asylbehörde der Rückführung des BF nach Polen zu (Zl. XXXX ).

5. Am 04.10.2006 wurde der BF erneut vor dem BAA einvernommen. Zu seiner Überstellung nach Polen befragt, gab der BF an, dass dort nicht die nötige medizinische Versorgung bestehe und er dort nicht in Sicherheit sei. Er wolle nicht nach Polen zurück. "Was soll mit meinen Kindern passieren, wenn mir etwas passiert?". Seine Kinder hätten dort keine gute medizinische Behandlung erhalten und er würde bei einer Rückkehr keine Arbeit finden können. Auch wenn er "Pobyt" – "tolerated stay" und somit Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen würde, spreche er die Sprache nicht. Er wolle Asyl.

Am Ende der Befragung gab der BF noch an, an einem Magengeschwür und Herzbeschwerden zu leiden. Außerdem habe er Schmerzen im linken Ohr, welche immer wieder kommen würden. Seit ca. 11 Tagen habe er auch Schmerzen in der Stirnhöhle und nachts Fieber. In der Haft habe es keinen Dolmetscher gegeben, weswegen er sich nicht habe verständigen können. Er habe schon vor Inhaftierung an diesen Schmerzen gelitten.

6. Auf Ersuchen des BAA vom 04.10.2006 wurde der BF einem Facharzt für Psychiatrie vorgeführt. Der Arzt diagnostizierte dem BF eine schwere psychische Störung, welcher der Überstellung/Abschiebung entgegenstehen würde. Eine Besserungsfähigkeit liege aber vor und der Arzt empfehle eine nochmalige Stellungnahme in ca. 2 Monaten. Der BF habe gedroht sich im Falle einer Abschiebung etwas anzutun. Auch eine Untersuchung durch einen Arzt für Allgemeinmedizin sei zu empfehlen.

7. Auf Ersuchen des BAA vom 22.11.2006 wurde der BF erneut von einem Facharzt für Psychiatrie untersucht und eine Posttraumatische Störung diagnostiziert. Die medikamentöse Behandlung habe bisher keine Veränderung gebracht. Die psychische Störung stehe der Abschiebung/Überstellung weiterhin entgegen und sei keine Besserungsfähigkeit gegeben.

8. Am 28.11.2006 wurde das Ausweisungsverfahren gegen den BF eingestellt und sein Asylantrag in Österreich zugelassen. Der BF wurde noch am selben Tag aus der Schubhaft entlassen.

9. Am 16.01.2007 wurde der BF erneut vom BAA niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an zurzeit nicht in ärztlicher Behandlung zu sein und keine Medikamente zu nehmen. Er sei in Österreich noch nie beim Arzt gewesen. Auf Vorhalt, dass er laut Aktenlage schon ärztlich behandelt worden sei, gab der BF an während seiner Haft Tabletten bekommen zu haben, welche er auch eingenommen habe. Zurzeit bzw. nach seiner Haftentlassung sei er nicht in ärztlicher Behandlung gewesen.

Danach gefragt, was gegen eine Überstellung nach Polen spreche, gab der BF an dort von einem russisch sprechenden Mann geschlagen worden zu sein. Ihm sei der Kiefer gebrochen worden. Der Mann habe gedroht den BF umzubringen. Der Kieferbruch sei nicht ärztlich behandelt worden.

10. Am 31.01.2007 erschien der BF ladungsgemäß bei Dr. XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, zu einer Untersuchung. Daraufhin erstellte der genannte Arzt ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten, datiert mit 03.02.2007. Beim BF wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Auch sei eine Angstsymptomatik gegeben. Der BF sei daher nicht überstellungsfähig. Erst kürzlich sei mit einer medikamentösen psychiatrischen Behandlung begonnen worden und sei auch eine psychotherapeutische Behandlung medizinisch indiziert und zu empfehlen.

11. Am 03.05.2007 wurde der BF erneut vom BAA einvernommen. Er gab an, sich gut zu fühlen und physisch sowie psychisch in der Lage zu sein die Einvernahme durchzuführen. Er sei derzeit in psychiatrischer Behandlung und nehme regelmäßig Medikamente. Der BF schilderte, wie sein Bruder im Jahr 2004 mitgenommen worden sei. Sein Bruder sei Kämpfer gewesen, der BF selbst habe nicht gekämpft. Der BF gab an, Ende 2003 festgenommen und gefoltert worden zu sein. Weitere Festnahmen habe es nicht gegeben, da er sich versteckt gehalten habe.

Im Falle einer Rückkehr in die Heimat würde der BF sich ständig verstecken müssen, da er gesucht werde. Er würde dort keinen Platz zum Leben haben. Auf eine Niederlassung in der Russischen Föderation, außerhalb Tschetscheniens, angesprochen, gab er an, dass es überall das Gleiche sei. Er werde gesucht, was ihm auch seine Mutter kürzlich telefonisch bestätigt habe. Sein Bruder sei weiterhin verschwunden.

Die Eltern und Schwestern würden weiterhin in Tschetschenien leben. Ob der Bruder von Russen abgeholt worden sei, wisse er nicht genau, er habe aus der Ferne beobachtet, wie Panzerfahrzeuge das Haus umstellten. Der Bruder sei ein Kämpfer gewesen, er selbst nicht.

Im Rahmen der Einvernahme legte der BF auch zwei handschriftliche psychiatrische Konsile des Krankenhauses XXXX vor. Darin wurde eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

12. Mit Bescheid des BAA vom 10.05.2007, Zl. 06 09.940, wurde dem Antrag auf internationalen Schutz vom 19.09.2006 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG stattgegeben und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt, dass dem BF kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der Bescheid wurde dem BF am 11.05.2007 nachweislich zugestellt und erwuchs in Rechtskraft.

Auch der Ehefrau und den Kindern des BF wurde der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

13. Im Jänner 2019 gaben der BF und seine Ehefrau bekannt, freiwillig in den Heimatstaat zurückkehren zu wollen. Der BF hat mittlerweile sechs minderjährige Kinder. Der gesamten Familie des BF kam der Status des Asylberechtigten zu. Die Kostenübernahme für die Heimreise wurde vom nunmehr zuständigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) genehmigt. Bezüglich der Rückreise der Kinder bedurfte es einer Entscheidung des Bezirksgerichts XXXX als zuständiges Pflegschaftsgericht im Hinblick auf das Kindeswohl (AZ: XXXX ). Einer Eingabe vom 31.01.2019 zu Folge, verfasst von einem Rechtsanwalt, der den BF und dessen Ehegattin vertrat, ist zu entnehmen, dass die Familie in die Heimat zurückkehren wollte (AS 373).

14. Am 19.05.2019 wurde der BF wegen des Verdachts des versuchten Mordes festgenommen (GZ: XXXX ). Der BF habe am 19.05.2019 versucht seine Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung umzubringen. Er habe sich auf sie gekniet und sie mit beiden Händen gewürgt. Er habe gedroht, dass sie heute sterben und die Wohnung nur mehr in einem Sarg verlassen würde. Die Ehefrau habe sich gerade noch befreien und ins Stiegenhaus flüchten können.

Der BF gab bei der polizeilichen Befragung an, sich nicht an den Vorfall erinnern zu können.

Schon vor dem Vorfall habe es mehrere polizeiliche Interventionen wegen des Ehepaars gegeben und sei der BF mehrmals weggewiesen worden. Es hab gegen den BF auch schon eine Anzeige wegen Körperverletzung gegeben.

Die Kinder des Ehepaars waren schon zuvor in verschiedenen WG´s des Jugendwohlfahrtsträgers untergebracht worden.

15. Im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung am 20.05.2019 gab der BF an, dass sein Vater verstorben sei, er aber regelmäßig telefonischen Kontakt mit seiner Mutter und seiner Schwester habe. Die Obsorge für seine sechs Kinder habe das Jugendamt übernommen, weil er und seine Frau ihre Elternpflichten vernachlässigt hätten. Die Wohnung habe keine ordentliche Ausstattung gehabt und seien die Kinder öfters nicht geduscht gewesen und hätten nur sehr unregelmäßig die Schule besucht. Der BF sei bereits fünf Mal von zuhause weggewiesen und oftmals von der Polizei angezeigt worden.

Zum gegenständlichen Vorfall befragt, gab der BF an "ziemlich stark betrunken" gewesen zu sein und sich an nichts mehr erinnern zu können. Er könne sich nicht vorstellen, dass er seine Frau gewürgt habe, er sei ihr gegenüber nie handgreiflich gewesen. Es sei öfters zu Streitigkeiten mit seiner Frau gekommen, weil diese sich nicht um den Haushalt gekümmert hätte.

16. Am 22.05.2019 wurde über den BF die Untersuchungshaft verhängt (AZ: XXXX ).

17. Mit Schreiben des Vereins für Menschenrechte Österreich (VMÖ) vom 17.07.2019 wurde das Verfahren für die freiwillige Rückkehr des BF und seiner Familie widerrufen. Die Familie habe sich gegen eine Rückkehr entschieden.

18. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (AZ: XXXX ) wurde der BF zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes (§§ 15, 75 StGB) verurteilt. Der Berufung des BF wegen Strafe gab das Oberlandesgericht XXXX nicht Folge (AZ: XXXX ). Das Urteil des Erstgerichts ist seit XXXX rechtskräftig.

19. Am 10.01.2020 wurde der BF zur geplanten Aberkennung seines Status als Asylberechtigter durch das BFA einvernommen. Er fühle sich psychisch und physisch in der Lage die Einvernahme durchzuführen. Er sei derzeit in psychiatrischer Behandlung und nehme diesbezüglich auch Medikamente. Er könne aber der Einvernahme folgen. Der BF gab an, ein wenig Deutsch zu sprechen, aber kein Zeugnis zu haben.

Nach russischen Dokumenten befragt, gab der BF an, dass ihm vor 8-9 Monaten von der russischen Botschaft in Wien ein Reisepass ausgestellt worden sei.

Zu seiner freiwilligen Heimreise befragt, gab der BF an, mit seinen Kinder nach Tschetschenien zurückkehren zu wollen. Er habe jedoch die Obsorge über die Kinder nicht erhalten. Seine Frau liebe einen Anderen, was ihm Kummer bereite.

Nach dem damaligen Grund für die Asylgewährung befragt, gab der BF an, wegen des Krieges Probleme im Heimatland gehabt zu haben. Seine Brüder seien im Krieg gestorben und er selbst habe nicht kämpfen wollen, deswegen sei er ausgereist.

Der BF gab an, keine Probleme mit Polizei- oder Justizbehörden im Heimatland gehabt zu haben. Er habe weder aus politischen, ethnischen noch aus religiösen Gründen eine Verfolgung oder Bedrohung im Heimatland zu befürchten. Er sei auch von niemandem jemals ausdrücklich und persönlich mit dem Tod oder mit Verfolgung im Heimatstaat bedroht worden. Von staatlicher Seite habe er im Heimatland nichts zu befürchten. Nach Befürchtungen im Fall einer Rückkehr ins Heimatland befragt, erklärte der BF: "Wenn es nicht gefährlich wäre, wäre ich schon längst nach Hause gefahren".

Er habe seit seiner Geburt bis zur Ausreise in Tschetschenien gelebt. Seine Mutter sowie die fünf Schwestern, mit ihren Familien, würden weiterhin in Tschetschenien leben. Er habe Kontakt zu seiner Familie und es gehe ihnen normal. Vermögen oder Eigentum habe der BF im Heimatland nicht.

Er lebe seit 2006 im Österreich. Vor dem Vorfall habe er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Die Kinder seinen nun in der Obhut des Jugendamtes und auch seine Ehefrau sei aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Weitere Verwandte habe er nicht in Österreich. Er habe immer nur mehrere Monate als Bauarbeiter gearbeitet und dabei € 800,-- verdient. Derzeit bestreite er seinen Lebensunterhalt durch Sozialhilfe. Er habe keine Deutschkurse besucht und spreche auch kein Deutsch.

Nach seinen Vorstellungen zu einem möglichen weiteren Aufenthalt in Österreich befragt, gab der an BF weiter arbeiten gehen und mit seinen Kindern in einer Wohnung leben zu wollen. Er bete und faste regelmäßig.

Im Anschluss an die Einvernahme wurde dem BF die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Länderfeststellungen des BFA zur gegenwärtigen, allgemeinen Lage im Heimatstaat gewährt. Der BF lehnte dies, sowie die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme binnen 2 Wochen, ab.

Der BF gab an alles verstanden zu haben und ohne seine Frau, aber mit seinen Kindern nach Tschetschenien fahren und dort leben zu wollen.

20. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 27.05.2020, Zl. 760994006-190202586, wurde dem BF der mit Bescheid vom 10.05.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und Z 2 AsylG aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetz nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ebenfalls nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine 14-tägige Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung zur freiwilligen Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den BF erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die belangte Behörde stellte im Wesentlichen fest, dass die Identität des BF feststehe. Er sei verheiratet und habe sechs Kinder. Der Kontakt zu seiner Familie im Heimatland sei aufrecht. Am XXXX sei er rechtskräftig wegen versuchten Mordes zu einer 10-jährigen Haftstrafe verurteilt worden und befinde sich derzeit in Strafhaft. Der BF leide unter keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen seines Gesundheitszustandes. Es habe auch keine eingeschränkte Beeinträchtigung seiner Arbeitsfähigkeit festgestellt werden können. Während der meisten Zeit seines Aufenthalts in Österreich habe der BF vom staatlichen Leistungen gelebt, wobei er zwischendurch auch kurzen Beschäftigungen nachgegangen sei. Er verfüge gegenwertig über kein Eigentum und gehe auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Der BF spreche nach mehr als 14-jährigem Aufenthalt in Österreich kaum Deutsch und könnten auch keine schützenswerten privaten oder sozialen Integrations- oder Anknüpfungspunkte festgestellt werden. Ein aufrechtes bzw. schützenswertes Familienleben mit seiner Kernfamilie in Österreich habe nicht festgestellt werden können. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des BF würde überwiegen.

Dem BF sei im Jahr 2007 aufgrund des Bürgerkriegs in Tschetschenien Asyl gewährt worden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative habe damals nicht bestanden. Aufgrund der geänderten Lage in der Russischen Föderation, und insb. in Tschetschenien, treffe dies nun nicht mehr zu. Dem BF sei auch im April 2019 von der russischen Botschaft in Wien ein Reisepass ausgestellt worden.

Da der BF wegen Mordes rechtkräftig verurteilt worden sei, habe er ein besonders schweres Verbrechen begangen und daher einen nachträglichen Asylausschlussgrund gesetzt. Er stelle daher eine Gefahr für die Gemeinschaft dar.

Es habe nicht festgestellt werden können, dass dem BF im Falle der Rückkehr die notwendige Lebensgrundlage entzogen würde. Der BF sei gesund und arbeitsfähig. Der BF leide auch an keiner akuten ernsthaften oder lebensbedrohlichen Krankheit, die im Heimatstaat nicht behandelbar wäre. Eine Existenzgründung aus eigener Kraft sei möglich.

Zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat stellte die belangte Behörde Folgendes fest:

"Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

-        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

-        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

-        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

-        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

-        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in den islamischen und gewohnheitsrechtlichen Regelungssystemen sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten