Entscheidungsdatum
18.08.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I415 2234033-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes Lässer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Tunesien, vertreten durch die Volkshilfe Flüchtlings- und Migrantinnenbetreuung ARGE Rechtsberatung pA. ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 15.07.2020, Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) wurde im Bundesgebiet am 17.12.2019 angetroffen und einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen.
2. Am drauffolgenden Tag erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde, BFA), in dessen Zuge der BF anführte, er werde von der tunesischen Polizei aus politischen Gründen mit dem Tode bedroht, weswegen er sogleich einen Asylantrag stellte.
3. Noch am selben Tag wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe führte der BF aus, er habe in Tunis mehrere XXXX-Firmen und viel Land gehabt. Er sei gegen das Regime gewesen, welches deswegen gegen ihn gekämpft und ihm Druck gemacht habe. Sein Bauland habe nicht mehr gut gearbeitet, niemand habe mehr beim BF einkaufen dürfen. Es habe zudem zwei Mordversuche gegen den BF gegeben. Im Falle einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr, da ihn die Regierung töten wolle.
4. Am 08.07.2020 fand die niederschriftliche Einvernahme des BF vor der belangten Behörde statt. Dabei führte der BF im Wesentlichen aus, der Vater des BF sei politisch aktiv gewesen und nach dem Tod des Bruders hätten die Probleme begonnen. Es sei zweimal der Versuch unternommen worden, den BF mittels Auto umzubringen. Diese schwarzen Autos würden von den Sicherheitsbehörden stammen. Der BF könne auch nicht weiter verkaufen, da ihm ein schlechter Ruf gemacht werde. Wenn er einen Kredit benötige, so werde ihm zwar gesagt, dass dieser genehmigt werde, dann erfolge aber eine Ablehnung. Einmal, im Jahr 2016, sei der BF auch geschlagen worden. Während der Coronakrise hätten sie dem BF viele Palmen verbrannt. Trotz einer Entfernung der Feuerwehr von lediglich 15 Minuten sei diese nicht gekommen. Auch die Polizei würde nicht kommen, diese hätten ein persönliches Problem.
5. Mit Bescheid vom 15.07.2020, Zl. XXXX, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen den BF erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Der Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VII).
6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht durch die Rechtsvertretung des BF erhobene Beschwerde vom 13.08.2020, bei der belangten Behörde eingelangt am 14.08.2020, mit welcher der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde, wobei inhaltliche Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens moniert wurden. Der BF sei in Tunesien tatsächlich einer staatlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen, was er auch durch Videos seiner brennenden Dattelplantagen und Bilder seines beschädigten PKW untermauern habe können. Beantragt werde daher, den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz Folge gegeben und dem BF Asyl gewährt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit zu beheben und zur neuerlichen Durchführung eines Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen, weiters festzustellen, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf dessen Herkunftsstaat Marokko (gemeint wohl: Tunesien) zukomme sowie festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) vorliegen würden und dem BF eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen sei. Weiters werde in eventu beantragt, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG vorliegen würden. Zudem werde beantragt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
7. Mit Schriftsatz vom 14.08.2020, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am selben Tag, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige BF ist ledig, kinderlos, muslimischen Glaubens und tunesischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Araber an. Seine Identität steht fest.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig.
Von Tunesien aus reiste der BF legal mittels Touristenvisum im Mai 2018 nach Deutschland, wo er einige Monate verblieb. Über Österreich reiste der BF nach Italien und kehrte etwa einen Monat später wieder per Zug über Österreich nach Deutschland zurück, wo er wieder einige Monate verblieb. Anschließend kam der BF nach Österreich. Ab (mindestens) 16.12.2019 war der BF illegal im Bundesgebiet aufhältig und melderechtlich bis 11.08.2020 erfasst. Der derzeitige Aufenthalt des BF ist mangels bestehender Wohnsitzmeldung unbekannt.
In Tunesien hat der BF 12 Jahre lang die Schule besucht und diese mit der Matura abgeschlossen. Anschließend arbeitete er als XXXX, bevor er eine XXXXfirma und eine XXXX Firma gründete und damit seinen Lebensunterhalt bestritt. Aufgrund seiner guten Bildung und seiner Arbeitserfahrung in Tunesien hat der BF eine Chance, auch hinkünftig am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Familiäre Anknüpfungspunkte in Tunesien bestehen dahingehend, dass die Eltern sowie die Schwestern und Brüder des BF in Tunesien leben, zu denen der BF auch telefonisch den Kontakt pflegt. Auch viele andere Verwandten sowie sonstige soziale Kontakte des BF leben in Tunesien. In Österreich verfügt der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgeblichen privaten Beziehungen, es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten des BF in Österreich.
Der BF weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.
Der BF ist im Bundesgebiet unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Entgegen seinem Fluchtvorbringen war der BF in Tunesien keiner persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt.
Er wird im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Tunesien:
Tunesien gilt als sicherer Herkunftsstaat.
Die aktuelle Situation in Tunesien (Stand Gesamtaktualisierung am 31.10.2019, letzte Information eingefügt am 30.6.2020) des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.3.1 Politische Lage
Tunesien ist gemäß der Verfassung von 2014 ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Die erste Phase nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali am 14.1.2011 prägten Übergangsregierungen, unterstützt von einer Hohen Instanz zur Verwirklichung der Ziele der Revolution als Ersatzparlament. Ferner betont die Verfassung den zivilen und rechtsstaatlichen Charakter des Regierungssystems. Die Verfassung sieht ein gemischtes Regierungssystem vor, in dem sowohl der Präsident als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt werden. Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik, mit Ausnahme der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in der Zuständigkeit des Staatspräsidenten liegen (AA 15.11.2019a; vgl. AA 17.4.2020). Die Verfassung garantiert durch eine stärkere Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs eine bessere Kontrolle der verschiedenen Gewalten. Außerdem wurde die Gleichstellung von Frauen festgeschrieben. Bezüglich der Rolle der Religion einigten sich die Abgeordneten auf einen zwiespältigen Text, der sowohl den zivilen Charakter des Staates sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, als auch den Schutz des Sakralen festschreibt (GIZ 6.2020a).
Tunesien hatte nach dem sogenannten Arabischen Frühling vor acht Jahren zwar tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet. Das Land kämpft aber mit großen wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019). Innerhalb weniger Wochen wurden im Herbst 2019 sowohl der Präsident als auch das Parlament neu gewählt (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019).
Der neue Präsident Kaïes Saïed gilt als unbestechlich und politisch unerfahren. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine sehr konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt (BAMF 21.10.2019).
Bei der Parlamentswahl wurden die bislang etablierten Parteien deutlich abgestraft (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019). Laut dem am 9.10.2019 veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis sicherte sich die moderat islamistische Partei Ennahda die meisten Stimmen bei den Parlamentswahlen (BAMF 14.10.2019; vgl. DP 14.10.2019) und 52 der insgesamt 217 Sitze im Parlament. Auf Platz zwei landete die Partei Qalb Tounes (Herz von Tunesien), geführt vom Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui, mit 38 Sitzen (BAMF 14.10.2019; vgl. DP 14.10.2019). Beide Parteien schließen eine Koalition aus. Das Parlament ist stark zersplittert, was eine Regierungsbildung nach Ansicht von Beobachtern schwierig machen könnte (DP 14.10.2019).
Tunesiens designierter Ministerpräsident Habib Jemli hat Anfang 2020 eine Regierung aus unabhängigen Technokraten gebildet, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen (DS 10.1.2020). Regierungschef Jemli hatte aber nicht genügend Unterstützung für eine Koalitionsbildung bekommen (DW 21.1.2020). Daher wurde der frühere Tourismus- und Finanzminister Elyes Fakhfakh vom Präsidenten zum designierten Ministerpräsidenten ernannt (DW 21.1.2020; vgl. BAMF 18.11.2019).
Knapp fünf Monate nach der Parlamentswahl hat Tunesien eine neue Regierung. In der Vertrauensabstimmung bestätigte das Parlament in Tunis mit 129 von 217 möglichen Stimmen Premierminister Elyes Fakhfakh und dessen Ministerriege im Amt (DS 27.2.2020; vgl. DW 27.2.2020, NZZ 27.2.2020). Die Partei übernimmt in der Regierung die Leitung von sechs Ressorts. 17 der 32 Posten im neuen Kabinett werden von parteiunabhängigen Persönlichkeiten besetzt (DW 27.2.2020; vgl. BAMF 2.3.2020).
1.3.2 Sicherheitslage
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Anti-Terrorkampf bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach den tragischen Anschlägen im Jahr 2015 auf das Bardo Museum, eine Hotelanlage in Sousse sowie einen Bus der Präsidialgarde und dem schweren Angriff von IS-Milizen auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage verbessert. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren aber auch der inneren Sicherheit (AA 17.4.2020). Am 27.6.2019 wurden in Tunis zwei Anschläge gegen die Sicherheitskräfte verübt; eine Person wurde getötet und mehrere verletzt, darunter auch Zivilpersonen (EDA 30.6.2020; vgl. BAMF 1.7.2019).
Laut österreichischem Außenministerium gilt eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Am 4.4.2020 töteten tunesische Sicherheitskräfte in der Provinz Kasserine nahe der Grenze zu Algerien zwei Terroristen, die mit IS-Terroristen in Verbindung gebracht werden (BAMF 6.4.2020). Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen von Terrororganisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 30.6.2020). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 30.6.2020).
Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte weiterhin andauernde Ausnahmezustand wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land (AA 30.6.2020; vgl. BMEIA 30.6.2020) und gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft durchaus kritisch beobachtet wird (ÖB 11.2019; vgl. FH 4.3.2020). Dies gilt insbesondere für ein entsprechendes Gesetzesprojekt zum „Schutz der Sicherheitskräfte“ (ÖB 11.2019). Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit weiterhin zu rechnen (AA 30.6.2020). Der Notstandserlass ermächtigt die Behörden, Streiks oder Demonstrationen zu verbieten, die als Bedrohung der "öffentlichen Ordnung" gelten. Allerdings verfügen die Behörden somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, ohne formelle Anklage zu erheben, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 4.3.2020). Nach wochenlangen, friedlichen Protesten in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Tataouine, schlugen diese am 21.6.2020 in Gewalt um, nachdem Sicherheitskräfte einen Wortführer der Protestierenden verhaftet hatten. Die Demonstrierenden blockierten Straßen mit brennenden Reifen und warfen Steine auf die Sicherheitskräfte. Diese gingen mit Tränengas vor (BAMF 22.6.2020).
Die Sicherheitslage ist nach wie vor prekär, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei und Meldungen über vereitelte Anschläge. Die Sorge der Infiltration aus Libyen und anderen Konfliktzonen zurückkehrenden Islamisten tunesischen Ursprungs ist groß. Auch mit Hilfe ausländischer logistischer Unterstützung wurden die Grenzkontrollen drastisch verschärft und es wird auch im Land nach Rückkehrern gefahndet (ÖB 11.2019). Neben dem IS sind weiterhin Gruppen aktiv, die Al-Qaida oder anderen extremistisch-islamistischen Ideologien angehören. Beim mit Algerien seit Jahren geführten gemeinsamen Kampf gegen terroristische Gruppierungen im Grenzbereich besteht ein Pattverhältnis, das die Bewegungsfreiheit der Terrorzellen weitgehend einschränkt, aber nicht verhindert. Dennoch sind die Sicherheitskräfte auch hier bemüht, die Situation zunehmend unter Kontrolle zu bringen, wobei das Gelände den Terrorzellen gute Rückzugsmöglichkeiten bietet. Die Sicherheitslage in Libyen verfolgt die tunesische Regierung mit großer Sorge. Die Sicherheitskräfte an der Grenze zu Libyen, einschließlich Militär, wurden daher erheblich verstärkt (AA 17.4.2020).
1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020; AA 17.4.2020). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Allerdings schreitet die Justizreform seit der Revolution nur langsam voran (FH 4.3.2020; vgl. AA 17.4.2020; GIZ 6.2020a). Der Oberste Justizrat konnte seine Arbeit als neues Selbstverwaltungsorgan der Justiz erst aufnehmen, nachdem eine Gesetzesänderung die internen Konflikte der Richterschaft neutralisiert hatte. Als nächster Schritt soll die Konstituierung eines ordentlichen Verfassungsgerichts erfolgen; bislang wacht eine provisorische Instanz über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrem Inkrafttreten (AA 17.4.2020; vgl. ÖB 11.2019).
Mit dem Tod des ehemaligen Präsidenten Beji Caid-Essebsi wurden das Fehlen eines Verfassungsgerichts deutlich (ÖB 11.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Das führte zu einer fortgesetzten Anwendung repressiver Gesetze ohne die Möglichkeit, ihre Rechtmäßigkeit anzufechten (HRW 14.1.2020).
Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinander folgende Regierungen versuchen regelmäßig, die Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden 2016 von Tausenden von Juristen gewählt. Das Gericht, das die Verfassungsmäßigkeit von Dekreten und Gesetzen bewerten soll, war jedoch 2018 weder eingerichtet noch formell ernannt. Bis 2019 waren jedoch weder das Verfassungsgericht, noch seine formell ernannten Mitglieder eingerichtet worden (FH 4.3.2020).
Gesetzlich ist ein faires Verfahren vorgesehen, und die unabhängige Justiz gewährleistet dieses üblicherweise auch in der Praxis. Gemäß Angeklagten sind die gesetzlich garantierten Rechte nicht immer gewährleistet. Es gilt die Unschuldsvermutung. Angeklagte haben das Recht auf einen öffentlichen Prozess sowie auf einen Anwalt, der notfalls aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden muss. Sie haben das Recht, zu Zeugenaussagen Stellung zu nehmen und eigene Zeugen aufzurufen. Sie müssen in Beweismittel Einsicht nehmen können und müssen über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte informiert werden. Des Weiteren muss ihnen ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden (USDOS 11.3.2020).
1.3.4 Sicherheitsbehörden
Dem Innenministerium untersteht die Polizei (Exekutivfunktion in Städten) und die Nationalgarde bzw. Gendarmerie (Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und Grenzsicherung). Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wie wohl es gemäß NGOs vereinzelt zu Misshandlungen von Häftlingen kommt (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 6.2020a). Es mangelt an effektiven Strafverfolgungs- und Strafmechanismen bei Vergehen seitens der Sicherheitskräfte und diesbezügliche interne Untersuchungen sind von einem Mangel an Transparenz geprägt (USDOS 11.3.2020).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes, aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011, vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Die Kluft zwischen den Behörden für Inneres und der Bevölkerung konnte auch durch die Auflösung der Geheimpolizei („police politique“), die Symbol der staatlichen Repression war, nicht wieder geschlossen werden. Die Demonstranten forderten u.a. den Austausch von führenden Mitarbeitern im Innenministerium. Diese Forderung wurde zunächst nicht im erhofften Maße umgesetzt. Erst mit einiger Verspätung zog das Innenministerium personelle Konsequenzen und Verantwortliche auf verschiedenen Ebenen wurden versetzt, entlassen oder in den Vorruhestand versetzt. Eine von allen internationalen Partnern für notwendig erachtete umfassende Reorganisation des tunesischen Innenministeriums einschließlich der nachgeordneten Behörden wurde bislang noch nicht angegangen, es wurde aber im Sommer 2015 ein internationaler Kooperationsmechanismus etabliert, der zu mehr Transparenz und Koordination der Unterstützung führte (AA 17.4.2020).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 17.4.2020).
1.3.5 Folter und unmenschliche Behandlung
Artikel 23 der tunesischen Verfassung vom 26.1.2014 garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische oder körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29.6.2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. Eine innerstaatliche gesetzliche Grundlage wurde 2013 geschaffen. 2016 schließlich wählte das Parlament die Mitglieder der neuen „Nationalen Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung“. Zu ihren Hauptaufgaben gehören unangemeldete Besuche an allen Orten des Freiheitsentzugs, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Beschwerden an die Justizbehörde sowie die Abgabe von Empfehlungen zur Behebung von Missständen (AA 17.4.2020).
NGOs kritisierten die Regierung für ihre Anwendung des Antiterrorgesetzes, den Anschein von Straflosigkeit für Täter und für die Zurückhaltung bei der Untersuchung von Foltervorwürfen (USDOS 11.3.2020). Dutzende von Häftlingen gaben an, von der Polizei oder der Nationalgarde gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein. In vielen Fällen verweigerte die Polizei den Inhaftierten das Recht, ihren Anwalt oder ein Familienmitglied anzurufen, oder verweigerte ihnen eine ärztliche Untersuchung (AI 18.2.2020). Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte NGOs, wie die Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) oder die Organisation contre la Torture en Tunisie (OCTT), berichten kontinuierlich über entsprechende Einzelfälle sowie Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Bislang sei es jedoch in keinem einzigen Fall gelungen, eine Verurteilung von Amtspersonen oder ehemaligen Amtspersonen wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu erreichen. Abstrakte Befürchtungen, dass diese Delikte wieder zunehmen könnten, werden vor allem im Zusammenhang mit Terrorabwehrmaßnahmen geäußert (AA 2.3.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen stellten im Laufe des Jahres einen Rückgang der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung fest (USDOS 11.3.2020).
1.3.6 Korruption
Tunesien nimmt auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International (2019) Platz 74 von 180 ein (TI 2020; vgl. GIZ 6.2020a). Das Land schneidet nach dem Umbruch 2011 schlechter ab als noch unter Ben Ali. Vor allem die sogenannte kleine Korruption hat seitdem zugenommen. Im Alltag sind insbesondere Verkehrsdelikte und Verwaltungsangelegenheiten von Korruption betroffen, wo oft bestochen wird, um Verfahren zu beschleunigen oder Strafen zu entgehen (GIZ 6.2020a). Die Korruption bestimmt den sozialen Alltag von der banalen Bestechung eines Polizisten, bis zur Einschulung der Kinder in eine gut beleumundete Schule oder der Vergabe schlechter Schulnoten durch Lehrer/innen, die sich durch Nachhilfestunden ihr Gehalt aufbessern (ÖB 11.2019).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Beamte vor, und die Regierung hat einige Vorkehrungen getroffen, diese Gesetze umzusetzen, obwohl sie nicht immer wirksam sind (USDOS 11.3.2020). Die Instanz zur Korruptionsbekämpfung sensibilisiert für das Thema und übergibt regelmäßig mutmaßliche Korruptionsfälle an die Justiz, wo diese jedoch nicht prioritär behandelt werden (GIZ 6.2020a). Eine Reihe von Verhaftungen und Ermittlungen richteten sich auch gegen Politiker, Journalisten, Polizisten und Zollbeamte. Zu den Vorwürfen gehörten Veruntreuung, Betrug und die Annahme von Bestechungsgeldern (USDOS 11.3.2020).
1.3.7 Allgemeine Menschenrechtslage
Die tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthält umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen. Eine ständige Herausforderung bleibt die Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die neue Verfassung (AA 17.4.2020).
Tunesien verfügt über eine Reihe an Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen. Das Land schneidet allerdings auch nach dem Umbruch in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen regelmäßig schlecht ab. Eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit, Folter von Häftlingen und Attacken gegen Oppositionelle listet der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International auf. Seit dem Sturz Ben Alis hat sich die Situation zwar gebessert, allerdings kommt es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen, so die Internationale Menschenrechtsliga (FIDH) (GIZ 6.2020a).
Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren grundlegend verbessert. Sowohl wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen, als auch die offiziellen und informellen Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Meinungs- und Pressefreiheit, sowie auch das Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikationsnetzwerken wurden in den Artikeln 31 und 32 der Verfassung von 2014 ausdrücklich gestärkt. Die Medien berichten frei und offen in unterschiedlicher Qualität (AA 17.4.2020). Der Ausnahmezustand wird zur Rechtfertigung willkürlicher Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verwendet (AI 18.2.2020).
Die Öffnung der Medienszene hat in den letzten Jahren zum Entstehen einer lebendigen, teilweise wildwüchsigen Medienlandschaft geführt, die Missstände offen thematisiert (AA 17.4.2020). Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit somit gewährleistet und die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen, wiewohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 11.3.2020). Diese Einschränkungen finden sich z. B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen weiterhin mit Strafen rechnen. Ebenso existieren weiterhin Einschränkungen bei der Kritik an der Religion. Rechtlich verankert ist dies u.a. in Artikel 6 der Verfassung, der den „Schutz des Sakralen“ garantiert. Es kommt immer wieder zu einzelnen Fällen von fragwürdiger Strafverfolgung von Journalisten und freischaffenden Bloggern. Entsprechende Verfahren gegen Zivilisten werden oft von Militärgerichten geführt – eine Praxis, die von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird (AA 17.4.2020). Während Online- und Printmedien häufig regierungskritische Artikel veröffentlichen, üben Journalisten und Aktivisten dennoch zeitweise Selbstzensur als Resultat von Gewaltakten gegen Journalisten. Meinungsäußerungen, die „die öffentliche Ordnung oder Moral verletzen“ oder „absichtlich Personen stören, auf eine Art und Weise, die den öffentlichen Anstand beleidigen“ stehen weiterhin unter Strafe (USDOS 11.3.2020).
Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (AA 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Zu Einschränkungen kommt es mehrfach aufgrund des weiterhin gültigen Ausnahmezustands. Die Übergänge zwischen legitimen Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits und periodisch auftretenden gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen andererseits sind oft fließend. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Sicherheitsorgane friedliche Versammlungen und Demonstrationen in der Regel zuverlässig schützen, aber bei Rechtsverletzungen auch entsprechend robust auftreten. Nur vereinzelt kommt es dabei zu unverhältnismäßigem Einsatz polizeilicher Mittel (AA 17.4.2020).
Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (AA 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Zuge der Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche wird derzeit eine Reform des Vereinsrechts vorbereitet, die von der tunesischen Zivilgesellschaft sehr kritisch beobachtet wird, hinsichtlich ihrer abschließenden Gestalt aber noch nicht beurteilt werden kann (AA 17.4.2020).
Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Das Ministerium für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und den Menschenrechten ist für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten zuständig. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (USDOS 11.3.2020).
1.3.8 Todesstrafe
Das tunesische Strafgesetzbuch von 1913 sieht in seiner geltenden Fassung die Todesstrafe für Mord, Vergewaltigung mit Todesfolge sowie Landesverrat vor. Neue Straftatbestände, für die eine Sanktionierung mit der Todesstrafe vorgesehen ist, wurden durch das am 7.8.2015 in Kraft getretene Gesetz gegen Terrorismus und Geldwäsche geschaffen. Eine verfassungsrechtliche oder gesetzliche Aufhebung der Todesstrafe wurde in der Phase des demokratischen Übergangs seit 2011 diskutiert, fand jedoch im Parlament keine Mehrheit (AA 17.4.2020). Die Todesstrafe wird weiterhin verhängt, jedoch nicht mehr vollstreckt. Die letzte Vollstreckung fand 1991 statt. Seitdem befolgt Tunesien ein Moratorium über die Vollstreckung der Todesstrafe. Jede verhängte Todesstrafe wird in eine lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt (AA 17.4.2020; vgl. AI 18.2.2020; ÖB 11.2019).
1.3.9 Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.3.2020), Emigration sowie Wiedereinbürgerung und die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Die Situation bezüglich Bewegungsfreiheit hat sich seit 2011 substantiell verbessert. Allerdings können die Behörden unter dem breiten Mandat des Ausnahmezustands die Bewegungsfreiheit einzelner Personen beschränken. Davon waren tausende Menschen betroffen (FH 4.3.2020).
Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 17.4.2020).
1.3.10 Grundversorgung und Wirtschaft
Die Grundversorgung der Bevölkerung gilt als gut (AA 17.4.2020). Tunesien verfügt über eine moderne Wirtschaftsstruktur auf marktwirtschaftlicher Basis sowie wichtige Standortvorteile: Ein hoher Industrialisierungsgrad, gute Infrastruktur, Nähe zu Europa sowie qualifizierte Arbeitskräfte (AA 6.5.2019b) und Steuervorteile für Exportbetriebe ("Offshore-Sektor") (GIZ 6.2020c). Den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet der Dienstleistungssektor (ca. 50% aller Erwerbstätigen), gefolgt von der Industrie (32%) und der Landwirtschaft (ca. 25%) (AA 6.5.2019b; vgl. GIZ 6.2020c). Neben dem Bergbau, der einer der wichtigsten Sektoren der tunesischen Wirtschaft ist, spielen Landwirtschaft, Textilfabrikation und Tourismus eine wichtige Rolle für die tunesische Wirtschaft. Im Dienstleistungssektor spielen vor allem nach Tunesien ausgelagerte Callcenter französischer Firmen und IT-Unternehmen eine große Rolle. Außerdem gründen sich seit 2011 immer mehr Start-Ups. Der sogenannte Start Up Act, der im April 2018 verabschiedet wurde, soll aufstrebenden jungen Kleinunternehmen v.a. im IT-Bereich den Start erleichtern. Seine Umsetzung wird jedoch kritisiert (GIZ 6.2020c).
Der Förderung der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen kommt nach der Revolution große Bedeutung zu, da die politischen Ereignisse für einen deutlichen Einbruch der Wirtschaft gesorgt haben. Die Arbeitslosigkeit bleibt eines der dringlichsten Probleme des Landes. Die tunesische Wirtschaft ist auch mehr als sieben Jahre nach dem Umbruch nicht besonders konkurrenzfähig. Das Finanzgesetz 2018 hatte zu Beginn des Jahres massive Proteste ausgelöst (GIZ 6.2020c).
Die größten Herausforderungen liegen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (AA 6.5.2019; vgl. GIZ 6.2020c) und der Beschäftigungsförderung, der Verbesserung der arbeitsmarktorientierten Aus- und Fortbildung, sowie der Erhöhung des Investitionsniveaus im privaten und öffentlichen Sektor (AA 6.5.2019b). Die Arbeitslosigkeit bewegt sich zwischen 15 und 16%, wobei junge Menschen, Frauen, Akademiker (ca. 300.000) und die benachteiligten Regionen im Binnenland überproportional betroffen sind (AA 6.5.2019b; vgl. GIZ 6.2020c, ÖB 11.2019).
Um regionalen Ungleichheiten zu begegnen, hat Tunesien ein ambitioniertes Programm zur Regionalentwicklung vorgelegt (AA 6.5.2019b). Die aktuelle Regierung hat zur Verbesserung der Grundversorgung der Bevölkerung in den armen Gegenden des Südens und des Landesinnern eine Umwidmung der staatlichen Ausgabenprogramme weg vom gut entwickelten Küstenstreifen hin zu den rückständigeren Regionen vorgenommen (AA 17.4.2020).
Der staatliche Mindestlohn wurde nach der Revolution von 225 auf 380 Dinar monatlich (umgerechnet knapp 125 Euro) angehoben. Dies genügt kaum, um den Lebensunterhalt einer Person zu decken, geschweige denn, davon eine Familie zu ernähren. Laut einer aktuellen Untersuchung des Sozialministeriums leben rund 24% der Bevölkerung in Armut, d.h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (GIZ 6.2020c). Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar (ÖB 11.2019).
Fast ein Viertel der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, lebt in Armut. Nichtsdestotrotz verfügt das Land über eine relativ breite, weit definierte Mittelschicht aus selbständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten (deren Einkommen niedrig ist) und einer schmalen Oberschicht. Diese spaltet sich in alteingesessenes Bildungsbürgertum und ökonomische Elite (GIZ 6.2020b).
In Tunesien gibt es ein gewisses strukturiertes Sozialsystem. Es bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Basis-Schutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95%. Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien. Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 11.2019).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem. Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner, als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 17.4.2020).
1.3.11 Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 17.4.2020) und ist gewährleistet (BMEIA 30.6.2020). Eine weitreichende Versorgung ist in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen. Auch die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 17.4.2020). Zwar gibt es in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen, diese sind jedoch trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand: es mangelt an Ausstattung und Fachärzten, die vor allem in den Großstädten an der Küste angesiedelt sind. Darunter leiden vor allem bedürftige Patienten (GIZ 6.2020b).
In Einzelfällen kann es, insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten, Versorgungsprobleme geben. Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 17.4.2020). Seit dem Sommer 2018 fehlt es überdies immer häufiger an Medikamenten, die auf Grund von Zahlungsschwierigkeiten der Zentralapotheke nicht mehr eingekauft werden (GIZ 6.2020b).
Darüber hinaus gibt es ein weites Netz an Privatkliniken und niedergelassenen Ärzten von oft deutlich besserer Qualität. Tunesien gibt rund 6% seines Staatshaushaltes für das Gesundheitswesen aus. Die staatliche Krankenkasse CNAM ist für die Versicherung zuständig und erstattet Behandlungen in staatlichen Einrichtungen und teilweise auch Behandlungskosten bei niedergelassenen Ärzten. Ähnlich wie in Deutschland wird dabei ein Hausarzt-Modell praktiziert. Auch Medikamente werden teilweise erstattet (GIZ 6.2020b).
Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert. Ein Großteil der Ärzteschaft ist gut ausgebildet (z.T. auch im Ausland) und das Pflegepersonal ist günstig – die Basis für einen zunehmenden Gesundheitstourismus. Eine stark angestiegene Anzahl an Privatkliniken bedient meist Ausländer, u.a. zahlungskräftigen Libyer und Algerier. Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist nach einem dreistufigen System organisiert und dringend reformbedürftig: erweiterte Leistung der Bezirkskrankenhäuser, verstärkte Ausstattung der Regionalkrankenhäuser und Ausbau der Uni-Kliniken. Zwar beträgt der Radius weniger als 5 km zur Erlangung medizinischer Hilfe, jedoch ist die qualitative Ausstattung in den öffentlichen Krankenhäusern katastrophal: fehlende Spezialisten, Überbelegung, lange Wartezeiten, katastrophale sanitäre Zustände, geringe Anfangsgehälter für ausgebildete Ärzte sind Realität. Beim Aufsuchen eines Arztes muss der Behandlungspreis stets sofort entrichtet werden. Je nach Praxis (Krankenhaus, Klinik, Hospital, Fachgebiet) sind das zwischen 20 und 80 Dinar, also etwa 8-30 Euro. 2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe. Tatsächlich besteht eine Klassengesellschaft innerhalb der medizinischen Versorgung. Nur gut betuchte können sich Privat- und Spezialkliniken oder Ärztezentren leisten, wo die Versorgung hochpreisig, einwandfrei und an westlichen Standards angepasst ist (ÖB 11.2019).
1.3.12 Rückkehr
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrundeliegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung §35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bzw. 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im Jahr 2019 ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen nicht zur Anwendung bei Personen, die das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 17.4.2020).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 17.4.2020).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und limitierten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Sowohl IOM als auch UNHCR übernehmen die Registrierung, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Tunesien. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU sowie aus humanitären Programmen der Schweiz und Norwegens. Die Schweiz ist dabei einer der größten Geber und verfügt über zwei Entwicklungshilfebüros vor Ort. Wesentlich für eine erfolgreiche Reintegration ist es, rückkehrenden Migranten zu ermöglichen, eine Lebensgrundlage aufzubauen. Rückkehrprojekte umfassen z.B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben, oder im Bereich der Landwirtschaft. Als zweite Institution ist das ICMPD [International Centre for Migration Policy Development] seit 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sog. „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm) (ÖB 11.2019).
2. Beweiswürdigung:
Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:
2.1. Zum Verfahrensgang
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.2. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser, vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien (Stand Gesamtaktualisierung am 31.10.2019, letzte Information eingefügt am 30.6.2020). Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.
2.3. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen hinsichtlich der Lebensumstände des BF, seiner Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit sowie seiner Staatsangehörigkeit ergeben sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Protokoll vom 18.12.2019, AS 41 & 42) und vor der belangten Behörde (Protokoll vom 08.07.2020, S 143 & 145). Da der BF den österreichischen Behörden seinen tunesischen Reisepass vorlegen konnte, steht seine Identität zweifelsfrei fest.
Betreffend seinen Gesundheitszustand gab der BF zu Protokoll, gesund zu sein (Protokoll vor der belangten Behörde vom 18.12.2019, AS 19), an keinen Krankheiten bzw. Beschwerden zu leiden (Erstbefragungsprotokoll vom 18.12.2019, AS 47) und sich nicht in ärztlicher Behandlung zu befinden bzw. nicht regelmäßig Medikamente einzunehmen (Protokoll vor der belangten Behörde vom 08.07.2020, AS 142). Auch aus dem unstrittigen Verwaltungsakt ergeben sich keine gegenteiligen Hinweise. Daraus, aufgrund des erwerbsfähigen Alters des BF und aufgrund seiner bisherigen Tätigkeiten in Tunesien (Protokoll vom 08.07.2020, AS 145) lässt sich auf dessen Arbeitsfähigkeit und das Unterkommen am tunesischen Arbeitsmarkt schließen.
Zwar ergibt sich, dass der BF im Mai 2018 aus Tunesien nach Deutschland ausgereist ist, jedoch konnte die genaue Aufenthaltsdauer in Deutschland und Italien sowie danach erneut in Deutschland aufgrund der unterschiedlichen Angaben des BF nicht eindeutig festgestellt werden. Entsprechend der Erstbefragung verblieb dieser zuerst acht Monate in Deutschland (Protokoll vom 18.12.2019, AS 49), wohingegen er im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde anführte, er sei sechs Monate in Deutschland aufhältig gewesen (Protokoll vom 08.07.2020, AS 146). Hinsichtlich seines Italienaufenthalts gab er zuerst an, er habe sich 20 Tage in Italien aufgehalten (Protokoll vom 18.12.2019, AS 49), bei seiner niederschriftlichen Einvernahme jedoch habe es sich um eine Aufenthaltsdauer von einem Monat gehandelt (Protokoll vom 08.07.2020, AS 146), bevor er nach Deutschland zurückkehrte. Betreffend die zeitliche Dauer seines zweiten Aufenthalts in Deutschland führte der BF im Zuge der Erstbefragung aus, sieben Monate in Deutschland verblieben zu sein (Protokoll vom 18.12.2019, AS 49), widersprüchlich dazu gab er jedoch im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme einen Aufenthaltszeitraum von einem Jahr an (Protokoll vom 08.07.2020, AS 146), bevor er nach Österreich weiterreiste. Dass der BF seit mindestens 16.12.2019 in Österreich aufhältig war, ergibt sich einerseits aus den übereinstimmenden Angaben des BF im Zuge seiner ersten niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 18.12.2019, AS 19), seiner Erstbefragung (Protokoll vom 18.12.2019, AS 49) und seiner zweiten niederschriftlichen Einvernahme (Protokoll vom 08.07.2020, AS 145), andererseits ist dieser Zeitpunkt auch mit dem Anhalteprotokoll I der Landespolizeidirektion XXXX vom 17.12.2019 und den Angaben des BF im Zuge der Anhaltung in Einklang zu bringen. Aus einem aktuellen Auszug aus dem Zentralen Melderegister lässt sich entnehmen, dass der BF bis zum 11.08.2020 melderechtlich mit Nebenwohnsitz im Bundesgebiet erfasst war, seitdem jedoch keine neuerliche Wohnsitzmeldung mehr erfolgt ist, weswegen auch der derzeitige Aufenthalt des BF nicht festgestellt werden konnte.
Die Feststellungen zum Schulbesuch des BF ergeben sich aus den diesbezüglichen übereinstimmenden Angaben (Erstbefragungsprotokoll vom 18.12.2019, AS 43; Protokoll vom 08.07.2020, AS 145). Hinsichtlich der Beschäftigung des BF als XXXX , später als Unternehmer in Tunesien gilt es, auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des BF im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde zu verweisen (Protokoll vom 08.07.2020, S 145).
Der Umstand, dass der BF in Tunesien familiäre Anknüpfungspunkte in der Person seiner Eltern und Geschwister aufweist, ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF im Rahmen seiner Erstbefragung (Protokoll vom 18.12.2019, AS 45) und jenen der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 08.07.2020, AS 144). Hinsichtlich etwaiger Verwandten oder Familienangehörigen in Österreich führte der BF durchwegs an, solche nicht aufzuweisen (Protokoll vom 18.12.2019, AS 45; Protokoll vom 08.07.2020, S 145). Dass der BF über keine maßgeblichen persönlichen oder familiären Beziehungen im Bundesgebiet verfügt, ergibt sich überdies aus dem Umstand seines erst kurzen Aufenthaltes in Österreich, dem auch die Feststellung hinsichtlich des Nichtvorliegens maßgeblicher Integrationsmerkmale geschuldet ist. Dazu führte der BF auch selbst aus, dass er in Österreich keiner legalen Beschäftigung nachgehe, nicht Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Institution sei, zudem legte er auch keine sonstigen integrationsbekräftigenden Urkunden vor. Eine außergewöhnliche Integration des BF im Bundesgebiet war somit nicht feststellbar.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.
2.4. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde bzw. das Gericht muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.
Generell ist zur Glaubwürdigkeit eines Vorbringens auszuführen, dass eine Aussage grundsätzlich dann als glaubhaft zu qualifizieren ist, wenn das Vorbringen hinreichend substantiiert ist; der BF sohin in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über von ihm relevierte Umstände bzw. Erlebnisse zu machen. Weiters muss das Vorbringen plausibel sein, d.h. mit überprüfbaren Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung entspringenden Erkenntnissen übereinstimmen. Hingegen scheinen erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage angezeigt, wenn der BF den seiner Meinung nach, seinen Antrag stützenden Sachverhalt bloß vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt. Weiteres Erfordernis für den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist, dass die Angaben in sich schlüssig sind; so darf sich der BF nicht in wesentlichen Passagen seiner Aussage widersprechen.
Es ist anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines BF und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – z.B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z.B. VwGH 25.1.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z.B. VwGH 22.2.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.
Der BF brachte bei seiner ersten niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde, in dessen Zuge er auch seinen Asylantrag stellte, vor, er werde von der tunesischen Polizei aus politischen Gründen mit dem Tode bedroht (Protokoll vom 18.12.2019, AS 20). Im Zuge seiner Erstbefragung am selben Tag führte er aus, er sei gegen das Regime gewesen, weshalb dieses gegen ihn gekämpft und ihm Druck gemacht habe. Niemand habe beim BF einkaufen gehen dürfen und es habe auch zwei Mordversuche gegen den BF gegeben.
Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 08.07.2020 gab der BF an, der Vater des BF sei politisch aktiv gewesen und nach dem Tode seines Bruders hätten die Probleme begonnen. Zweimal habe man ihn mit einem schwarzen Auto umbringen wollen, welches von den Sicherheitsbehörden stammen würden. Sie würden Probleme beim Verkauf und ihm einen schlechten Ruf machen, Kredite würden dem BF zwar versprochen, jedoch nicht genehmigt werden. Während der Coronakrise hätten sie auch das Feld des BF verbrannt, wobei die alarmierte Feuerwehr, welche lediglich 15 Minuten entfernt sei, nicht gekommen wäre. Auch die Polizei würde nicht kommen. 2016 sei der BF auch geschlagen worden.
Hinsichtlich dem Vorbringen des BF im Rahmen der Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde ergeben sich bereits hinsichtlich der Aufenthalte in Deutschland und Italien erhebliche zeitliche Widersprüche, wie bereits in der Beweiswürdigung unter 2.3 ausgeführt.
Auch hinsichtlich seiner Familienangehörigen machte der BF widersprüchliche Angaben. So führte er im Rahmen seiner Erstbefragung im Dezember 2019 noch an, er habe vier Brüder und drei Schwestern (Protokoll vom 18.12.2019, AS 45), im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme waren es jedoch vier Schwestern und vier Brüder, wobei der BF hierbei erstmalig angab, einer der Brüder sei 1997 ermordet worden (Protokoll vom 08.07.2020, AS 144), was er bei seiner Erstbefragung gänzlich unerwähnt ließ. Auch divergierte das Alter der Geschwister teilweise um mehrere Jahre. Betreffend das Alter der Eltern gestalteten sich die Altersangaben des BF als noch gravierender auseinanderfallend. Während er im Zuge seiner Erstbefragung angab, seine Mutter wäre 64, der Vater 67 Jahre alt (Protokoll vom 18.12.2019, AS 45), so gab der BF bei seiner niederschriftlichen Einvernahme zu Protokoll, seine Mütter wäre 72, der Vater 74 Jahre alt.
In Zusammenhang mit dem Tod des Bruders als Zeitpunkt des Beginns der Probleme des BF gilt es anzumerken, dass der BF im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme angegeben hatte, dass sein Bruder 1997 ermordet worden sei, somit zu einem Zeitpunkt, zu dem der BF erst zwischen acht und neun Jahre alt gewesen war. Die Ausreise des BF erfolgte jedoch entsprechend seines Visums erst im Jahr 2018, somit 21 Jahre später. Auch war es bei der niederschriftlichen Einvernahme nicht mehr der BF selbst, wie im Zuge der Erstbefragung angegeben, welcher politisch aktiv gewesen sei (Protokoll vom 18.12.2019, AS 51), sondern war es dessen Vater, der eine politische Aktivität entfaltet hätte (Protokoll vom 08.07.2020, AS 146). Dazu führte der BF im Widerspruch zu seinen Angaben im Dezember 2019 aus, er selber habe sich in Tunesien weder politisch noch religiös betätigt. Weiters führte er aus, dass sich seine Familienangehörigen in Tunesien nicht politisch bzw. religiös betätigen würden, was sich wiederum als widersprüchlich zu seinen vorherigen Angaben im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme darstellt. Auch auf neuerliche Nachfrage, ob er denn jemals religiös oder politisch, konkret und persönlich einer Verfolgung ausgesetzt gewesen ist, antwortete der BF mit „nein“ (Protokoll vom 08.07.2020, AS 148).
Insgesamt blieb der BF auch im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde sehr oberflächlich, vage, detailarm und, wie in den obigen Absätzen ausgeführt, widersprüchlich. Eine narrative und konkludente Wiedergabe der Geschehnisse lässt der BF ebenso vermissen wie die Schilderung ausgefallener und auch nebensächlicher Einzelheiten, wie diese typischerweise bei einem wahrheitsgetreuen Vorbringen auftreten. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Menschen über persönlich Erlebtes, insbesondere bei prägenden Ereignissen, detailreich, unter Angabe der eigenen Gefühle und unter spontaner Rückerinnerung an unwesentliche Details und Nebenumstände berichten. Beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte ist zu erwarten, dass der Erzählende nicht nur Handlungsabläufe schildert, sondern sich selbst in die Schilderung einbaut; dass eigene Emotionen, Erlebniswahrnehmung und Verhalten zu erklären versucht werden; dass Dialoge und Interaktionen mit anderen Personen geschildert werden. Dies gilt insbesondere bei derart prägenden Ereignissen, die so gravierend auf die Lebenssituation eines Menschen einwirken, dass dieser sich letztlich veranlasst sieht, sein Heimatland zu verlassen. Hinsichtlich dem vom BF vorgebrachten zweimaligen Versuch, ihn zu ermorden, führte dieser lediglich unsubstantiiert an, es würden „immer schwarze Autos zu ihm kommen“, welche von den Sicherheitsbehörden sein würden. Weitere Einzelheiten und Details konnte der BF trotz Nachfrage der belangten Behörde nicht vorbringen.
Auch die vorgelegten Fotos, welche einen beschädigten PKW darstellen, vermögen nichts zur Glaubhaftmachung des Vorbringens des BF beizutragen, zumal alleine aus Bildern weder hervorgeht, dass es sich tatsächlich um das Auto des BF handelt, noch, dass es sich dabei um einen Angriff auf den BF gehandelt habe, zumal die Beschädigungen des Autos auch im Zuge eines gänzlich anderen Vorfalls bzw. Unfalles entstanden sein könnten. Sie sind daher nicht geeignet, einen Vorfall oder einen Angriffshergang gegen die Person des BF festzustellen. Auch die vom BF im Zuge der Beschwerde vorgelegten Youtube-Videos angeblicher Regimegegner entfalten hinsichtlich der Einschätzung der konkreten Situation des BF keinerlei Relevanz, zumal es sich nicht um Videos des BF, sondern um Videos gänzlich anderer Personen handelt. Ebenso vermag auch das Video einer brennenden Dattelplantage keinerlei Entscheidungsrelevanz zu entfalten, da auch hier die Brandursache bzw. generell die Frage, ob die dargestellte Plantage überhaupt dem BF gehört, nicht allein durch die Vorlage eines Videos geklärt werden kann.
Auch das Vorbringen, im Jahr 2016 geschlagen worden zu sein, erweist sich als sehr vage und oberflächlich, zumal der BF nicht einmal explizit anführte, von wem er geschlagen worden sei.
Würde tatsächlich ein Verfolgungsbestreben aufgrund eines persönlichen Problems mit dem BF seitens des tunesischen Regimes bestehen, so wäre es dem BF nicht ohne weiteres möglich gewesen, einfach ein Visum zu beantragen und unbehelligt per Flugzeug mit seinem eigenen Reisepass auszureisen, zumal entsprechend seiner eigenen Angaben er ja gerade Probleme wegen „seines Namens“ gehabt habe. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass keiner gewusst habe, wo sich der BF im Zeitraum der Antragstellung des Visums bis zur Ausreise aus Tunesien aufgehalten habe, da spätestens bei der Beantragung des Visums der Name des BF bekannt geworden ist und folglich konkrete Verfolgungsschritte gegen den BF hätten gesetzt werden können, was jedoch entsprechend dessen Angaben gerade nicht erfolgt ist.