TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/24 I415 2167760-1

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Veröffentlicht am 24.08.2020
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Entscheidungsdatum

24.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I415 2167760-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes Lässer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Algerien, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom 18.07.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.08.2020, zu Recht erkannt:

A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Am 03.01.2016 brachte die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) einen Antrag auf Zuerkennung des internationalen Schutzes gemäß § 3 AsylG 2005 ein. Dazu wurde sie am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer niederschriftlichen Erstbefragung unterzogen, im Zuge derer sie befragt nach ihrem Fluchtgrund anführte, sie sei zum Christentum konvertiert, wovon ihre muslimische Familie nichts wisse und welche sie bei Kenntnis umbringen würde. Sie wolle ein sicheres Leben haben, eine Rückkehr in ihre Heimat sei ihr nicht möglich.

2.       Mit Schreiben vom 11.01.2017 erkundigte sich die BF schriftlich bei dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde, BFA) hinsichtlich des Status ihres Asylantrags.

3.       Seitens der Volksanwaltschaft erging mit Datum 03.05.2017 eine Anfrage an den Bundesminister für Inneres hinsichtlich einer zeitlichen Einschätzung weiterer Verfahrensschritte bzw. des Verfahrensabschlusses.

4.       Am 17.07.2017 fand vor der belangten Behörde die niederschriftliche Einvernahme der BF statt. Hinsichtlich ihrer Fluchtgründe führte sie präzisierend aus, sie habe Algerien aus familiären Gründen verlassen. Ihr Vater habe sich von ihrer Mutter scheiden lassen, sei nicht mehr für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen und habe das gemeinsame Haus verlassen. Die Mutter habe Männer mit nachhause gebracht, einer davon habe die BF vergewaltigt. Der von der Mutter verursachte Skandal sei schließlich der BF zur Last gelegt worden, weshalb der Vater dann das Haus bekommen habe und die BF und ihre Mutter zum Onkel übersiedeln hätten müssten. Dieser habe die BF als Hure bezeichnet und erniedrigt, sie geschlagen und auch ihre Mutter sehr schlecht behandelt. Trotz Weglaufens habe die Polizei sie immer wieder nach Hause zurückgebracht. Niemand habe die BF haben wollen, weder ihr Bruder noch ihr Vater. Sie sei schließlich in den Irak gegangen, wo sie einer Beschäftigung nachgegangen und Ende 2012, Anfang 2013 zum Christentum konvertiert sei. Sie befürchte Bestrafung durch den Onkel aufgrund ihrer Konversion.

5.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.07.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Algerien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der BF nicht erteilt (Spruchpunkt III., erster Satz), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III., zweiter Satz) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Algerien zulässig sei (Spruchpunkt III., dritter Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

6.       Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig mit Schriftsatz vom 07.08.2017, bei der belangten Behörde eingelangt am selben Tag, durch ihre Rechtsvertretung Beschwerde erhoben, mit welcher inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert wurde. Die Behörde habe es verabsäumt, den Fragenkomplex „außerehelicher Geschlechtsverkehr/Entehrung“ zu ermitteln, weiters auch die Situation für Konvertiten/Christen in Algerien sowie die konkreten Lebensbedingungen für RückkehrerInnen. Verfolgungshandlungen würden zudem nicht nur vom Onkel der BF ausgehen. Aufgrund der falschen Feststellungen sei die Beweiswürdigung mangelhaft und die rechtliche Beurteilung falsch. Auch weise die BF vorbildliche Integrationsbemühungen auf. Beantragt werde daher, den angefochtenen Bescheid zu beheben und der BF den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, amtswegig alle nicht geltend gemachten, zu Lasten der BF gehenden Rechtswidrigkeiten aufzugreifen, in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt II. zu beheben und den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt III. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung für die Dauer unzulässig erklärt und ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG erteilt werde. In eventu werde weiters beantragt, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

7.       Mit Schriftsatz vom 16.08.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 17.08.2017, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

8.        Am 13.08.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der BF, ihrer Rechtsvertretung, eines Dolmetschers für arabische Sprache, des Zeugen A.M.S. sowie in Abwesenheit eines Vertreters der belangten Behörde abgehalten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die volljährige BF ist geschieden, kinderlos, algerische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Amazigh an. Ihre Identität steht fest. Die BF war muslimischen Glaubens, bevor sie Ende 2012, Anfang 2013 zum Christentum konvertierte. Ihre Taufe fand im Dezember 2015 im Irak statt. Die BF ist allerdings nicht aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus konvertiert.

Die BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie an Depressionen, welche jedoch nicht das Maß einer lebensbedrohlichen Erkrankung erreichen. Die BF ist arbeitsfähig.

Sie stammt aus Algerien, wo sie auch in XXXX den Großteil ihres Lebens verbrachte. Im Zeitraum von 2011 und 2015 lebte und arbeitete die BF im Irak, zuvor war sie drei Monate in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Im Juli 2015 reiste die BF für eine Woche nach Algerien, um sich einen neuen Reisepass ausstellen zu lassen, bevor sie wieder in den Irak zurückkehrte. Schließlich reiste die BF per Flugzeug legal mittels Visum von Erbil, Irak, über Jordanien bis nach Österreich/Wien. Seit (mindestens) 03.01.2016 ist die BF durchgehend in Österreich aufhältig.

In Algerien besuchte die BF die Grundschule, anschließend die Mittelschule sowie eine allgemeinbildende höhere Schule, bevor sie vier Jahre lang an der Universität in XXXX studiert und ihr Studium auch abschloss. Im Irak arbeitete die BF in einem Hotel an der Rezeption.

Familiäre Anknüpfungspunkte hat die BF in Algerien keine mehr. Eine Schwester der BF, zu der diese auch Kontakt pflegt, lebt in Kanada. Zum Bruder hat die BF keinen Kontakt. Beide Elternteile der BF sind verstorben. In Österreich leben keine Verwandte der BF.

Seit dem Frühjahr 2018 hat die BF in Österreich einen Freund, den britischen Staatsangehörigen A.M.S., bei dem sie auch seit 26.08.2019 an derselben Adresse melderechtlich erfasst ist.

Die BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und geht ansonsten keiner Beschäftigung nach.

Hinsichtlich ihrer Integration legte die BF folgende Urkunden vor: Bestätigung vom Verein XXXX vom 03.02.2017 hinsichtlich der Tätigkeit der BF als XXXX, Bestätigung als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Zeitraum von Oktober 2016 bis März 2017 im XXXX Pflege- und Betreuungszentrum XXXX vom 20.06.2017, Integrationsbestätigungen des Arbeitskreises XXXX vom 14.07.2017 und vom 26.07.2017, ÖSD-Zertifikat Deutsch A2 vom 20.04.2017, Kursbesuchsbestätigung der Sprachschule XXXX zu einem Deutschkurs auf Niveau B1 vom 10.07.2017, Heiratsurkunde des Standesamtes XXXX vom XXXX hinsichtlich der Ehe mit dem österreichischen Staatsangehörigen M.H.F., ÖSD-Zertifikat Deutsch B1 vom 04.08.2017 am Prüfungszentrum der Sprachschule XXXX , ÖSD Zertifikat Deutsch B1 vom 13.07.2018 am Prüfungszentrum „XXXX“, Kulturpass der Caritas vom 02.09.2019, Mitgliedsausweis der XXXX, Fitnessstudio-Abo XXXX mit Mitgliedschaftsbeginn 01.09.2019, Teilnahmebestätigung Deutschkurs auf Nivea B2 (Teil 1 von 2) vom 27.06.2019, Zeugnis zur Integrationsprüfung vom 07.02.2020 auf Niveau B1, sowie diverse Empfehlungsschreiben sowohl älteren als auch aktuelleren Datums. In Ermangelung von Unterlagen kann nicht festgestellt werden, dass die BF an sonstigen beruflichen Aus- oder Weiterbildungen teilgenommen hat. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde festgestellt, dass die BF bereits gut Deutsch spricht.

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer hinreichenden Integration der BF in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden.

Die BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtmotiven und der individuellen Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin:

Entgegen ihrem Fluchtvorbringen ist die BF in Algerien keiner asylrelevanten Verfolgung aufgrund ihrer Konversion/religiösen Zugehörigkeit ausgesetzt bzw. auch sonst keiner asylrelevanten Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung.

Die BF ist im Irak zum Christentum konvertiert. Die Konversion erfolgte jedoch nicht aus ihrer tiefen inneren Überzeugung, sodass für den Fall der Rückkehr nach Algerien nicht davon auszugehen ist, dass sie eine Verfolgung zu befürchten hätte.

Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Die BF verfügt über keine sonstige Aufenthaltsberechtigung. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der BF nach Algerien eine Verletzung von Art 2, Art 3 oder auch der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention nach sich ziehen würde. Die BF ist auch nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht.

Der BF ist im Falle einer Rückkehr nach Algerien nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Algerien:

Algerien gilt als sicherer Herkunftsstaat.

Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat (Gesamtaktualisierung am 14.6.2019, letzte Information eingefügt am 26.6.2020) der BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

1.3.1 Politische Lage

Nach der Verfassung von 1996 ist Algerien eine demokratische Volksrepublik (AA 20.6.2019). Algerien, das größte Land Afrikas, gilt als wichtiger Stabilitätsanker in der Region (KAS 27.2.2019). Der Präsident wird für fünf Jahre direkt gewählt, seine Amtszeit ist seit der letzten Verfassungsreform im Jahr 2016 auf zwei Mandate begrenzt. Neben der nach Verhältniswahlrecht (mit Fünfprozent-Klausel) gewählten Nationalen Volksversammlung (Assemblée Populaire Nationale) besteht eine zweite Kammer (Conseil de la Nation oder Sénat), deren Mitglieder zu einem Drittel vom Präsidenten bestimmt und zu zwei Dritteln von den Gemeindevertretern gewählt werden (AA 20.6.2019). Die Gewaltenteilung ist durch die algerische Verfassung von 1996 gewährleistet, jedoch initiiert oder hinterfragt das Parlament seither selten Gesetzesvorschläge der Regierung und die Macht hat sich innerhalb der Exekutive zunehmend gefestigt. Präsident Bouteflika regierte weitgehend durch Präsidialdekret (BS 29.4.2020). Der Senatspräsident vertritt den Staatspräsidenten (AA 20.6.2019).

Im Februar 2019 entstand in Algerien eine Massenbewegung, welche sich mit dem arabischen Wort für Bewegung „Hirak“ beschreibt. Die algerischen Proteste begannen, nachdem der damals amtierende Präsident Abdelaziz Bouteflika seine fünfte Kandidatur für die Präsidentschaftswahl ankündigte. Zunächst forderten die Demonstrierenden den Rücktritt des Präsidenten, welcher dieser Forderung schließlich nachkam. Die Proteste endeten jedoch nicht mit dem Rücktritt Bouteflikas, bis Ende März 2020 wurde jeden Freitag auf den Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo demonstriert und die Veränderung des gesamten politischen Systems gefordert (IPB 12.6.2020; vgl. RLS 7.4.2020, HRW 14.1.2020, AA 17.4.2019, BAMF 18.2.2019). Die Proteste [gingen] ungemindert weiter (RLS 7.4.2020 vgl. Standard 18.2.2020, Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019) und verliefen meist friedlich (IPB 12.6.2020; vgl. BAMF 25.2.2019 Standard 13.12.2019, DF 9.12.2019), dennoch setzte die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen (BAMF 25.2.2019; vgl. TB 22.2.2019, AI 18.2.2020). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden die Hirak-Märsche ab Ende März 2020 ausgesetzt, der Aktivismus wurde ins Internet verlagert (IPB 12.6.2020; vgl. ARI 7.4.2020, RLS 7.4.2020).

Während die Staatsführung mit behutsamen Konzessionen und vom Hirak misstrauisch beäugten Reformversprechen versuchte, die Bewegung auszubremsen, geht der Sicherheitsapparat weiter mit Repressalien gegen Demonstranten und Oppositionelle vor (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020, IPB 12.6.2020). Fast 1.400 Hirak-Aktivisten müssen sich mittlerweile vor Gericht verantworten, mehrere hundert sitzen schon hinter Gittern (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020). Der konsequent friedlich agierende Hirak war führungslos und nur partiell strukturiert. Das Regime verfolgte die Strategie des Aussitzens (Standard 18.2.2020). Versuche der Regierung, Teile der Bewegung zu kooptieren oder untereinander aufzuspalten (IPB 12.6.2020), oder die friedlichen Proteste in offene Gewalt umschlagen zu lassen, waren nicht erfolgreich (Standard 13.12.2019).

Eine neue Präsidentschaftswahl wurde für den 4.7.2019 angesetzt und wegen der Proteste verschoben (HRW 14.1.2020; vgl. FAZ 12.12.2019). Schließlich wurde am 12.12.2019 Abdelmadjid Tebboune mit 58,15% der Stimmen zum neuen Präsidenten der Republik gewählt (TSA 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Spiegel 13.12.2019, BBC 13.12.2019). Von den fünf zugelassenen Kandidaten waren drei in früheren Regierungen unter dem ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika vertreten (Spiegel 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, ARTE 14.12.2019). Auch der Wahlsieger Tebboune war unter Bouteflika mehrfach Minister und im Jahr 2017 drei Monate lang Ministerpräsident (DF 14.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019).

Etwa 24 Millionen Menschen waren wahlberechtigt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019). Viele Menschen boykottierten den Urnengang, weil die zugelassenen Kandidaten in ihren Augen Marionetten des alten Bouteflika-Regimes waren (ARTE 14.12.2019; vgl. Guardian 13.12.2019). Mehrere Oppositionsparteien wollten einen gemeinsamen Gegenkandidaten aufstellen - konnten sich allerdings nicht einigen (TB 22.2.2019; vgl. TS 26.3.2019). Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 40 Prozent (TSA 13.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019, ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, die je bei einer Präsidentschaftswahl in Algerien verzeichnet wurde (Guardian 13.12.2019). Die Wahlbehörde zeigte sich mit dem Verlauf des Wahltages zunächst zufrieden; in 95 Prozent der Wahllokale sei der Betrieb reibungslos angelaufen (FAZ 12.12.2019). Es waren keine ausländischen Wahlbeobachtermissionen zugelassen (Reuters 12.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

Der Wahltag selbst wurde durch Proteste und Aufrufe zum Boykott der Wahlen beeinträchtigt (BBC 13.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Lokale Medien berichteten von zahlreichen Zwischenfällen. In der Hauptstadt Algier waren Tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die Wahl zu protestieren (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019). Zentrum des Widerstandes gegen die Abstimmung war die Berberregion Kabylei im Osten des Landes (Standard 13.12.2019), wo es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Wahllokale wurden mit Backsteinen und Zement verschlossen, Wahlunterlagen in Brand gesetzt. Laut Medienberichten griffen die Sicherheitskräfte hart durch. Die Polizei setzte Tränengas ein. Vertreter der sogenannten Hirak-Protestbewegung beklagten Hunderte verhaftete und verletzte Menschen (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019; BBC 13.12.2019).

In Tizi Ouzou und Bejaia sind die Wahlbüros aus Sicherheitsgründen geschlossen worden (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019, TSA 13.12.2019). Der Wahlvorgang wurde auch in Boumerdès, Bouira, Bordj Bou Arreridj, Sétif und Jijel unterbrochen (TSA 13.12.2019). In Bouira hatten Demonstranten das Büro der Wahlkommission in Brand gesetzt (Spiegel 13.12.2019). In Béjaïa wurde ein Wahllokal überfallen und die Urnen zerstört (Reuters 12.12.2019; vgl. Standard 13.12.2019). Die Staatsführung um Armeechef Gaïd Salah sah die Wahlen als Mittel, die politische Krise zu beenden und die Legitimität der politischen Führung zu erneuern (Standard 12.12.2019; vgl. Reuters 12.12.2019, Guardian 13.12.2019).

Viele Demonstranten kündigten an, die offiziellen Ergebnisse nicht anzuerkennen (Reuters 12.12.2019). Der Wahlsieg von Tebboune löste erneut Massenproteste aus (ARTE 14.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019). Der neue Präsident ist bei den vielen Demonstranten genauso verhasst wie seine vier Kontrahenten bei der Präsidentschaftswahl. Die Protestbewegung will weitermachen, bis das Regime aus Vertrauten des ehemaligen Machthabers Bouteflika tatsächlich fällt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

1.3.2 Sicherheitslage

Demonstrationen fanden von Mitte Februar 2019 bis Ende März 2020 fast täglich in allen größeren Städten statt. Auch wenn diese weitgehend friedlich verliefen, konnten vereinzelte gewaltsame Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden (AA 5.5.2020; vgl. Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019, IPB 12.6.2020). Die Sicherheitslage in gewissen Teilen Algeriens ist weiterhin gespannt. Es gibt immer noch terroristische Strukturen, wenn auch reduziert (ÖB 11.2019; vgl. BS 29.4.2020). Es gibt nach wie vor bewaffnete Splittergruppen, und es herrscht nach wie vor eine Sicherheitswarnung, insbesondere für die Süd- und Ostgrenze, für den Süden und die Berberregionen des Landes. Seit 2014 hat es keine Entführungen mehr gegeben (BS 29.4.2020; vgl. BMEIA 8.5.2020, AA 5.5.2020), In den vergangenen zwei Jahren gab es keine größeren terroristischen Vorfälle (BS 29.4.2020).

Der djihadistische Terrorismus in Algerien ist stark zurückgedrängt worden; Terroristen wurden Großteils entweder ausgeschaltet, festgenommen oder haben oft das Land verlassen, was zur Verlagerung von Problemen in die Nachbarstaaten, z.B. Mali, führte. Gewisse Restbestände oder Rückzugsgebiete sind jedoch v.a. in der südlichen Sahara (so z.B. angeblich Iyad ag Ghali) vorhanden. Gruppen, wie die groupe salafiste pour la prédication et le combat (GSPC), die den 1997 geschlossenen Waffenstillstand zwischen dem algerischen Militär und der AIS nicht anerkannte, sich in die Saharagebiete zurückzog und 2005 mit Al-Qaida zur AQIM verband, sind auf kleine Reste reduziert und in Algerien praktisch handlungsunfähig. Inzwischen hat sich diese Gruppe wieder mehrmals geteilt, 2013 u.a. in die Mouvement d’unité pour je jihad en Afrique occidentale (MUJAO). Ableger dieser Gruppen haben den Terroranschlag in Amenas/Tigentourine im Jänner 2013 zu verantworten. 2014 haben sich mit dem Aufkommen des „Islamischen Staates“ (IS) Veränderungen in der algerischen Terrorismusszene ergeben. AQIM hat sich aufgespalten und mindestens eine Teilgruppe, Jund al-Khilafa, hat sich zum IS bekannt. Diese Gruppe hat die Verantwortung für die Entführung und Enthauptung des französischen Bergführers Hervé Gourdel am 24.9.2014 übernommen. Dies war 2014 der einzige Anschlag, der auf einen Nicht-Algerier zielte. Ansonsten richteten sich die terroristischen Aktivitäten ausschließlich auf militärische Ziele (ÖB 11.2019).

Der interkommunale Konflikt in der Region Ghardaia mit gewalttätigen Zusammenstößen zwischen 2013 und 2015 wurde durch eine starke Militärpräsenz unter Kontrolle gebracht. Islamistische Extremisten, die eine echte Bedrohung für die staatliche Identität darstellen, sind nach wie vor eine sehr kleine Minderheit. Sie werden von der Bevölkerung kaum oder gar nicht unterstützt (BS 29.4.2020).

Die Sicherheitssituation betreffend terroristische Vorfälle hat sich inzwischen weiter verbessert, die Sicherheitskräfte haben auch bislang unsichere Regionen wie die Kabylei oder den Süden besser unter Kontrolle, am relativ exponiertesten ist in dieser Hinsicht noch das unmittelbare Grenzgebiet zu Tunesien, Libyen und zu Mali. Es kommt mehrmals wöchentlich zu Razzien und Aktionen gegen Terroristen oder deren Unterstützer (ÖB 11.2019).

Nach Angaben der offiziellen Armeepublikation „El Djeich“ (andere Quellen sind nicht öffentlich zugänglich) wurden 2018 32 Terroristen getötet, 25 festgenommen, 132 ergaben sich, weiters wurden 170 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2019; vgl. ÖB 12.2019). Dieselbe Quelle gibt für das Jahr 2019 an, dass 15 Terroristen getötet und 25 festgenommen wurden, 44 ergaben sich; weiters wurden 245 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2020). Wie in den Vorjahren kam es auch 2019 zu bewaffneten Vorfällen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen, bei denen inoffiziellen Angaben zufolge auch aufseiten der Armee Tote verzeichnet wurden, was jedoch nicht öffentlich gemacht wird (ÖB 11.2019).

1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen

Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, beschränkt die Exekutive die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Der Präsident hat den Vorsitz im Obersten Justizrat, der für die Ernennung aller Richter sowie Staatsanwälte zuständig ist (USDOS 11.3.2020). Der Oberste Justizrat ist für die richterliche Disziplin und die Ernennung und Entlassung aller Richter zuständig (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern wird in der Praxis nicht gänzlich gewährleistet (BS 29.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), sie ist häufig äußerer Einflussnahme und Korruption ausgesetzt (USDOS 11.3.2020). Die Justizreform wird zudem nur äußerst schleppend umgesetzt. Algerische Richter sehen sich häufig einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt, was insbesondere in Revisions- und Berufungsphasen zu überlangen Verfahren führt (AA 25.6.2019). Praktische Entscheidungen über richterliche Kompetenzen werden vom Obersten Justizrat getroffen (BS 29.4.2020). Die Richter werden für eine Dauer von zehn Jahren ernannt und können u.a. im Fall von Rechtsbeugung abgelöst werden (AA 25.6.2019). Im Straf- und Zivilrecht entscheiden Justizministerium und der Präsident der Republik mittels weisungsabhängiger Beratungsgremien über das Fortkommen von Richtern und Staatsanwälten. Das Rechtswesen kann so unter Druck gesetzt werden, besonders in Fällen, in denen politische Entscheidungsträger betroffen sind. Es ist der Exekutive de facto nachgeordnet. Im Handelsrecht führt die Abhängigkeit von der Politik zur inkohärenten Anwendung der Anti-Korruptionsgesetzgebung, da auch hier die Justiz unter Druck gesetzt werden kann (GIZ 12.2016a).

Das algerische Strafrecht sieht explizit keine Strafverfolgung aus politischen Gründen vor. Es existiert allerdings eine Reihe von Strafvorschriften, die aufgrund ihrer weiten Fassung eine politisch motivierte Strafverfolgung ermöglichen. Dies betrifft bisher insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit, die durch Straftatbestände wie Verunglimpfung von Staatsorganen oder Aufruf zum Terrorismus eingeschränkt werden. Rechtsquellen sind dabei sowohl das algerische Strafgesetzbuch als auch eine spezielle Anti-Terrorverordnung aus dem Jahre 1992. Für die Diffamierung staatlicher Organe und Institutionen durch Presseorgane bzw. Journalisten werden in der Regel Geldstrafen verhängt (AA 25.6.2019; vgl. GIZ 12.2016a).

Die Verfassung gewährleistet das Recht auf einen fairen Prozess (USDOS 11.3.2020), aber in der Praxis respektieren die Behörden nicht immer die rechtlichen Bestimmungen, welche die Rechte des Angeklagten wahren sollen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.4.2018). Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung und sie haben das Recht auf einen Verteidiger, dieser wird, falls nötig, auf Staatskosten zur Verfügung gestellt. Die meisten Verhandlungen sind öffentlich. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Die Aussage von Frauen und Männern wiegt vor dem Gesetz gleich (USDOS 11.3.2020). Den Bürgerinnen und Bürgern fehlt nach wie vor das Vertrauen in die Justiz (AA 25.6.2019).

1.3.4 Sicherheitsbehörden

Die staatlichen Sicherheitskräfte lassen sich unterteilen in nationale Polizei, Gendarmerie, Armee und Zoll (GIZ 12.2016a). Die dem Innenministerium unterstehende nationale Polizei DGSN wurde in den 90er Jahren von ihrem damaligen Präsidenten, Ali Tounsi, stark ausgebaut und personell erweitert, und zwar von 100.000 auf 200.000 Personen, darunter zahlreiche Frauen (GIZ 12.2016a). Ihre Aufgaben liegen in der Gewährleistung der örtlichen Sicherheit (GIZ 12.2016a; vgl. USDOS 11.3.2020). Der Gendarmerie Nationale gehören ca. 130.000 Personen an, die die Sicherheit auf überregionaler (außerstädtischer) Ebene gewährleisten sollen (USDOS 11.3.2020). Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (GIZ 12.2016a).

Die Gendarmerie Locale wurde in den 90er Jahre als eine Art Bürgerwehr eingerichtet, um den Kampf gegen den Terrorismus in den ländlichen Gebieten lokal zielgerichteter führen zu können. Sie umfasst etwa 60.000 Personen. Die Armee ANP (Armée Nationale Populaire) hat seit der Unabhängigkeit eine dominante Stellung inne und besetzt in Staat und Gesellschaft Schlüsselpositionen. Sie zählt allein an Bodentruppen ca. 120.000 Personen und wurde und wird im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt. Die Armee verfügt über besondere Ressourcen, wie hochqualifizierte Militärkrankenhäuser und soziale Einrichtungen. Die Zollbehörden nehmen in einem außenhandelsorientierten Land wie Algerien eine wichtige Funktion wahr. Da in Algerien gewaltige Import- und Exportvolumina umgesetzt werden, ist die Anfälligkeit für Korruption hoch (GIZ 12.2016a).

Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020). Übergriffe und Rechtsverletzungen der Sicherheitsbehörden werden entweder nicht verfolgt oder werden nicht Gegenstand öffentlich gemachter Verfahren (ÖB 11.2019). Das Strafgesetz enthält Bestimmungen zur Untersuchung von Missbrauch und Korruption und die Regierung veröffentlicht Informationen bzgl. disziplinärer oder rechtlicher Maßnahmen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020).

1.3.5 Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassung verbietet Folter und unmenschliche Behandlung (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, ÖB 11.2019). Unmenschliche oder erniedrigende Strafen werden gesetzlich nicht angedroht. Das traditionelle islamische Strafrecht (Scharia) wird in Algerien nicht angewendet (AA 25.6.2019). Menschenrechtsorganisationen haben seit 2015 nicht mehr über Fälle berichtet, in denen Übergriffe gegen Personen in Gewahrsam bis hin zu Folter durch die Sicherheitsdienste beklagt werden (AA 25.6.2019). Menschenrechtsaktivisten berichten, dass die Polizei gelegentlich exzessive Gewalt gegen Verdächtige, einschließlich Protestierende, anwendet (USDOS 11.3.2020).

Das Strafmaß für Folter liegt zwischen 10 und 20 Jahren. Im Jahr 2019 hat das Justizministerium keine Zahlen zur Strafverfolgung gegen Beamte veröffentlicht. Menschenrechtsaktivisten gaben an, dass die Polizei manchmal übermäßige Gewalt gegen Verdächtige einschließlich Demonstranten anwendet (USDOS 11.3.2020).

1.3.6   Korruption

Gesetzlich sind zwar bis zu zehn Jahre Haft für behördliche Korruption vorgesehen, jedoch wird das Gesetz von der Regierung nicht effektiv durchgesetzt. Korruption bleibt ein Problem. Manchmal üben Beamte straflos korrupte Praktiken aus (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Das dem Justizministerium unterstellte Zentralbüro zur Bekämpfung der Korruption ist das hauptverantwortliche Regierungsorgan (GIZ 12.2016a). Korruption in der Regierung beruht hauptsächlich auf mangelnden transparenten Strukturen (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Auf dem Corruption Perceptions Index für 2019 liegt Algerien auf Platz 106 von 180 untersuchten Staaten (TI 23.1.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 wurden Geschäftsleute und Spitzenpolitiker mit Verbindungen zum Bouteflika-Clan angeklagt (DF 14.12.2019). Algerische Gerichte verhängten in der Woche der Präsidentschaftswahl am 12.12.2019 schwere Gefängnisstrafen in hochkarätigen Korruptionsprozessen gegen 14 ehemalige hohe Beamte (Guardian 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Standard 12.12.2019). Diese Urteile werden von den Demonstranten als eine hochrangige Säuberung in einem Kampf zwischen immer noch mächtigen Regimeinsidern gesehen (Guardian 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019), während die Staatsspitze mit den öffentlichkeitswirksamen Verurteilungen demonstrieren will, dass sie den Kampf gegen die weitverbreitete Korruption ernst meint (Standard 12.12.2019).

1.3.7 Allgemeine Menschenrechtslage

Staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar (AA 25.6.2019). Algerien ist den wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten. Laut Verfassung werden die Grundrechte gewährleistet. Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen haben seit Ende der 1990er Jahre abgenommen, bestehen jedoch grundsätzlich fort (AA 17.4.2019). Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020, AI 18.2.2020) und die Unabhängigkeit der Justiz ist mangelhaft. Weitere bedeutende Menschenrechtsprobleme sind übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei, inklusive Foltervorwürfe (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 18.2.2020), sowie die Einschränkung der Möglichkeit der Bürger, ihre Regierung zu wählen. Weitverbreitete Korruption begleitet Berichte über eingeschränkte Transparenz bei der Regierungsführung. Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020).

Obwohl die Verfassung Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet, schränkt die Regierung diese Rechte ein (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020, BS 29.4.2020). NGOs kritisieren diese Einschränkungen. Bürger können die Regierung nicht ungehindert kritisieren. Es drohen Belästigungen und Verhaftungen; Bürger sind somit bei der Äußerung von Kritik zurückhaltend (USDOS 11.3.2020). Alle Medienanbieter, auch privat, stehen unter Beobachtung (USDOS 11.3.2020).

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden Demonstrationen regelmäßig nicht genehmigt bzw. in Algier komplett verboten (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Ergebnis ist, dass die Möglichkeiten politischer Tätigkeit weiterhin eng begrenzt sind. Oppositionelle politische Aktivisten beklagen, aufgrund von Anti-Terrorismus-Gesetzen und solchen zur Begrenzung der Versammlungsfreiheit oder Vergehen gegen „Würde des Staates und die Staatssicherheit“ festgenommen zu werden (ÖB 11.2019). Oppositionelle Gruppierungen haben zudem oft Schwierigkeiten, Genehmigungen für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zu erhalten (AA 25.6.2019).

Algerien erlebte ab Februar 2019 die größten und nachhaltigsten Anti-Regierungsdemonstrationen seit seiner Unabhängigkeit 1962. Jeden Freitag überfluten Algerier die Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo. Als Reaktion auf die anhaltenden Proteste, zerstreuten die Behörden friedliche Demonstrationen, hielten willkürlich Protestierende fest, blockierten von politischen und Menschenrechtsgruppen organisierte Treffen und inhaftierten Kritiker (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020). Die Sicherheitskräfte haben verschärfte Kontrollen an den Zufahrtsstraßen nach Algier eingerichtet, um die Teilnehmerzahlen in der Hauptstadt zu senken (AA 25.6.2019). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden die regelmäßigen Demonstrationen ab Ende März 2020 ausgesetzt (ARI 7.4.2020; vgl. IPB 12.6.2020). Im Zusammenhang mit dem gesundheitspolitischen Notstande intensivierte die Regierung ihr Vorgehen gegen Opposition und freie Presse (RLS 7.4.2020) und ab 17.3.2020 wurden die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit weiter verschärft (IPB 12.6.2020).

Das Gesetz garantiert der Regierung weitreichende Möglichkeiten zur Überwachung und Einflussnahme auf die täglichen Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das Innenministerium muss der Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen zustimmen, bevor diese gesetzlich zugelassen werden (USDOS 11.3.2020).

Das im Jahr 2012 verabschiedete Gesetz über Vereinigungen erleichterte auch die Gründung von politischen Parteien (BS 29.4.2020), wofür wie bei anderen Vereinigungen eine Genehmigung des Innenministeriums nötig ist. Politische Parteien auf Basis von Religion, Ethnie, Geschlecht, Sprache oder Region sind verboten. Es gibt jedoch islamistisch ausgerichtete Parteien, v.a. jene der Grünen Allianz (USDOS 11.3.2020). Seit Verabschiedung des Parteigesetzes 2012 nahm die Anzahl der Parteien deutlich zu. Dies führte jedoch auch zu einer Zersplitterung der Opposition (BS 29.4.2020). Oppositionsparteien können sich grundsätzlich ungehindert betätigen, soweit sie zugelassen sind, und haben Zugang zu privaten und – in sehr viel geringerem Umfang – staatlichen Medien. Jedoch haben einzelne Parteien kritisiert, dass ihnen teils die Ausrichtung von Versammlungen erschwert wird und sie Bedrohungen und Einschüchterungen ausgesetzt sind (AA 25.6.2019).

Die CNDH als staatliche Menschenrechtsorganisation (Ombudsstelle) hat eine konsultative und beratende Rolle für die Regierung. Sie veröffentlicht jährlich Berichte zur Menschenrechtslage im Land (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Einzelfälle zeigen, dass die Funktion einer echten Ombudsstelle gegenüber der Verwaltung fehlt (ÖB 11.2019).

Verschiedene nationale Menschenrechtsgruppen operieren und können ihre Ergebnisse publizieren. Sie sind jedoch in unterschiedlichem Ausmaß Einschränkungen durch die Regierung ausgesetzt. Gesetzlich ist es allen zivilen Organisationen vorgeschrieben, sich bei der Regierung zu registrieren. Dennoch operieren einige Organisationen ohne Registrierung und werden seitens der Regierung toleriert (USDOS 11.3.2020).

1.3.8 Todesstrafe

Die Todesstrafe ist für zahlreiche Delikte vorgesehen und wird auch verhängt, doch gibt es in der Praxis ein Moratorium und seit 1993 werden offiziell keine Exekutionen mehr durchgeführt (GIZ 12.2016a; vgl. AI 18.2.2020, AA 25.6.2019).

1.3.9 Religionsfreiheit

Die Bevölkerung besteht zu 99% aus sunnitischen Moslems und zu weniger als 1% aus Christen, Juden und anderen (CIA 3.3.2020). Verschiedene inoffizielle Schätzungen geben die Anzahl der Christen in Algerien zwischen 20.000 und 200.000 an. Durch den Zuzug von Studenten und Migranten aus Subsahara-Afrika ist die Anzahl der Christen in den letzten Jahren gestiegen. Mit dem Vatikan unterhält Algerien seit 1972 über einen Nuntius diplomatische Beziehungen (AA 25.6.2019).

Die Verfassung gewährleistet Glaubensfreiheit. Gesetzliche Bestimmungen gestatten allen Individuen die Freiheit, ihre Religion auszuüben, solange die öffentliche Ordnung und gesetzliche Bestimmungen gewahrt bleiben (USDOS 10.6.2020). Die Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 25.6.2019), verbietet aber Diskriminierung aus religiösen Gründen (AA 25.6.2019). Auch in der Praxis ist die Religionsfreiheit gut etabliert. Christen können ihren Glauben frei ausüben (BS 29.4.2020). Muslime, die zum Christentum konvertieren bzw. den Islam oder islamische Würdenträger kritisieren, sind gesellschaftlichen und rechtlichen Restriktionen ausgesetzt (BS 29.4.2020; vgl. USDOS 10.6.2020). Die kollektive Religionsausübung muslimischer wie nichtmuslimischer Religionen ist einem Genehmigungsvorbehalt unterworfen. Religiöse Gemeinschaften müssen sich als „Vereine algerischen Rechts“ beim Innenministerium akkreditieren lassen, Zulassungen bzw. Neubauten von Moscheen und Kirchen vorab durch eine staatliche Kommission genehmigt werden, und Veranstaltungen religiöser Gemeinschaften fünf Tage vor Veranstaltungsbeginn dem örtlichen Wali angezeigt werden. Diese dürfen nur in dafür vorgesehenen und genehmigungspflichtigen Räumlichkeiten stattfinden. Zuwiderhandlungen sind mit Strafe bedroht (AA 25.6.2019). Gemäß Verfassung sind politische Parteien auf Grundlage der Religion verboten (USDOS 11.3.2020, 10.6.2020). Missionierungstätigkeit (an Muslimen durch Nicht-Muslime) ist gesetzlich verboten und unter Strafe gestellt (Haftstrafe von zwei bis fünf Jahren (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 25.6.2019, BS 29.4.2020), sowie Geldstrafe) (USDOS 10.6.2020).

Laut Angaben von Ahmadi-Führern waren zu Jahresende 2019 286 Verfahren gegen Gemeindemitglieder beim Obersten Gerichtshof anhängig. Gründe beinhalteten etwa das Betreiben einer nicht autorisierten Religionsgemeinschaft, illegales Spendensammeln, Beten außerhalb eines autorisierten Gebetsplatzes. Zu Jahresende 2019 gab es keine Berichte, dass Ahmadis aufgrund ihres Glaubens inhaftiert waren. Ahmadi-Vertreter berichten von Schwierigkeiten mit der Verwaltung und Belästigungen, da sie keine registrierte Vereinigung sind. Christliche Gruppen berichten von Schwierigkeiten bei administrativen Vorgängen mit den Behörden. Es gibt Berichte über gesellschaftlichen Missbrauch oder Diskriminierung basierend auf Religionszugehörigkeit, Glauben oder Religionsausübung, v.a. gegenüber Konvertiten. Das Gesetz versagt Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion konvertiert sind, ein Erbe zu erhalten (USDOS 10.6.2020).

1.3.10 Frauen

Die Verfassung garantiert die Gleichstellung der Geschlechter (FH 4.3.2020), aber Frauen sind nach wie vor sowohl rechtlichen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Viele Frauen verdienen weniger als Männer in ähnlichen Positionen und es gibt nur wenige Frauen in Führungspositionen von Unternehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 3.2019; AA 25.6.2019). Die Verfassung verbietet Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und die Regierung setzt dies auch in der Praxis um. Frauen sind weiterhin rechtlicher (im Familienrecht) und sozialer Diskriminierung ausgesetzt (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; AA 25.6.2019).

Insbesondere in den unteren sozialen Schichten führen Scheidungen, Scheidungsfolgen und das diskriminierende Erbrecht (der Pflichtteil weiblicher Abkömmlinge ist im Vergleich zu dem der männlichen Miterben halbiert) häufig zu Mittellosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung von Frauen. In Algier und anderen großen Städten des Nordens spielen Frauen gleichwohl eine maßgebliche Rolle in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Der Regierung gehören aktuell fünf Ministerinnen an. Die Mehrheit der Frauen bleibt jedoch fest in patriarchalische Strukturen eingebunden. Eine Novelle des Familiengesetzbuchs („Code de la famille“), die die Situation vor allem geschiedener Frauen verbessert, wurde 2005 von der Nationalversammlung verabschiedet. Obwohl dadurch wesentliche Defizite des auf der Scharia fußenden Familienrechts, wie die Tutelle (lebenslange Vormundschaft durch den Vater oder ein anderes männliches Familienmitglied; Zustimmung des Vormunds zu allen wesentlichen Entscheidungen) oder ein eingeschränktes Scheidungsrecht, abgemildert worden sind, wirken traditionell-religiöse Regelungen vor allem der sunnitisch-malikitischen Rechtstraditionen des Landes faktisch in vieler Weise fort (AA 25.6.2019).

Vergewaltigung ist strafbar. Das Strafmaß beträgt fünf bis zehn Jahre und die Behörden setzen das Gesetz üblicherweise durch. Der Straftatbestand der innerehelichen Vergewaltigung existiert gesetzlich nicht (USDOS 11.3.2020). Der Straftatbestand der Vergewaltigung bezieht sich auf Sachverhalte außerhalb der Ehe (AA 25.6.2019). Viele Frauen zeigen Fälle von Vergewaltigung aufgrund von gesellschaftlichem und familiärem Druck nicht an (USDOS 11.3.2020). Das Strafgesetzbuch definiert Vergewaltigung nicht, bezeichnet sie jedoch als Angriff auf die Ehre. Während das algerische Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2015 einige Formen häuslicher Gewalt kriminalisierte, enthielt es Schlupflöcher, die es ermöglichen, Verurteilungen fallen zu lassen oder die Strafen zu verringern, wenn die Opfer ihre Täter begnadigen (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020).

Sieben Monate nach der Annahme durch die Nationalversammlung stimmte auch der Senat im Dezember 2015 einer Gesetzesvorlage „zum Schutz der Frauen“ vor häuslicher Gewalt zu. Es handelt sich jedoch um eine abgemilderte Fassung – das Opfer kann durch Erklärung jederzeit das Strafverfahren beenden und riskiert daher, unter Druck gesetzt zu werden. Dennoch ist das neue Gesetz entsprechend den Äußerungen von NGOs und Zivilgesellschaft als bewusstseinsbildender Fortschritt zu sehen, der die Rechtswirklichkeit nicht unbeeinflusst lassen sollte. Dem Vernehmen nach gibt es landesweit nur eine Einrichtung, die mit einem Frauenhaus verglichen werden kann und die in Algier durch die Organisation „S.O.S. femmes en détresse“ betrieben wird (AA 25.6.2019). Es gibt Aufnahmezentren (centres d’accueil), an die sich Frauen in Notfällen wenden können (ÖB 11.2019). Es gibt keine Erkenntnisse zu weiblicher Genitalverstümmelung (AA 25.6.2019).

1.3.11 Bewegungsfreiheit

Die Verfassung garantiert Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, diese Rechte werden jedoch von der Regierung in der Praxis eingeschränkt (USDOS 11.3.2020). Die meisten Bürger können relativ frei im In- und Ausland reisen (FH 4.3.2020). Die Regierung hält aus Gründen der Sicherheit Reiserestriktionen in die südlichen Bezirke El-Oued und Illizi, in der Nähe von Einrichtungen der Kohlenwasserstoffindustrie sowie der libyschen Grenze, aufrecht. Überlandreisen sind aufgrund von Terrorgefahr zwischen den südlichen Städten Tamanrasset, Djanet und Illizi eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

Jungen wehrpflichtigen Männern, die ihren Wehrdienst noch nicht abgeleistet haben, wird die Ausreise ohne Sondergenehmigung verweigert (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Sondergenehmigungen erhalten Studenten und Personen in besonderen Familienkonstellationen. Personen, die jünger als 18 Jahre sind, ist es gemäß Familienrecht nicht gestattet, ohne die Erlaubnis einer Aufsichtsperson ins Ausland zu reisen (USDOS 11.3.2020). Verheiratete Frauen, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns nicht ins Ausland reisen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ehefrauen, die älter als 18 Jahre sind, sind Auslandsreisen auch ohne Erlaubnis des Ehemanns gestattet (USDOS 11.3.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden landesweit nächtliche Ausgangssperren verhängt, alle Grenzübertrittsstellen für den Personenverkehr geschlossen sowie der Inlandsflugverkehr eingestellt (USEMB 26.4.2020). Am 13.6.2020 wurde angekündigt, die nächtlichen Ausgangssperren in 19 Provinzen aufzuheben und in den übrigen 29 Provinzen, darunter der Hauptstadt Algier, verkürzt beizubehalten. Die wirtschaftlichen Aktivitäten und der innerstädtische öffentliche Personenverkehr sollen schrittweise wieder aufgenommen werden. Eine mögliche Wiedereröffnung der Grenzen soll im Juli 2020 entschieden werden (National 13.6.2020).

1.3.12 Grundversorgung

Nahezu die gesamten Staatseinkünfte des Landes stammen aus dem Export von Erdöl und Erdgas. Rund 90 Prozent der Grundnahrungsmittel und fast die Gesamtheit der Pharmazeutika und Gebrauchsgüter werden importiert. Eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte oder auf Autarkie zielende Industrialisierung hat nicht stattgefunden. Die Staatseinnahmen – und damit die Fähigkeit zur Subventionierung von Grundbedürfnissen (Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau, Infrastruktur) – sind seit 2014 aufgrund des sinkenden Öl- und Gaspreises drastisch zurückgegangen (RLS 17.12.2019; vgl. BS 29.4.2020).

Algerien leistet sich aus Gründen der sozialen und politischen Stabilität ein für die Möglichkeiten des Landes aufwendiges Sozialsystem, das aus den Öl- und Gasexporten finanziert wird. Algerien ist eines der wenigen Länder, die in den letzten 20 Jahren eine Reduktion der Armutsquote von 25% auf 5% erreicht hat. Schulbesuch und Gesundheitsfürsorge sind kostenlos. Energie, Wasser und Grundnahrungsmittel werden stark subventioniert. Ein Menschenrecht auf Wohnraum wird anerkannt. Für Bedürftige wird Wohnraum kostenlos zur Verfügung gestellt. Missbräuchliche Verwendung ist häufig (ÖB 11.2019).

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist bislang durch umfassende Importe gewährleistet. Insbesondere im Vorfeld religiöser Feste, wie auch im gesamten Monat Ramadan, kommt es allerdings immer wieder zu substanziellen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Für Grundnahrungsmittel wie Weizenmehl, Zucker und Speiseöl gelten Preisdeckelungen und Steuersenkungen. Im Bereich der Sozialfürsorge kommt, neben geringfügigen staatlichen Transferleistungen, vornehmlich der Familien-, im Süden des Landes auch der Stammesverband, für die Versorgung alter Menschen, Behinderter oder chronisch Kranker auf. In den Großstädten des Nordens existieren „Selbsthilfegruppen“ in Form von Vereinen, die sich um spezielle Einzelfälle (etwa die Einschulung behinderter Kinder) kümmern. Teilweise fördert das Solidaritätsministerium solche Initiativen mit Grundbeträgen (AA 25.6.2019).

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12 bis 17%, die Jugendarbeitslosigkeit (15-24-jährige) bei 30 bis 50% (WKO 10.2019 [jeweils niedrigerer Wert], RLS 17.12.2019 [jeweils höherer Wert]). Das staatliche Arbeitsamt Agence national d’emploi / ANEM (http://www.anem.dz/) bietet Dienste an, es existieren auch private Jobvermittlungsagenturen (z.B. http://www.tancib.com/index.php?page=apropos). Seit Februar 2011 stehen jungen Menschen Starthilfekredite offen, wobei keine Daten darüber vorliegen, ob diese Mittel ausgeschöpft wurden. Die Regierung anerkennt die Problematik der hohen Akademikerarbeitslosigkeit. Grundsätzlich ist anzumerken, dass allen staatlichen Genehmigungen/Unterstützungen eine (nicht immer deklarierte) sicherheitspolitische Überprüfung vorausgeht, und dass Arbeitsplätze oft aufgrund von Interventionen besetzt werden. Der offiziell erfasste Wirtschaftssektor ist von staatlichen Betrieben dominiert (ÖB 11.2019).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie werden an vulnerable Familien in isolierten und vom Lockdown besonders betroffenen Gebieten Lebensmittel und Hygieneprodukte verteilt (Gentilini et al 12.6.2020: 29f).

1.3.13 Medizinische Versorgung

Grundsätzlich ist medizinische Versorgung in Algerien allgemein zugänglich und kostenfrei. Der Standard in öffentlichen Krankenhäusern entspricht nicht europäischem Niveau (ÖB 11.2019; vgl. AA 25.6.2019, BS 29.4.2020) Krankenhäuser, in denen schwierigere Operationen durchgeführt werden können, existieren in jeder größeren Stadt; besser ausgestattete Krankenhäuser gibt es an den medizinischen Fakultäten von Algier, Oran, Annaba und Constantine. Häufig auftretende chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Tuberkulose, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Geschlechtskrankheiten und psychische Erkrankungen können auch in anderen staatlichen medizinischen Einrichtungen behandelt werden. AIDS-Patienten werden in sechs Zentren behandelt (AA 25.6.2019).

Grundsätzlich meiden Algerier nach Möglichkeit die Krankenhäuser und bemühen sich, Kranke so schnell wie möglich in häusliche Pflege übernehmen zu können. Oft greift man zu Bestechung, um ein Intensivbett zu bekommen oder zu behalten. Ohne ständige familiäre Betreuung im Krankenhaus ist eine adäquate Pflege nicht gesichert. Die Müttersterblichkeit und Komplikationen bei Geburten sind aufgrund von Nachlässigkeiten in der Geburtshilfe hoch. Mit Frankreich besteht ein Sozialabkommen aus den 1960er-Jahren, das vorsieht, dass komplizierte medizinische Fälle in Frankreich behandelt werden können. Dieses Abkommen ist seit einiger Zeit überlastet. Nicht alle Betroffenen können es in Anspruch nehmen. Auch mit Belgien besteht ein entsprechendes Abkommen (ÖB 11.2019).

Es sind Privatspitäler, v.a. in Algier, entstanden, die nach europäischem Standard bezahlt werden müssen. Der Sicherheitssektor kann auf ein eigenes Netz von Militärspitälern zurückgreifen. Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich in Algerien ausgebildete Ärzte in Frankreich und Deutschland niederlassen, was zu einem Ärztemangel in Algerien führt. Die Versorgung im Landesinneren mit fachärztlicher Expertise ist nicht sichergestellt. Augenkrankheiten sind im Süden häufig. Algerien greift für die Versorgung im Landesinneren auf kubanische Ärzte zurück, z.B. die im April 2013 neu eröffnete Augenklinik in Bechar. Tumorpatienten können medizinisch nicht nach westlichem Standard betreut werden. Schwierig ist die Situation von Alzheimer- und Demenzpatienten und von Behinderten (ÖB 11.2019).

Krankenversichert ist nur, wer einer angemeldeten Arbeit nachgeht. Die staatliche medizinische Betreuung in Krankenhäusern steht auch Nichtversicherten beinahe kostenfrei zur Verfügung, allerdings sind Pflege und die Verpflegung nicht sichergestellt, Medikamente werden nicht bereitgestellt, schwierige medizinische Eingriffe sind nicht möglich (ÖB 11.2019).

In der gesetzlichen Sozialversicherung sind Angestellte, Beamte, Arbeiter oder Rentner sowie deren Ehegatten und Kinder bis zum Abschluss der Schul- oder Hochschulausbildung obligatorisch versichert. Die Sozial- und Krankenversicherung ermöglicht grundsätzlich in staatlichen Krankenhäusern eine kostenlose, in privaten Einrichtungen eine kostenrückerstattungsfähige ärztliche Behandlung. Immer häufiger ist jedoch ein Eigenanteil zu übernehmen. Die höheren Kosten bei Behandlung in privaten Kliniken werden nicht oder nur zu geringerem Teil übernommen. Algerier, die nach jahrelanger Abwesenheit aus dem Ausland zurückgeführt werden, sind nicht mehr gesetzlich sozialversichert und müssen daher sämtliche Kosten selbst übernehmen, sofern sie nicht als Kinder oder Ehegatten von Versicherten erneut bei der Versicherung eingeschrieben werden oder selbst einer versicherungspflichtigen Arbeit nachgehen (AA 25.6.2019).

Die COVID-19-Pandemie traf Algerien hart, das öffentliche Gesundheitswesen im Land war nicht annähernd auf eine Krise solchen Ausmaßes vorbereitet (RLS 7.4.2020; vgl. GTAI 15.5.2020). Es gab Berichte von überfüllten Krankenhäusern in Algier und in Blida (GTAI 15.5.2020) und es gab einen Mangel an Ausrüstung und Medikamenten. Im März 2020 wurde Lokalbehörden untersagt, statistische Angaben zu COVID-19-Entwicklungen zu machen und die Öffentlichkeitsarbeit wurde bei den Ministerien in Algier gebündelt (RLS 7.4.2020). Die Regierung hat eilig Maßnahmen gesetzt, um mehr Intensivbetten anzubieten. Präsident Tebboune kündigte Anfang April 2020 an, nach der Pandemie den Gesundheitssektor umzustrukturieren. Mitte Mai war die Zahl der Erkrankten für die Krankenhäuser bewältigbar (GTAI 15.5.2020).

1.3.14 Rückkehr

Die illegale Ausreise, d.h. die Ausreise ohne gültige Papiere bzw. ohne eine Registrierung der Ausreise per Stempel und Ausreisekarte am Grenzposten, ist gesetzlich verboten (Art 175 bis 1. algerisches Strafgesetzbuch, Gesetz 09-01 vom 25.2.2009, kundgemacht am 8.3.2009) (ÖB 11.2019; vgl. AA 25.6.2019). Das Gesetz sieht ein Strafmaß von zwei bis sechs Monaten und / oder eine Strafe zwischen 20.000 DA bis 60.000 DA vor (ÖB 11.2019).

Rückkehrer, die ohne gültige Papiere das Land verlassen haben, werden mitunter zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Für illegale Bootsflüchtlinge („harraga“) sieht das Gesetz Haftstrafen von drei bis zu fünf Jahren und zusätzliche Geldstrafen vor. In der Praxis werden zumeist Bewährungsstrafen verhängt (AA 25.6.2019).

Eine behördliche Rückkehrhilfe ist ho. nicht bekannt. Ebenso sind der Botschaft keine NGOs bekannt, die Unterstützung leisten. Bekannt ist, dass Familien zurückkehrende Familienmitglieder wieder aufnehmen und unterstützen. Viel bekannter hingegen sind Fälle, in denen Familien Mitglieder mit beträchtlichen Geldmitteln bei der illegalen Ausreise unterstützen. Sollten Rückkehrer auf familiäre Netze zurückgreifen können, würde man annehmen, dass sie diese insbesondere für eine Unterkunft nützen. Die Botschaft kennt auch Fälle von finanzieller Rückkehrhilfe (EUR 1.000-2.000) durch Frankreich, für Personen, die freiwillig aus Frankreich ausgereist sind. Algerien erklärt sich bei Treffen mit div. EU-Staatenvertretern immer wieder dazu bereit, Rückkehrer aufzunehmen, sofern zweifelsfrei feststehe, dass es sich um algerische Staatsangehörige handle. Nachfragen bei EU-Botschaften und Pressemeldungen bestätigen, dass Algerien bei Rückübernahmen kooperiert. Zwischen Algerien und einzelnen EU-Mitgliedsstaaten bestehen bilaterale Rückübernahmeabkommen (ÖB 11.2019).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden am 17.3.2020 alle Luft-, See- und Landgrenzübergänge geschlossen. Über eine mögliche Aufhebung der Sperren soll im Juli 2020 entschieden werden (National 14.6.2020; vgl. USEMB 16.6.2020, IATA 17.4.2020/17.6.2020, Garda 13.6.2020).

2. Beweiswürdigung:

Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Verfahrensgang

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Algerien (Stand Gesamtaktualisierung am 14.6.2019, letzte Information eingefügt am 26.6.2020). Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), der Grundversorgung (GVS) sowie ein Sozialversicherungsdatenauszug wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt. Zudem wurde die BF am 13.08.2020 in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einvernommen.

2.3. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Da die BF den österreichischen Behörden identitätsbezeugende Dokumente vorlegen konnte, steht ihre Identität, ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geburtsdatum und somit auch ihre Volljährigkeit zweifelsfrei fest. Die BF war entsprechend ihrer Heiratsurkunde vom XXXX 2017 mit M.H.F. verheiratet, jedoch erfolgte von diesem die Scheidung, wobei die BF diesbezüglich im Zuge ihrer mündlichen Beschwerdeverhandlung kein genaues Datum anführen konnte. Seit Frühjahr 2018 hat die BF jedoch jedenfalls wieder einen Freund, nämlich den britischen Staatsangehörigen A.M.S. (Protokoll vom 13.08.2020, S 6 f). Der Umstand, dass die BF kinderlos ist, ergibt sich aus ihren glaubhaften Angaben im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 17.07.2017, AS 101) sowie jenen ihrer mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (Protokoll vom 13.08.2020, S 7). Ihre Volksgruppenzugehörigkeit ergibt sich aus den Angaben ihrer niederschriftlichen Einvernahme (Protokoll vom 17.07.2017, AS 97 und 101).

Dass die BF an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, ergibt sich aus dem ärztlichen Befundbericht von Dr. XXXX vom 02.08.2017 (AS 219) samt Anweisung zur Medikamenteneinnahme, auch führte die BF im Rahmen ihrer mündlichen Beschwerdeverhandlung an, an einer posttraumatischen Belastung zu leiden (Protokoll vom 13.08.2020, S 5). Aus einem Bestätigungsschreiben der Psychotherapeutin Mag. XXXX vom 17.07.2020 ergibt sich, dass die BF auch an einer Depression leidet, welche ergänzend zur posttraumatischen Belastungsstörung angeführt wurde. Etwaige Schlafstörungen, wie von der BF im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung behauptet, konnten nicht durch Urkunden belegt werden (Protokoll vom 13.08.2020, S 5). Weitere ärztliche Befunde hinsichtlich weiterer Erkrankungen wurden nicht vorgelegt. Die Erkrankungen der BF erreichen jedoch nicht das Maß von lebensbedrohlichen Erkrankungen, weswegen auch von ihrer Arbeitsfähigkeit auszugehen ist. Zudem führte die BF im Zuge ihrer Beschwerdeverhandlung selbst auf die Frage hinsichtlich ihrer beruflichen Ziele in Österreich aus, sie könne vielleicht als Kellnerin oder in der Pflege arbeiten oder auch dolmetschen (Protokoll vom 13.08.2020, S 23). Auch war die BF bereits im Irak als Rezeptionistin und auf freiwilliger Basis in Österreich tätig. Aus dem unstrittigen Akteninhalt ergeben sich ansonsten keine Hinweise darauf, welche auf eine lebensbedrohliche Erkrankung der BF bzw. eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der BF schließen ließen.

Der Umstand, dass die BF in XXXX den Großteil ihres Lebens verbracht hat, etwa vier Jahre im Irak gelebt und gearbeitet und drei Monate in den Vereinigten Arabischen Emiraten verbracht hat, ergibt sich aus den glaubhaften Angaben der BF im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde, ebenso die weiteren Umstände hinsichtlich Reisepasserneuerung und Rückkehr in den Irak (Protokoll vom 17.07.2017, AS 101). Die Ausreise vom Irak bis nach Österreich ergibt sich aus den Angaben der BF im Zuge ihrer Erstbefragung (Protokoll vom 03.01.2016, AS 5 & 7). Dass die BF seit 03.01.2016 durchgehend in Österreich aufhältig ist, ergibt sich einerseits aus dem Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung am 03.01.2016, andererseits auch aus einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister, welcher durchgehende Wohnsitzmeldungen seit 03.02.2016 aufweist.

Die Feststellungen hinsichtlich Schulbesuch und Studium der BF ergeben sich in Übereinstimmung mit ihren Angaben im Zuge ihrer Erstbefragung (Protokoll vom 03.01.2016, AS 1), jenen ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 17.07.2017, AS 101) und jenen aus der mündlichen Beschwerdeverhandlung (Protokoll vom 13.08.2020, S 7). Dass die BF im Irak in einem Hotel an der Rezeption gearbeitet hat, ergibt sich aus ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (Protokoll vom 17.07.2017, AS 103) und der mündlichen Beschwerdeverhandlung (Protokoll vom 13.08.2020, S 12 f).

Hinsichtlich der fehlenden familiären Anknüpfungspunkte der BF in Algerien ist auf die glaubhaften Angaben der BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zu verweisen, im Zuge derer sie anführte, zu ihrem Bruder keinen Kontakt zu haben, sondern ausschließlich mit ihrer in Kanada lebenden Schwester in Kontakt zu stehen (Protokoll vom 13.08.2020, S 8), was sie bereits auch schon bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde angegeben hatte (Protokoll vom 17.07.2017, AS 107). Hinsichtlich der Mutter führte die BF auch bereits in ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde aus, dass diese verstorben sei (Protokoll vom 17.07.2017, AS 107), was sie im Zuge der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung dazu wiederholte (Protokoll vom 13.08.2020, S 8). Dass auch der Vater der BF verstorben ist, ergibt sich ebenfalls aus ihren glaubhaften Ausführungen im Zuge der mündlichen Verhandlung (Protokoll vom 13.08.2020, S 8). Der Umstand, dass keine Verwandten der BF in Österreich leben, ergibt sich aus den Angaben der BF im Zuge ihrer Erstbefragung (Protokoll vom 03.01.2016, AS 5) in Übereinstimmung mit ihren Angaben vor der belangten Behörde (Protokoll vom 17.07.2017, AS 99).

Die BF konnte glaubhaft vermitteln, seit Frühjahr 2018 mit A.M.S. eine Beziehung zu führen (Protokoll vom 13.08.2020, S 7), z

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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