TE Vfgh Erkenntnis 1995/11/27 WII-1/94

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Veröffentlicht am 27.11.1995
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Index

L1 Gemeinderecht
L1000 Gemeindeordnung

Norm

B-VG Art141 Abs1 lite
Stmk GdO 1967 §29

Leitsatz

Stattgabe der Anfechtung der Aberkennung eines Mandats eines Gemeinderats mangels ausreichender Feststellungen hinsichtlich der entscheidungswesentlichen Frage der gesundheitlichen Eignung des Anfechtungswerbers zur Ausübung seines Gemeinderatsmandats

Spruch

Der Anfechtung wird Folge gegeben und der Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom 18. Juli 1994, Z7-5 I Ue 7/14-1994, aufgehoben.

Das Land Steiermark (Steiermärkische Landesregierung) ist schuldig, dem Anfechtungswerber zu Handen seines Rechtsvertreters die mit 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom 18. Juli 1994, Z7-5 I Ue 7/14-1994, wurde A seines Mandats als Mitglied des Gemeinderats der Gemeinde X für verlustig erklärt.

1.1.2. Dieser Bescheid, der sich auf §29 Abs1 litb und Abs2 (Satz 2) des Gesetzes vom 14. Juni 1967, mit dem für die Gemeinden des Landes Steiermark mit Ausnahme der Städte mit eigenem Statut eine Gemeindeordnung erlassen wird (Gemeindeordnung 1967), LGBl. 115 (im folgenden: Stmk GdO 1967), stützt, wurde ua. wie folgt begründet:

   "Mit Eingabe vom 16. Juni 1994 ... hat die

Bezirkshauptmannschaft Y ein gerichtspsychiatrisches Gutachten

des ... Dr. R ... vom 20. Mai 1994 betreffend (A), Mitglied des

Gemeinderats der Gemeinde X, zwecks Prüfung iSd §29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 (Mandatsverlust) vorgelegt. Mit Schreiben vom 22. Juni 1994 wurde die Bezirkshauptmannschaft Y ersucht, eine - wie in der zitierten Gesetzesbestimmung vorgesehen - amtsärztliche Bescheinigung vorzulegen. Am 6. Juli 1994 hat die genannte Behörde ... ein (mit 1. Juli 1994 datiertes) Schreiben des Amtsarztes sowie einen Antrag der Gemeinde X vom 15. Juni 1994 auf Prüfung der Voraussetzungen eines Mandatsverlusts vorgelegt. ...

Zwecks Wahrung des Parteiengehörs wurde (A) eingeladen, binnen einer Woche eine Stellungnahme vorzulegen; im Zuge einer Akteneinsicht am 11. Juli 1994 wurden dem Genannten die gegenständlichen Anträge und das amtsärztliche Gutachten ausgefolgt. ...

Von entscheidender Bedeutung für die spruchgemäße Entscheidung ist die vom Amtsarzt der Bezirkshauptmannschaft Y getroffene Feststellung vom 1. Juli 1994. Im Befund wird ein teilweise 'verworrener Gedankenablauf' festgestellt und wird bezugnehmend auf das gerichtsmedizinische Gutachten Dris. R (weiters) festgestellt, daß (A) 'nicht in der Lage ist, innerhalb des bestehenden überwertig paranoiden Gedankenkomplexes Recht und Unrecht zu unterscheiden; er ist diesbezüglich als partiell unzurechnungsfähig zu bezeichnen, ist in diesem Komplex unfähig, Recht und Unrecht zu unterscheiden'. Der Amtsarzt kommt zum Schluß, daß eine partielle Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen ist

...

Der Vertreter des (A) vertritt offenbar die Auffassung, daß eine teilweise Unzurechnungsfähigkeit keine ausreichende Relevanz für die Eignung zur Ausübung eines Gemeinderatsmandats hat; dieser Auffassung kann ... nicht beigetreten werden. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, daß jemand, der - wenn auch nur teilweise oder in Teilbereichen - unzurechnungsfähig und strafrechtlich nicht zurechnungsfähig ist und zwischen Recht und Unrecht nicht zu unterscheiden vermag, nicht geeignet sein kann, den ihm von den Wählern auferlegten Pflichten zur Gänze nachzukommen.

Der Sinn des §29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 kann wohl nur darin liegen, daß die Behörden (Gemeinde, Bezirksverwaltungsbehörde, Landesregierung) nach Maßgabe ihrer gesetzlichen Verpflichtungen Sorge zu tragen haben, daß die von den Gemeindebürgern gewählten Mandatare auch in gesundheitlicher Hinsicht zur Gänze belastbar sind; eine 'generelle Unzurechnungsfähigkeit' als Tatbestand für einen Mandatsverlust wird gesetzlich ... nicht verlangt. ..."

1.2.1. Der Amtsarzt bei der Bezirkshauptmannschaft Y hatte in seinem in der Begründung des Bescheids der Steiermärkischen Landesregierung genannten Schreiben vom 1. Juli 1994 ua. folgendes ausgeführt:

"Befund: ... Der Gedankenlauf ist teilweise verworren und nicht nachvollziehbar. (A) ist äußerst mißtrauisch, vor allem wenn die Sprache auf Bürgermeister B oder die Gemeinde X kommt. Er erklärt mehrmals, daß der Bürgermeister und der Gemeinderat die Gärtnerei seines Sohns vernichten wollen. In diesem Zusammenhang ist keine Diskussion möglich. Er erklärt auch mehrmals, daß er den Bürgermeister aufgrund gesetzwidriger Maßnahmen bei der Staatsanwaltschaft anzeigen müsse, dann würde auch automatisch der Gemeinderat mitangezeigt werden, denn dieser unterschreibe alles, was von Bürgermeister B vorgelegt wird. ...

(Wiedergegeben werden Auszüge aus einem in einem anderen Verfahren erstatteten Gutachten des Sachverständigen Dr. R)

In diesem Zusammenhang erklärt der Untersuchte auch eindeutig, was er nunmehr gegen den Bürgermeister B straffrei unternehmen kann.

Aufgrund der heutigen Untersuchung kann die oben beschriebene partielle Unzurechnungsfähigkeit nur bestätigt werden, und es wird bezweifelt, ob in Zukunft in der Gemeinde X eine sinnvolle Zusammenarbeit mit Herrn A, als freiem Gemeinderat, möglich und sinnvoll sein wird."

1.2.2. Im Strafverfahren AZ 3 EVr nnn/y des Landesgerichts für Strafsachen Graz über eine Privatanklage des B, Bürgermeister der Gemeinde X, gegen A hatte der Sachverständige Dr. R am 20. Mai 1994 über den Beschuldigten das im Schreiben des Amtsarztes genannte Gutachten erstattet, in dem es ua. heißt:

   "... Dies hat bei (A) im Rahmen von seit Jahren bestehenden

Auseinandersetzungen mit Bürgermeistern und Gemeinde zur

Entwicklung überwertiger Ideen geführt, die ein eindeutiges

Übergewicht über alle anderen Gedanken erlangt haben und dieses

Übergewicht seit längerer Zeit und vermutlich für dauernd

behaupten. ... Durch diese überwertigen Ideen mit mißtrauisch

paranoiden Einschlägen glaubt sich (A) vor allem von den

Bürgermeistern, jetzt besonders von B, benachteiligt, verfolgt;

... er ist sogar der Meinung, daß man ihn und seinen Sohn

existentiell vernichten wolle. Diesbezüglich ist (er)

diskussionsunfähig geworden, es besteht trotz ausreichenden

intellektuellen Verstands ein Besinnungsdefekt. ... Es besteht

demnach ... eine krankhafte überwertige Idee im Sinne eines

abnormen Komplexes der rechtlichen und persönlichen Beeinträchtigung durch den Bürgermeister B und dessen politische Gruppe; hier liegt eine partielle Aufhebung der Diskussions- und Korrekturfähigkeit vor. (Er) ist nicht in der Lage, innerhalb des bestehenden überwertig paranoiden Gedankenkomplexes Recht und Unrecht zu unterscheiden; er ist diesbezüglich als partiell unzurechnungsfähig zu bezeichnen, ist in diesem Komplex unfähig, Recht und Unrecht zu unterscheiden. ...

Es besteht daher partielle Unzurechnungsfähigkeit iSd §11 StGB. Innerhalb der überwertigen Gedankengänge, die auch das gegenständliche Strafverfahren beherrschen, besteht Unfähigkeit, das Strafbare (der) Handlungsweise zu erkennen. Vom psychiatrischen Standpunkt aus ist daher für das gegenständliche Verfahren ... Unzurechnungsfähigkeit nach §11 StGB zuzubilligen."

1.3.1. A bekämpft den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung beim Verfassungsgerichtshof mit einer als "Bescheidbeschwerde" bezeichneten, der Sache nach auf Art141 Abs1 lite B-VG gegründeten Eingabe und begehrt darin die kostenpflichtige Aufhebung dieses Bescheids.

1.3.2. Die Steiermärkische Landesregierung als belangte Behörde erstattete unter Vorlage des Verwaltungsakts eine Gegenschrift und beantragte darin, der Anfechtung keine Folge zu geben.

1.4.1. Der mit "Mandatsverlust" überschriebene §29 Abs1 Stmk GdO 1967 lautet:

"Ein Mitglied des Gemeinderates wird seines Mandates verlustig, wenn:

a)

...

b)

es laut amtsärztlicher Bescheinigung die gesundheitliche Eignung zur Ausübung desselben verliert;

              c)              ...

..."

1.4.2. Der Mandatsverlust wird nach dem zweiten Satz des §29 Abs2 Stmk GdO 1967 in den Fällen des §29 Abs1 litb bis g leg.cit. durch Bescheid der Landesregierung verfügt.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

2.1.1. Gemäß Art141 Abs1 lite B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof ua. über die Anfechtung von Bescheiden, durch die der Verlust des Mandats in einem allgemeinen Vertretungskörper (so auch in einem Gemeinderat - Art117 Abs1 lita B-VG) ausgesprochen wurde, soweit in den die Wahlen regelnden Bundes- oder Landesgesetzen die Erklärung des Mandatsverlusts durch Bescheid einer Verwaltungsbehörde vorgesehen ist.

2.1.2. Nach §71 a Abs1 VerfGG 1953 kann die Anfechtung des Bescheids einer Verwaltungsbehörde, mit dem ua. der Verlust des Mandats in einem allgemeinen Vertretungskörper verfügt wird, nur nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzugs innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach Zustellung des in letzter Instanz ergangenen Bescheids erhoben werden.

2.1.3. Maßgebender Zeitpunkt für den Beginn des Laufs der sechswöchigen Frist zur Anfechtung ist im vorliegenden Fall die Zustellung des angefochtenen (letztinstanzlichen) Bescheids der Steiermärkischen Landesregierung vom 18. Juli 1994

(vgl. Pkt. 1.1.1.).

Der bekämpfte Bescheid wurde am 21. Juli 1994 zugestellt; die am 31. August 1994 zur Post gegebene Anfechtungsschrift wurde daher rechtzeitig eingebracht.

2.1.4. Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Anfechtung zulässig.

2.2.1. Einer Anfechtung gemäß Art141 Abs1 lite B-VG muß der Verfassungsgerichtshof stattgeben und den angefochtenen Bescheid aufheben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit tatsächlich unterlief (§71 a Abs4 VerfGG 1953; s. VfSlg. 2890/1955).

2.2.2. In der Anfechtungsschrift wird - sinngemäß zusammengefaßt - vorgebracht, der Anfechtungswerber sei das einzige "freie" Gemeinderatsmitglied in dem ansonsten ausschließlich aus Vertretern ein- und derselben Partei bestehenden Gemeinderat der Gemeinde X. Er habe im Privatanklageverfahren AZ 3 EVr nnn/y des Landesgerichts für Strafsachen Graz das unrichtige Gutachten des Sachverständigen Dr. R nicht entkräften können, weil das Strafverfahren eingestellt worden sei. Aus diesem Grunde habe er im Verfahren nach §29 Stmk GdO 1967 ersucht, ihm die Möglichkeit zu geben, ein entsprechendes Gegengutachten einzuholen. Durch die Vorgangsweise der belangte Behörde, die keine (angemessene) Frist dazu eingeräumt habe, seien Verfahrensgrundsätze außer acht gelassen worden, die bei der Aberkennung eines Mandats zu beachten gewesen wären. Weiters beschränke sich das Schreiben des Amtsarztes vom 1. Juli 1994 im wesentlichen darauf, das Gutachten Dris. R zu exzerpieren. Auf die (entscheidungswesentliche) Frage, ob der Anfechtungswerber die gesundheitliche Eignung zur Ausübung des Mandats als Mitglied des Gemeinderats verloren habe, sei der Amtsarzt mit keinem Wort eingegangen. Es liege daher eine amtsärztliche Bescheinigung, wonach der Anfechtungswerber die gesundheitliche Eignung zur Ausübung seines Gemeinderatsmandats verloren habe, wie dies in §29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 ausdrücklich vorausgesetzt werde, nicht vor. Ein Gutachten, das ausschließlich auf die Zurechnungs(un)fähigkeit in einem geringfügigen Teilbereich abstelle, sei für den Mandatsverlust eines Gemeinderatsmitglieds nicht aussagekräftig, zumal Gutachten mit verschiedener Zielrichtung nicht willkürlich untereinander austauschbar seien.

2.2.3. Der Verfassungsgerichtshof pflichtet den Ausführungen des Anfechtungswerbers im Ergebnis bei:

§29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 setzt für den Mandatsverlust expressis verbis voraus, daß das Mitglied des Gemeinderats "laut amtsärztlicher Bescheinigung die gesundheitliche Eignung zur Ausübung (des Mandats) verliert". Das Schreiben des Amtsarztes bei der Bezirkshauptmannschaft Y vom 1. Juli 1994 - das nur einen "Befund", aber kein "Gutachten" enthält - bescheinigt nicht, daß A die gesundheitliche Eignung zur Ausübung seines Gemeinderatsmandats verloren habe. Es gibt vielmehr überwiegend Passagen aus einem Gutachten wieder, das gar nicht in diesem Verwaltungsverfahren, sondern in einem Privatanklageverfahren eingeholt worden war. Der damalige Sachverständige (Dr. R) hatte von "partieller" Unzurechnungsfähigkeit iSd Strafgesetzbuchs und "überwertigen Gedankengängen" gesprochen und dabei offenbar Auseinandersetzungen zwischen dem Untersuchten und dem Bürgermeister seiner Gemeinde im Auge. Der Amtsarzt spricht zwar von einer Bestätigung dieser vom seinerzeitigen Sachverständigen - im Hinblick auf die der Privatanklage zugrundeliegenden Vorfälle - offenbar sehr fallbezogen bejahten "partiellen" Unzurechnungsfähigkeit. Er trifft aber keine (eigene) Feststellung über das ihm durch §29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 zwingend vorgeschriebene Thema, nämlich die Eignung zur Ausübung des Mandats als Mitglied des Gemeinderats, und relativiert diese seine unzureichende Aussage noch insofern, als er außermedizinische Überlegungen beifügt, indem er bezweifelt, ob in Zukunft in der Gemeinde X eine "sinnvolle Zusammenarbeit" mit A "als freiem Gemeinderat" möglich und sinnvoll sei:

Zur entscheidungswesentlichen Frage, ob der Anfechtungswerber die gesundheitliche Eignung zur Ausübung seines Gemeinderatsmandats verloren hat, wurden insgesamt keine ausreichenden Feststellungen getroffen.

2.2.4. Da die belangte Behörde folglich von einer unzulänglichen amtsärztlichen Bescheinigung iSd §29 Abs1 litb Stmk GdO 1967 ausging, die eine abschließende Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen des Mandatsverlusts iSd Gesetzes nicht zuließ, war der angefochtene Bescheid allein schon deshalb als rechtswidrig aufzuheben (s. zB VfSlg. 2038/1950, 2890/1955 und 2915/1955).

2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §71 a Abs5 iVm §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000 S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

Bescheidbegründung, VfGH / Mandatsverlust

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:WII1.1994

Dokumentnummer

JFT_10048873_94W0II01_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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